Normen
AsylG 2005 §10 Abs1
AsylG 2005 §13
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023200278.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) II. bis A) IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte ist Staatsangehöriger von Pakistan. Er stellte erstmals im Jahr 2011 nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Dieser Antrag blieb erfolglos und es wurde gegen den Mitbeteiligten eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen. Daraufhin kehrte er im Jahr 2014 nach Pakistan zurück.
2 Der Mitbeteiligte blieb allerdings nur einige Wochen in seinem Heimatland und reiste noch im Jahr 2014 in die Ukraine, wo er sich niederließ. Er verfügte dort über eine Aufenthaltsberechtigung und arbeitete in einem Restaurant. Im Jahr 2019 heiratete er eine ukrainische Staatsangehörige.
3 Nach Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 floh der Mitbeteiligte gemeinsam mit seiner Frau nach Polen. Dort verlor er den Kontakt zu ihr.
4 Der Mitbeteiligte reiste in der Folge weiter nach Österreich. Am 31. März 2022 stellte er im Bundesgebiet den hier gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
5 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 2. Dezember 2022 sowohl in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 sowie § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA‑VG) eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
6 Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde nach Durchführung einer Verhandlung mit Erkenntnis vom 12. Juni 2023 ab, soweit sich die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. dieses Bescheides gerichtet hatte [Spruchpunkt A) I.]. Im Übrigen gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde statt und änderte den Ausspruch über die Erlassung einer Rückkehrentscheidung dahingehend ab, dass gemäß § 9 Abs. 3 BFA‑VG festgestellt werde, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig sei [Spruchpunkt A) II.]. Des Weiteren wurde ihm vom Verwaltungsgericht nach § 54 und § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ mit einer Gültigkeitsdauer von 12 Monaten erteilt [Spruchpunkt A) III.] und die Spruchpunkte V. und VI. des in Beschwerde gezogenen Bescheides wurden ersatzlos aufgehoben [Spruchpunkt A) IV.]. Unter einem sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
7 Das Bundesverwaltungsgericht führte im Rahmen seiner Feststellungen ‑ soweit für das Revisionsverfahren von Interesse ‑ aus, der Mitbeteiligte sei erstmals im Jahr 2011 unter Umgehung der Grenzkontrolle in Österreich eingereist. Er habe sich zumindest bis zum Jahr 2014 in Österreich aufgehalten. Im selben Jahr sei er nach Pakistan zurückgekehrt und sodann in die Ukraine gezogen, wo er sich acht Jahre lang aufgehalten habe. Dort habe er seinen Lebensmittelpunkt gehabt und auch alle rechtlichen Erfordernisse erfüllt, um sich dort aufhalten zu dürfen. Er habe sich in der Ukraine nachhaltig integriert. Er habe dort geheiratet und gearbeitet.
8 Nach Ausbruch des Krieges sei der Mitbeteiligte nach Polen geflohen. Dort sei der Kontakt zu seiner Ehefrau in (gemeint: vom Mitbeteiligten) unverschuldeter Weise abgerissen. Er habe sich dann allein nach Österreich begeben, wo er sich seit 31. März 2022 aufhalte. Der Aufenthalt in Österreich sei aufgrund der ihm nach Stellung und Einbringung eines ‑ zum Asylverfahren zugelassenen ‑ Antrages auf internationalen Schutz gemäß dem AsylG 2005 zukommenden vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung rechtmäßig.
9 Der Mitbeteiligte habe keine weiteren, aus seinem Heimatland stammenden Familienangehörigen in Österreich. Es lägen auch sonst „keine besonderen Merkmale“ für ein in Österreich bestehendes Familienleben vor.
