VwGH Ra 2022/21/0107

VwGHRa 2022/21/010726.9.2024

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätinnen Dr. Wiesinger und Dr.in Oswald, als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des E S, vertreten durch die RIHS Rechtsanwalt GmbH in 1010 Wien, Kramergasse 9/3/13, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. April 2022, W105 2252295‑1/3E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2024:RA2022210107.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein 1984 geborener Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, reiste 1992 nach Österreich ein und hält sich hier seitdem rechtmäßig auf. Zuletzt war der Revisionswerber im Besitz eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ mit Gültigkeit bis zum 7. September 2020. Er stellte rechtzeitig einen Verlängerungsantrag.

2 Der Revisionswerber wurde während seines Aufenthaltes in Österreich wiederholt straffällig und deswegen zwischen 2003 und 2021 in insgesamt 14 Fällen rechtskräftig verurteilt, wobei die der ersten Verurteilung zugrunde liegende Tat (Raub nach § 142 Abs. 1 StGB) im März 2003 begangen wurde. Die Verurteilungen betrafen ‑ soweit dies aus den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses erkennbar ist ‑ im Wesentlichen Vermögensdelikte (etwa Raub, [räuberischer] Diebstahl, Sachbeschädigung, [schwerer, gewerbsmäßiger] Betrug), Urkundendelikte, eine Nötigung und (wiederholt) unerlaubten Umgang mit Suchtgiften. Über den Revisionswerber wurden deswegen zunächst bedingte Freiheitsstrafen jeweils in der Dauer von einigen Monaten und unbedingte Geldstrafen, ab 2011 dann unbedingte Freiheitsstrafen jeweils in der Dauer von mehreren Monaten verhängt, wobei die längste über ihn mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 24. Juni 2014 wegen räuberischen Diebstahls gemäß § 127, 131 erster Satz erster Fall StGB und teilweise versuchten gewerbsmäßigen Betruges gemäß §§ 146, 148 erster Fall, § 15 StGB verhängte unbedingte Freiheitsstrafe eine Dauer von 18 Monaten aufwies. Zuletzt wurde der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 17. Mai 2021 wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 2a SMG zu einer unbedingten Freiheitstrafe in der Dauer von acht Monaten verurteilt.

3 Mit Bescheid vom 28. Jänner 2022 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bezug auf die genannten strafgerichtlichen Verurteilungen gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina zulässig sei, und gewährte ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG erließ das BFA überdies gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot.

4 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 21. April 2022 ‑ entgegen dem ausdrücklichen Antrag in der Beschwerde: ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

6 Die Revision rügt in der Begründung ihrer Zulässigkeit die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung und wendet sich im Ergebnis auch gegen die vom BVwG durchgeführte Gefährdungsprognose und die nach § 9 BFA‑VG vorgenommene Interessenabwägung. Damit erweist sich die Revision ‑ wie die nachstehenden Ausführungen zeigen ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

7 Das BVwG ging davon aus, der Aufenthalt des Revisionswerbers stelle eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des (nicht nur für die Erlassung des Einreiseverbotes, sondern gemäß § 9 Abs. 6 BFA‑VG schon für die Zulässigkeit der Erlassung der Rückkehrentscheidung maßgeblichen) § 53 Abs. 3 FPG dar. Diese Annahme lässt sich aber aus der ‑ von allgemein gehaltenen Textbausteinen ohne Bezug zum konkreten Fall dominierten ‑ Begründung des angefochtenen Erkenntnisses nicht nachvollziehbar ableiten.

8 Denn nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 27.4.2023, Ra 2022/21/0130, Rn. 14, mwN).

9 Vorliegend hat das BVwG abweichend von dieser Judikatur jedoch die konkreten Umstände der den Verurteilungen des Revisionswerbers zugrunde liegenden Taten nicht ausreichend festgestellt. So fehlen mit Ausnahme der der Verurteilung zu einer 18‑monatigen unbedingten Freiheitsstrafe mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 24. Juni 2014 (siehe oben Rn. 2) zugrundeliegenden Tat (Versuch des Verkaufes von mit Zucker befüllten Substitol‑Kapseln und des räuberischen Diebstahls von Substitol‑Kapseln) Feststellungen zu den Umständen der vom Revisionswerber begangenen Straftaten gänzlich. Insoweit beschränkte sich das BVwG auf die Wiedergabe des Inhalts der Strafregisterauskunft. Das genügt in der Regel ‑ wie auch im vorliegenden Fall ‑ nicht (vgl. dazu etwa VwGH 25.3.2021, Ra 2020/21/0533, Rn. 8, mwN).

10 Diese Feststellungsmängel schlagen auch auf die gemäß § 9 BFA‑VG durchgeführte Interessenabwägung durch (vgl. auch dazu etwa VwGH 25.3.2021, Ra 2020/21/0533, nunmehr Rn. 10, mwN).

11 Bei der Interessenabwägung wäre zunächst schon zu beachten gewesen, dass der Revisionswerber der Aktenlage zufolge vor Begehung der ersten Straftat im März 2003 seit seiner Einreise 1992, somit seit über zehn Jahren, durchgehend in Österreich rechtmäßig aufhältig war, wobei sich aus den vorgelegten Verwaltungsakten ‑ entgegen der Annahme des BVwG, das von Hauptwohnsitzmeldungen erst ab 1999 ausging (siehe Seite 2 des angefochtenen Erkenntnisses) ‑ ergibt, dass er bereits seit Dezember 1992 Hauptwohnsitzmeldungen in Österreich aufwies.

12 Dies lässt den Schluss zu, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt sein dürfte. § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, von hier nicht vorliegenden eng gefassten Ausnahmefällen abgesehen, eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 StbG verliehen hätte werden können. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen war im vorliegenden Fall, wie soeben gezeigt, im Hinblick auf § 10 Abs. 1 StbG in seiner zum Zeitpunkt der ersten Straftat im März 2003 in Kraft stehenden Fassung https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1998_124_1/1998_124_1.pdf zumindest naheliegend, wobei es keiner ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA‑VG bedarf. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen einen fallbezogenen Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen einräumen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 11.11.2021, Ra 2021/21/0243, Rn. 13/14, mwN).

13 Mit der demnach auch hier maßgeblichen Frage, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten vorliegt, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt, hat sich das BVwG allerdings in Verkennung der dargestellten Rechtslage nicht auseinandergesetzt. Wie erwähnt (siehe oben Rn. 9/10), fehlen für eine solche Beurteilung schon ausreichende Feststellungen zu den vom Revisionswerber verübten Straftaten. Diese Prüfung wird daher vom BVwG auf Basis der im fortgesetzten Verfahren zu treffenden Feststellungen zur Delinquenz des Revisionswerbers nachzuholen sein.

14 Zudem hätte ‑ wie die Revision im Ergebnis zu Recht aufzeigt ‑ eine tragfähige Interessenabwägung auch die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vorausgesetzt, zumal im vorliegenden Fall, wie erörtert, der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 verwirklicht ist und in einer solchen Konstellation in der Regel kein eindeutiger Fall vorliegt (vgl. zur Notwendigkeit einer Beschwerdeverhandlung für die umfassende Interessenabwägung, wie sie in ehemals dem § 9 Abs. 4 BFA‑VG unterliegenden Konstellationen geboten ist, etwa VwGH 26.7.2022, Ra 2021/21/0358, Rn. 16, mwN).

15 Das angefochtene Erkenntnis war aus den genannten Gründen (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

17 Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. September 2024

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte