EGMR Bsw15773/89

EGMRBsw15773/8927.4.1995

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Piermont gegen Frankreich, Urteil vom 27.4.1995, Bsw. 15773/89 und 15774/89.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK, Art. 2 4. ZP EMRK, Art. 16 EMRK, Art. 63 EMRK - Meinungsäußerungsfreiheit einer deutschen Euro - Parlamentarierin in den französischen Überseegebieten.

Keine Verletzung von Art. 2 4. ZP EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (5:4 Stimmen)

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig). FF 80.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. war eine dt. Euro-Parlamentarierin, die 1986 auf Einladung der Befreiungsfront von Französisch-Polynesien im Wahlkampf für die Unabhängigkeit von Frankreich und gegen die frz. Atombombenversuche agitierte. Sie wurde daraufhin vom frz. Hochkommissar des Landes verwiesen - freilich erst zu einem Zeitpunkt, als sie gerade dabei war, das Land zu verlassen. Als sie mit der gleichen Zielsetzung in Französisch-Neukaledonien landete, wurde ihr vom dortigen Hochkommissar die Einreise verweigert. Beide Verfügungen wurden zwar von den überseeischen Verwaltungsgerichten nachträglich aufgehoben, aber vom Conseil d'Etat in Paris wieder bestätigt. Die Bf. wandte sich daher an die Kms. und behauptete Verletzung ihres Rechts auf Freizügigkeit (Art. 2 4.ZP EMRK) und auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) sowie des Diskriminierungsverbotes (Art. 14 EMRK iVm. Art. 10 EMRK). Die Kms. verneinte in ihrem Bericht vom 20.1.1994 in beiden Fällen, dass das Recht auf Freizügigkeit verletzt sei (einstimmig bzw. 13:1); knapp bejaht wurde die Verletzung der Meinungsfreiheit im Falle Polynesiens (8:6), im Falle Neukaledoniens jedoch verneint (12:2).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Zum Recht auf Freizügigkeit (Art. 2 4.ZP EMRK):

Diese Bestimmung garantiert jedem, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, ein Recht auf Freizügigkeit. Die Anwendbarkeit auf abhängige Gebiete (für deren internationale Beziehungen ein Staat verantwortlich ist), hängt gemäss Art. 5 (1) 4.ZP EMRK von einer entsprechenden Erklärung ab. Frankreich betrachtet zwar seine überseeischen Gebiete (territoires d'outre-mer) als integralen Teil seines Territoriums, hatte aber bei der Ratifikation des ZP zum Ausdruck gebracht, dass es sich um Gebiete mit besonderem Status handle und erklärt, von der in Art. 63 EMRK eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, bei der Gewährleistung der Menschenrechte die örtlichen Notwendigkeiten zu berücksichtigen. Hierauf berief sich nun die Reg. vor dem GH. Außerdem machte sie geltend, dass die Bf. sich nach der Bekanntgabe des Ausweisungsbefehls nicht mehr rechtmäßig in Polynesien aufgehalten habe, sodass ihr Recht auf Freizügigkeit nicht verletzt sein konnte. Was die Stellung der Bf. als Euro-Parlamentarierin betreffe, so verbiete zwar das Protokoll über die Privilegien und Immunitäten der EG (1965) jede Beschränkung auf dem Weg zu und von den Parlamentssessionen, doch habe sich die Bf. ja nicht auf diesem Weg befunden. Auch die EG-rechtliche Freizügigkeit der Arbeitnehmer komme nicht in Frage, da die vorgesehene Ausdehnung dieses Rechts auf die Überseegebiete nicht stattgefunden habe. Schließlich sei der Eingriff auch aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt gewesen.

Der GH teilt die Argumentation der Reg., stellt aber bzgl. Polynesiens in erster Linie darauf ab, dass die Bf. ja bereits im Begriffe stand, abzureisen, als sie den Ausweisungsbefehl erhielt. Es habe daher kein Eingriff in ihr Recht auf Freizügigkeit stattgefunden. Bzgl. Neukaledoniens stellt der GH fest, dass die Einreise mit der Ankunft auf dem Flughafen noch nicht vollzogen war, die Bf. sich somit nicht rechtmäßig auf dem Hoheitsgebiet aufhielt und daher eine wesentliche Voraussetzung für das Recht auf Freizügigkeit fehlte. Art. 2 4.ZP EMRK wurde somit nicht verletzt (in beiden Fällen einstimmig).