10 Der Mitbeteiligte pflege in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus bestünden keine weiteren „substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens“. Er sei kein Mitglied von politischen Parteien und auch sonst nicht politisch aktiv, sei kein Mitglied in „sonstigen Vereinen“, habe keine Deutschkurse besucht und daher auch keine diesbezüglichen Teilnahmebestätigungen oder Prüfungszertifikate vorgelegt. Er habe aber in der Verhandlung den Eindruck vermittelt, dass seine Sprachkenntnisse (gemeint: der deutschen Sprache) ausreichend seien, um bei „klarer Standardsprache“ über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule und Freizeit in Deutsch zu reden. Darüber hinaus habe er über Erfahrungen und Ereignisse berichtet sowie Träume, Hoffnungen und Ziele beschrieben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen gegeben. Er sei bemüht, seine Sprachkenntnisse zu vertiefen.
11 Der Mitbeteiligte lebe nicht von der Grundversorgung und sei selbsterhaltungsfähig. Es sei ihm eine wirtschaftliche Integration gelungen. Er arbeite seit seiner „Wiedereinreise“ selbständig als Paketzusteller für diverse Unternehmen, wobei die Einkünfte aus dieser Tätigkeit „bei Weitem“ die Geringfügigkeitsgrenze überschritten. Der Mitbeteiligte sei unbescholten.
12 Auch wenn der Mitbeteiligte „keinen durchgehenden Aufenthalt in Österreich aufweisen“ könne und er erst seit etwas mehr als einem Jahr wieder in Österreich lebe, so müsse „mitbetrachtet“ werden, dass er seit dem Jahr 2011 nicht mehr in Pakistan gelebt habe und nur einmal im Jahr 2014 für wenige Wochen dort gewesen ist. Er halte sich mehr als 12 Jahre fernab seines Heimatlandes auf. Zuletzt habe er sich fast acht Jahre lang durchgehend in der Ukraine aufgehalten, „wo er eindeutige Integrationsschritte gesetzt“ habe. Dort habe er auch über einen Aufenthaltstitel verfügt, sei einer regelmäßigen Arbeit nachgegangen und habe eine ukrainische Staatsangehörige geheiratet. Das zeige, dass er „eigentlich“ keine Bindungen mehr zu seinem Herkunftsstaat habe und seine privaten Interessen „an einem Verbleib in Europa“ über die öffentlichen Interessen zu stellen seien.
13 Das Bundesverwaltungsgericht verkenne zwar nicht, dass der Mitbeteiligte diesen langjährigen Aufenthalt nicht im Bundesgebiet verbracht habe. Jedoch seien im konkreten Einzelfall die Kriegswirren in der Ukraine zu berücksichtigen und „eben auch“, dass der Mitbeteiligte schon einmal drei Jahre lang in Österreich gelebt habe. Dass sich der Mitbeteiligte nachhaltig in Europa integriert habe, zeige sich auch darin, dass er kurz nach „seiner Rückkehr“ nach Österreich sogleich eine Arbeit gefunden habe, „bei der er weit über die Geringfügigkeitsgrenze“ verdiene und „er hier noch Kontakte“ habe, „die ihn nach seiner Wiedereinreise finanziell und mit Wohnraum unterstützten“.
14 In seiner rechtlichen Begründung führte das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung zunächst aus, dem Mitbeteiligten komme kein anderes Aufenthaltsrecht zu, außer jenem vorläufigen Aufenthaltsrecht, das ihm nach § 13 AsylG 2005 während des Asylverfahrens zustehe und das mit Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz ende. Es sei somit dem Grunde nach die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 (Z 2) FPG zulässig.
15 Im Rahmen der Beurteilung nach § 9 BFA‑VG hielt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen schwerwiegenden Eingriff in das in Österreich entfaltete Privatleben des Mitbeteiligten bedeute.
16 Nach Wiederholung der bereits bei den Feststellungen getätigten Ausführungen und der Wiedergabe von Rechtssätzen aus der Rechtsprechung ergänzte das Bundesverwaltungsgericht seine Erwägungen dahingehend, dass dem Mitbeteiligten zu Gute gehalten werden müsse, dass er nach dem Abschluss seines ersten Asylverfahrens die damals erlassene Rückkehrentscheidung befolgt und Österreich verlassen habe. Es lägen daher keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, vor, „hinsichtlich letzteren Aspektes“ sei „wiederum auf das durch das Asylverfahren begründete Aufenthaltsrecht zu verweisen“. Der Mitbeteiligte habe in der Verhandlung einen in persönlicher Hinsicht sehr positiven und um Integration äußerst bemühten Eindruck hinterlassen. Aufgrund der bereits vorliegenden, „beträchtlich über dem Durchschnitt liegenden Integrationsbemühungen und eines in diesem Sinne anzunehmenden hohen Sozialisationsgrades“ in Österreich sei jedenfalls vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung nicht der Schluss zu ziehen, dass er für Österreich eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit darstellen könnte.
