EGMR Bsw46572/99

EGMRBsw46572/9928.9.2004

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Sabou und Pircalab gegen Rumänien, Urteil vom 28.9.2004, Bsw. 46572/99.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK, Art. 13 EMRK - Exzessives Strafmaß bei Verurteilung wegen übler Nachrede.

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 1.582,42 für materiellen Schaden an den ZweitBf., EUR 5.000,- bzw. 1.000,- für immateriellen Schaden an den Erst- bzw. ZweitBf. Insgesamt EUR 4.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. sind Journalisten bei der lokalen Tageszeitung „Ziua de Nord-Vest". Im April 1997 veröffentlichten sie mehrere Zeitungsartikel, in denen sie den angeblich illegalen Erwerb von Land durch die Präsidentin des örtlichen Bezirksgerichts M. I. bzw. deren Mutter anprangerten. Erwähnt wurde insbesondere, dass sich M. I. beharrlich geweigert hätte, eine Stellungnahme zu den berichteten Vorkommnissen abzugeben, und dass gegen sie ein Strafverfahren wegen des Verdachts eingeleitet worden sei, einen Nachbarn mittels gefälschter Besitzurkunden seines Eigentums beraubt zu haben. Schließlich wurde darauf hingewiesen, dass der örtliche Präfekt eingestanden hätte, dass es gut möglich sei, dass er im Zusammenhang mit der Überprüfung des Eigentumstitels von M. I. einem Irrtum unterlegen wäre, es jedoch der mit dem Fall betraute Staatsanwalt nicht gewagt hätte, gerichtliche Schritte einzuleiten. M. I. brachte daraufhin eine Strafanzeige wegen übler Nachrede ein. Am 15.12.1997 verurteilte das zuständige Gericht erster Instanz den ErstBf. zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten unter Untersagung der Ausübung sowohl des Wahlrechts als auch der elterlichen Rechte während der Haft als Zusatzstrafe gemäß den Art. 71 und 64 des rumänischen Strafgesetzes, während es über den ZweitBf. eine bedingte Geldstrafe in Höhe von ROL 500.000,-- (ca. EUR 62,--) verhängte. Beide Bf. wurden außerdem gemeinsam mit der „Ziua de Nord-Vest" zur Leistung von Schadenersatz in Höhe von 30 Millionen ROL (ca. EUR 1.582,42) verurteilt. Das Gericht stellte fest, dass die Mutter von M. I. das strittige Grundstück rechtmäßig erworben habe. Was die übrigen Anschuldigungen der Bf. angehe, sei deren rufschädigender Gehalt schon angesichts der Einstellung des Strafverfahrens gegen M. I. hinreichend erwiesen.

Gegen das Urteil erhoben die Bf. ein Rechtsmittel. Anlässlich der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht zweiter Instanz legten sie mehrere Dokumente vor, welche die Richtigkeit ihrer Behauptungen untermauern sollten, darunter zwei Schreiben des örtlichen Präfekten, in denen sich dieser vorerst geweigert hatte, das fragliche Grundstück auf M. I. zu übertragen, und eine Entscheidung des Gerichts von Cluj-Napoca vom Jänner 1996, mit der der Eigentumstitel des Nachbarn von M. I. für rechtmäßig befunden wurde. Schließlich wiesen die Bf. darauf hin, dass M. I. sich geweigert hätte, auf die gegenständlichen Zeitungsartikel in Form einer Gegendarstellung zu antworten.

Mit Urteil vom 3.4.1998 wurde die Entscheidung der Erstinstanz bestätigt. Das Gericht zweiter Instanz kam zu dem Ergebnis, dass die gegenständlichen Zeitungsartikel nicht die Wahrheit widerspiegelten und es erwiesen sei, dass die Bf. nicht in gutem Glauben gehandelt, sondern vielmehr getrachtet hätten, den guten Ruf von M. I. in Frage zu stellen.

Am 20.8.1998 trat der ErstBf. seine Haftstrafe an. Zu diesem Zeitpunkt lebte er mit seiner hochschwangeren Lebensgefährtin und zwei Kindern aus früheren Beziehungen zusammen. In der Folge wurde dem Gesuch des ErstBf. auf Haftaussetzung stattgegeben und er am 5.10.1998 aus der Haft entlassen. Am 19.1.1999 wurde ihm seine Strafe durch Gnadenakt des Präsidenten erlassen. Im Mai 2002 erlegten „Ziua de Nord-Vest" bzw. der ZweitBf. den gerichtlich festgelegten Schadenersatz.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, durch die strafrechtliche Verurteilung in ihrem Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK verletzt worden zu sein. Der ErstBf. rügt außerdem eine Verletzung seines ihm durch Art. 8 EMRK garantierten Rechts auf Achtung des Familienlebens aufgrund der Untersagung der Ausübung seiner elterlichen Rechte. In diesem Zusammenhang behauptet er auch eine Verletzung seines Rechts auf eine wirksame Bsw. bei einer nationalen Instanz gemäß Art. 13

EMRK.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Die Verurteilung der Bf. stellt einen Eingriff in ihre Meinungsäußerungsfreiheit dar. Dieser beruhte auf einer gesetzlichen Grundlage und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufes anderer. Was die Notwendigkeit des Eingriffs anlangt, ist darauf zu verweisen, dass die gegenständlichen Zeitungsartikel aktuelle Fragen des öffentlichen Interesses in Rumänien berührten, nämlich die Abwicklung der Landrückgabe und die angebliche Korruption unter hochrangigen Beamten.