Zur Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit):

Die Bf. behauptet, die Ausweisung aus Polynesien und das Verbot der Wiedereinreise habe eine Zensur ihrer politischen Ansichten bezweckt, obwohl sie als Euro-Parlamentarierin ein legitimes Interesse an der Situation in diesem Territorium hatte. Die Reg. versucht, diesen Eingriff unter Bezugnahme auf verschiedene Konventionsbestimmungen zu rechtfertigen:

- Örtliche Notwendigkeit (Art. 63 (3) EMRK): Die Reg. verweist auf ihre Erklärung anlässlich der Ratifikation und betont Insellage, Entfernung vom Mutterland und das gespannte politische Klima in jener Zeit. Der GH erblickt darin aber keine lokale Besonderheit, sondern nur eine für Wahlkämpfe typische Situation und somit keine Rechtfertigung für die Beschränkung des Grundrechts.

- Möglichkeit, die politische Tätigkeit von Ausländern Beschränkungen zu unterwerfen (Art.16 EMRK): Die Bf. beruft sich auf ihre Unionsbürgerschaft und Funktion im Europaparlament, während die Reg. ua. betont, dass die Fragen der territorialen Integrität und nationalen Verteidigung (Separatismus, Atomwaffenversuche) nicht in die Gemeinschaftszuständigkeit fallen. Der GH räumt zwar ein, dass die Unionsbürgerschaft damals noch nicht bestand; dennoch könne der Bf. als Angehöriger eines Unionsstaates und überdies Euro-Parlamentarierin Art. 16 EMRK nicht entgegengehalten werden, zumal die Bevölkerung der Überseegebiete an den Wahlen zum Europaparlament teilnehme.

- Rechtfertigung gemäß Art. 10 (2) EMRK: Unter dem Gesichtspunkt der Meinungsäußerungsfreiheit war der Eingriff gesetzlich vorgesehen. Auch der legitime Zweck des Eingriffs stand für den GH außer Zweifel. Ob er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, führte zu einer längeren Erörterung. Der GH erinnerte daran, dass die Freiheit der Meinungsäußerung zu den Fundamenten einer demokratischen Gesellschaft gehört. Sie gilt nicht nur für willkommene, als harmlos oder neutral eingestufte Informationen und Ideen, sondern auch für solche, die verletzen, schockieren oder beunruhigen; das gebieten Pluralismus, Toleranz und Offenheit, die eine demokratische Gesellschaft kennzeichnen (vgl. Urteil Castells/E, A/236 § 42). Dies trifft in besonderem Masse auf Volksvertreter zu, sodass Eingriffe in deren Recht vom GH besonders genau unter die Lupe zu nehmen sind (§§ 42, 46). Sicherlich konnten die bekannten Ansichten der Bf. das politische Klima entscheidend beeinflussen, doch wurden sie im Verlauf einer genehmigten und friedlich verlaufenen Kundgebung geäußert. Wegen des fehlenden Gleichgewichts zwischen dem Allgemeininteresse einerseits und dem Recht der Bf. andererseits, war dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig und wurde Art. 10 daher verletzt (5:4 Stimmen).

Hinsichtlich der Meinungsfreiheit in Neukaledonien meinten Reg. und Kms., auch diese käme mangels Einreiseerlaubnis nicht in Frage, doch war der GH anderer Auffassung: Um einen Eingriff habe es sich nämlich insofern gehandelt, als der Bf. während ihres Aufenthalts auf dem Flughafen der Kontakt mit den einladenden Politikern verweigert wurde; da auch hier die Verhältnismäßigkeit fehlte, wurde Art. 10 verletzt (5:4 Stimmen).

Der behauptete Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK iVm. Art. 10 EMRK) wurde nicht untersucht.

Zu Art. 50 EMRK: Der GH erblickte in seinem Urteil selbst eine ausreichende Entschädigung für den erlittenen moralischen Schaden und sprach außer Kosten keinen Schadenersatz zu.

Gemeinsame abweichende Meinung der Richter Ryssdal, Matscher, Sir John Freeland und Jungwiert :

Örtliche Notwendigkeiten (Art. 63 EMRK) und Ausländercharakter (Art. 16 EMRK) spielen sehr wohl eine Rolle und hätten bei den Rechtfertigungsgründen für einen Eingriff nach Art. 10 (2) EMRK berücksichtigt werden sollen. In Polynesien herrschten beträchtliche Spannungen und der Eingriff war - im Rahmen des Ermessensspielraums - verhältnismäßig. Außerdem hatte die Bf. ihre Meinung ohnehin frei äußern können und erlitt sie durch die nachfolgende Ausweisung keinen erheblichen Nachteil. Hinsichtlich Neukaledoniens konnte mangels Einreiseerlaubnis kein Eingriff in das Meinungsrecht vorliegen. Er wäre aber gerechtfertigt gewesen, weil das politische Klima hier noch gespannter war als in Polynesien.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.4.1995, Bsw. 15773/89 und 15774/89, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1995,125) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/95_3/Piermont v F.pdf

Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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