EGMR Bsw15974/90

EGMRBsw15974/9026.4.1995

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Prager und Oberschlick gegen Österreich, Urteil vom 26.4.1995, Bsw. 15974/90.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Kritik an einem Richter und das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (5:4 Stimmen).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. Prager (P.) verfasste einen Zeitungsartikel, in dem er neun Richter des Wiener Landesgerichts für Strafsachen wegen ihrer Verhandlungsführung vehement kritisierte. Einer dieser Richter (Richter J.) erhob gegen ihn Privatanklage wegen Übler Nachrede (§ 111 StGB). Der Bf. P. wurde daraufhin zu einer Geldstrafe verurteilt, das Gericht stellte ferner mangelnde Wahrnehmung journalistischer Sorgfalt (§ 29 MedienG) fest. Der Bf. Oberschlick (O.) als Herausgeber der Zeitschrift wurde für die Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der Urteilsveröffentlichung zur ungeteilten Hand mit dem Bf. P. haftbar gemacht (§ 35 MedienG), sowie zur Zahlung einer Entschädigungssumme an Richter J. (§ 6 MedienG) verurteilt. Weiters wurden die Einziehung der gesamten Auflage der Zeitschrift (§ 33 MedienG) sowie die Veröffentlichung von Teilen des Urteils (§ 34 MedienG) angeordnet. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben (bis auf die Herabsetzung der Entschädigungssumme) erfolglos. Die Kms. stellte in ihrem Bericht v. 28.2.1994 (= NL 94/3/09) weder eine Verletzung von Art. 10 EMRK (15:12 Stimmen) noch von Art. 10 EMRK iVm. Art. 14 EMRK fest (einstimmig).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung ihres Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Der GH verwirft zunächst die Verfahrenseinrede der Reg., wonach dem Bf. O. als bloßem Herausgeber die Opfereigenschaft fehle: Auch er war ja von den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte direkt betroffen. Unbestritten ist, dass die Verurteilung des Bf. P. wegen übler Nachrede wie auch alle übrigen verhängten Maßnahmen einen Eingriff in das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung darstellen. Dies ist dann keine Verletzung, wenn der Eingriff vom Gesetz vorgesehen ist, einem legitimen Zweck dient und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.

War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

Der GH hat bereits in früheren Urteilen § 111 StGB als gesetzliche Grundlage anerkannt (vgl. Urteile Lingens/A, A/103 § 36; Oberschlick/A, A/204 § 54; Schwabe/A, A/242-B § 25 = NL 92/5/13), gleiches gilt für § 29 MedienG. Ferner waren Anwendung und Auswirkungen dieser Vorschriften für den Bf. P. durchaus vorhersehbar gewesen (vgl. mutatis mutandis Urteil Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi/A, A/302 § 46 = NL 95/1/11).

Diente der gesetzlich vorgesehene Eingriff einem legitimen Zweck ?

Der GH bejahte dies, denn die Entscheidungen beabsichtigten den Schutz des Rufes anderer, insb. des Richters J. sowie des Ansehens der gesamten Richterschaft.

War dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ?

Die Bf. behaupteten, weder die Verurteilungen noch die verhängten Strafen seien gerechtfertigt gewesen: Bf. P. habe in seinem Artikel auf zahlreiche ernsthafte Probleme in der österr. Strafgerichtsbarkeit hingewiesen; ferner sei die Zeitschrift an einen intellektuellen Leserkreis gerichtet, der über eigenes Urteilsvermögen verfüge. Die Bf. rügten weiters das Verfahren: So seien ihnen angemessene Verteidigungsmittel verwehrt worden; Richter J. habe völlig eigenständig eine Auswahl jener Passagen aus dem Artikel getroffen, aufgrund derer die Verurteilung erfolgte; er habe somit einzelne allgemeine Sätze und Ausdrücke aus ihrem Zusammenhang gerissen und diese fälschlicherweise so gedeutet, als seien sie gegen ihn gerichtet. Die Bf. rügten weiters, die vom Erstgericht getroffene Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen sei fehlerhaft gewesen. Den Bf. sei das Recht verweigert worden, Fakten vorzubringen, die darzulegen vermocht hätten, dass die Tatsachenbehauptungen wahr und die Werturteile fair waren. Soweit Beweise aufgenommen wurden, wurde die Beweislast in gesetzwidriger Weise dem Bf. auferlegt. Nicht gerechtfertigt sei auch der Vorwurf, der Bf. P. habe nicht ausreichend journalistische Sorgfalt walten lassen. Denn er habe Recherchen über einen Zeitraum von sechs Monaten angestellt und Rechtsanwälte, Richter sowie Wissenschafter kontaktiert. Zusätzlich besuchte er über einen Zeitraum von dreieinhalb Monaten täglich Gerichtsverhandlungen.

Der GH betont die besondere Funktion der Presse in einem Rechtsstaat: Obwohl sie gewisse Grenzen respektieren muss, namentlich zum Schutz des guten Rufes anderer, ist es ihre Aufgabe, Informationen und Gedanken über politische Fragen und andere Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu vermitteln (vgl. Urteil Castells/E, A/236 § 43). Dies schließt zweifellos Fragen des Funktionierens des Gerichtssystems ein, einer wesentlichen Voraussetzung jeder demokratischen Gesellschaft. Allerdings bedarf die Justiz in ihrer besonderen Rolle als Garant für die Gerechtigkeit (die einen grundlegenden Wert in einem Rechtsstaat darstellt) des öffentlichen Vertrauens. Daher muss sie vor unbegründeten und destruktiven Angriffen geschützt werden, insb. im Hinblick darauf, dass Richter wegen ihrer Verschwiegenheitspflicht diesen Angriffen oftmals nicht entgegentreten können.