Es trifft zwar zu, dass die Anschuldigungen der Bf. schwerwiegend waren, jedoch beruhten sie - ähnlich wie im Fall Dalban/ROM - auf einer Tatsachengrundlage. Im vorliegenden Fall gibt es keinen Beweis dafür, dass die beschriebenen Ereignisse völlig unwahr waren bzw. zum Ziel hatten, eine Diffamierungskampagne gegen M. I. zu initiieren. Im Übrigen hatten die inkriminierten Zeitungsartikel nicht Aspekte ihres Privatlebens zum Gegenstand, sondern konzentrierten sich vielmehr auf ihr Verhalten und ihre Stellung als Präsidentin des örtlichen Bezirksgerichts. Aus den dem Rechtsmittelgericht vorgelegten Dokumenten geht ferner hervor, dass dem örtlichen Präfekten bei der Abwicklung der Landrückgabe offenbar ein schwerer Fehler unterlaufen war, nämlich insofern, als er M. I. am 23.1.1996 einen Eigentumstitel für das besagte Grundstück verschaffte, obwohl sieben Tage zuvor die Rechtmäßigkeit des Eigentumstitels ihres Nachbarn hinsichtlich gerade dieses Grundstücks vom Gericht von Cluj-Napoca bestätigt worden war. Dazu kommt, dass das Gericht zweiter Instanz sich geweigert hat, die von den Bf. vorgelegten Beweise zu überprüfen. Angesichts ferner der Tatsache, dass die Bf. versucht hatten, M. I. zu kontaktieren, und erst danach den Präfekten befragten und seine Meinung wiedergaben, besteht auch kein Grund, an ihrem guten Glauben zu zweifeln. Was die verhängten Strafen angeht, waren diese von besonderer Härte: Der zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilte ErstBf. verbrachte 45 Tage im Gefängnis, während der ZweitBf. zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt wurde. Beide Bf. waren zur Leistung einer Schadenersatzsumme verpflichtet worden, die das Zwölffache des monatlichen Durchschnittsgehalts in Rumänien beträgt. Die Verurteilung der Bf. war somit unverhältnismäßig gegenüber dem gesetzlich verfolgten Ziel. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Entzug der elterlichen Rechte stellt einen Eingriff in das Familienleben des ErstBf. dar. Er beruhte auf einer gesetzlichen Grundlage, nämlich den Art. 71 und 64 des rumänischen Strafgesetzes. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte. Der GH erinnert daran, dass dem Kindeswohl grundsätzlich Vorrang einzuräumen ist und daher nur ein besonders unwürdiges Verhalten seitens eines Elternteils den Entzug seiner elterlichen Rechte zum Wohle des Kindes rechtfertigen kann. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die dem ErstBf. vorgeworfene Straftat, wegen der er verurteilt wurde, mit der Ausübung der elterlichen Autorität in keiner Weise in Zusammenhang stand und auch zu keiner Zeit behauptet wurde, dass er die Pflege und Erziehung seiner Kinder vernachlässigt oder sie schlecht behandelt habe.

Gemäß rumänischem Recht stellt das Verbot der Ausübung der elterlichen Rechte eine Zusatzstrafe dar, die automatisch auf jede Person Anwendung findet, die eine Haftstrafe zu verbüßen hat. In derartigen Fällen findet weder eine gerichtliche Überprüfung noch eine Berücksichtigung des Deliktstypus bzw. des Kindeswohls statt. Ein solches Verbot stellt eher einen moralischen Verweis mit dem Ziel der Bestrafung des Verurteilten als eine Maßnahme zum Schutz des Kindes dar. Es kann daher nicht gesagt werden, dass das automatische Verbot der Ausübung der elterlichen Rechte im überwiegenden Interesse des Kindes gelegen wäre und somit ein legitimes Ziel verfolgt hätte. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 8 EMRK:

Die Reg. wendet ein, dass dem ErstBf. eine Bsw. beim Verfassungsgericht wegen Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Gesetzesbestimmungen offen gestanden wäre.

Der GH verweist darauf, dass das rumänische Verfassungsgericht in seinem Erkenntnis vom 14.6.2001 die Art. 71 und 64 des rumänischen Strafgesetzes für verfassungsgemäß befunden und festgestellt hat, dass die Einrichtung von Zusatzstrafen eine Angelegenheit der Strafrechtspolitik sei, über die das Parlament zu entscheiden habe. Eine derartige Bsw. hätte somit kein effektives Rechtsmittel dargestellt. Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 1.582,42 für materiellen Schaden an den ZweitBf., EUR 5.000,-- bzw. 1.000,-- für immateriellen Schaden an den Erst- bzw. ZweitBf. Insgesamt EUR 4.000,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bladet Tromso & Stensaas/N v. 20.5.1999 (= NL 1999, 96 = EuGRZ 1999, 453 = ÖJZ 2000, 232):

Dalban/ROM v. 28.9.1999 (= NL 1999, 159).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.9.2004, Bsw. 46572/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 228) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_5/Sabou.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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