Den nationalen Behörden ist bei der Beurteilung, ob und in welchem Ausmaß ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung zu erfolgen hat, ein Ermessensspielraum eingeräumt, dessen Einhaltung die Konventionsorgane überprüfen. Nach Ansicht des GH liegt die Bewertung der ggst. Äußerungen als Werturteile bzw. als Tatsachenbehauptungen im Rahmen dieses Ermessensspielraumes . Einige der vom Bf. P. erhobenen Anschuldigungen waren außerordentlich schwerwiegend: Er behauptete ua., die Wiener Richter würden "jeden Angeklagten gleich zu Beginn wie einen Verurteilten behandeln" und Richter J. nehme eine "schikanoese" und "menschenverachtende" Haltung bei der Erfüllung seiner Pflichten ein. Der Bf. P. hat folglich den genannten Personen unterstellt, sie hätten als Richter das Gesetz gebrochen oder zumindest gegen ihr Berufsethos verstoßen. Er hat damit nicht nur ihren Ruf geschädigt, sondern auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Integrität der Richterschaft insgesamt untergraben.

Dass es dem Bf. P. nicht möglich war, die Richtigkeit seiner Behauptungen und die Fairness seiner Werturteile nachzuweisen, lag nicht an der Art der Prozessführung, sondern am pauschalen Charakter der Beschuldigungen. Wie die Kms. bereits betonte, wurde dem Bf. nicht angekreidet, dass er von seinem Recht auf Meinungsfreiheit bzgl. des Gerichtssystems Gebrauch gemacht oder bestimmte, namentlich genannte Richter kritisiert hatte. Es waren vielmehr die außerordentlich weitreichenden Anschuldigungen, die mangels ausreichender Grundlage in den Fakten unbegründet erschienen. So meinte das verurteilende Gericht, diese pauschale Kritik müsse bei einem unvoreingenommenen Leser den Eindruck erwecken, Richter J. habe aus niedrigen Beweggründen gehandelt und habe verachtenswerte Charaktereigenschaften. Der Bf. P. kann sich auch nicht darauf berufen, die ethischen Grundsätze des Journalismus beachtet zu haben: Seine Recherchen reichten nicht aus, so schwerwiegende Anschuldigungen zu belegen; er besuchte auch keine einzige Verhandlung, die von Richter J. geführt wurde. Außerdem erhielt Richter J. keine Gelegenheit, zu den Beschuldigungen Stellung zu nehmen.

Das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung umfasst gemäß Art. 10 (2) EMRK nicht nur Informationen und Gedanken, die wohlwollend aufgenommen oder als unschädlich bzw. indifferent angesehen werden, sondern auch solche, die beleidigen, schockieren oder vom Staat bzw. Teilen der Gesellschaft als störend empfunden werden (vgl. Urteile Castells/E , § 42 und Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi/A, § 36). Der GH ist sich auch bewusst, dass die journalistische Freiheit gewisse Übertreibungen und Provokationen deckt. Im Lichte aller beschriebenen Umstände und des den nationalen Behörden eingeräumten Ermessensspielraums steht der gerügte Eingriff jedoch in keinem Missverhältnis zum verfolgten Zweck. Er kann daher als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gelten. Art . 10 EMRK wurde daher nicht verletzt (5:4 Stimmen).

Eine Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK iVm. Art. 14 EMRK wird als nicht notwendig erachtet (einstimmig).

Abweichende Meinung von Richter Martens, angeschlossen die Richter Pekkanen und Makarczyk sowie - mit zusätzlichen Argumenten - Richter Pettiti :

Die österr. Gerichte haben ihre Entscheidungen unter Heranziehung von fünf einzelnen Passagen des Zeitungsartikels getroffen, ohne auf deren Zusammenhang weiter einzugehen; die Reg. begründete dies damit, dass die Gerichte hiebei durch die Terminologie des Straftatbestandes der Privatanklage gebunden waren. Art. 10 EMRK hingegen verlangt, dass dieser Zusammenhang stets beachtet werde; die EMRK hat in Österreich Verfassungsrang, somit wären die Gerichte an die restriktiven einfachgesetzlichen Regelungen der StPO in dieser Hinsicht nicht gebunden gewesen. Die Auslegung der betreffenden fünf Passagen durch die Gerichte erfolgte sehr einseitig, ohne weitere, den Bf. begünstigende Interpretationsmöglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Herrn Prager war es auch nicht möglich gewesen, den Wahrheitsbeweis zu erbringen. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass de facto die innerstaatlichen Gerichte eine unzulängliche Abwägung zwischen dem Erfordernis des Schutzes des guten Rufes anderer und dem der Freiheit der Meinungsäußerung vorgenommen haben. Die Verurteilung und Bestrafung von Herrn Prager bedeuten einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Pressefreiheit, dessen Rechtfertigung vor dem GH in einer überzeugenden Form dargelegt werden muss. Dies war im ggst. Fall nicht geschehen; somit verletzen diese Entscheidungen der österr. Gerichte Art. 10 EMRK.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.4.1995, Bsw. 15974/90, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1995,121) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/95_3/Prager und Oberschlick v A.pdf

Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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