17 Daher habe die Interessenabwägung „eindeutig zu Gunsten“ des Mitbeteiligten auszufallen. Infolge dessen sei gemäß § 9 Abs. 3 BFA‑VG festzustellen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen ihn auf Dauer unzulässig sei.
18 Ferner legte das Bundesverwaltungsgericht dar, weshalb dem Mitbeteiligten des Weiteren ein nach § 55 AsylG 2005 vorgesehener Aufenthaltstitel zu erteilen sei und die von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtlich abhängenden behördlichen Aussprüche ersatzlos zu beheben seien.
19 Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Erhebung einer Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass es von der im Rahmen seiner inhaltlichen Erwägungen zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, insbesondere „zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben“, nicht abgegangen sei.
20 Gegen die Spruchpunkte A) II. bis A) IV. dieses Erkenntnisses richtet sich die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingebrachte Revision, die vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt wurde. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
21 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:
22 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wendet sich zur Begründung der Zulässigkeit der Revision gegen die vom Bundesverwaltungsgericht nach § 9 BFA‑VG vorgenommene Interessenabwägung und macht ‑ mit näherer Begründung ‑ geltend, dass das Verwaltungsgericht von den in der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen in unvertretbarer Weise abgewichen sei.
23 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
24 § 10 AsylG 2005, § 52 FPG und § 9 BFA‑VG lauten (jeweils auszugsweise und samt Überschrift):
„Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme
§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. ...
...
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. ...
...
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
(2) ...“
„Rückkehrentscheidung
§ 52. (1) ...
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. ...
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ...
...
und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) ...
...“
„Schutz des Privat- und Familienlebens
§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
...“
25 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 15.6.2023, Ra 2023/14/0130; 20.4.2023, Ra 2022/19/0028 bis 0031, jeweils mwN).
26 Der Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG („Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) darf zwar nicht in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt klargestellt, dieser Aspekt habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung führen könnte.
27 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner ständigen Rechtsprechung aber auch darauf hingewiesen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. zum Aspekt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG ausführlich VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung).
28 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem bereits wiederholt festgehalten, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Erlassung einer Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären (vgl. VwGH 28.7.2023, Ra 2023/14/0236; 5.9.2022, Ra 2022/18/0115, jeweils mwN).
29 Dass fallbezogen solche Umstände vorgelegen wären, nach denen es geboten gewesen wäre, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten, als unverhältnismäßig einzustufen, trifft ‑ was in der Revision vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Recht geltend gemacht wird ‑ nicht zu. Der ‑ zu diesem Thema aber bloß unsubstantiiert vorgetragenen ‑ gegenteiligen Behauptung des Mitbeteiligten kommt keine Berechtigung zu.
30 Die Dauer des Aufenthalts des Mitbeteiligten im Bundesgebiet betrug im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses etwa ein Jahr und drei Monate. Selbst das Bundesverwaltungsgericht ist nicht davon ausgegangen, dass die für eine Integration des Mitbeteiligten in Österreich sprechenden Umstände ‑ Freunde in Österreich, Kenntnisse der deutschen Sprache in einem solchen Ausmaß, um in deutscher Sprache über dem Mitbeteiligten vertraute Dinge sprechen zu können, sein Bemühen, die Sprachkenntnisse zu erweitern, und die Tätigkeit als Paketzusteller ‑ so gelagert wären, dass von einer in dieser kurzen Zeit erlangten außergewöhnlichen Integration hätte gesprochen werden können. Es ist nicht zu sehen, dass diesen Umständen ein solches Gewicht beizumessen gewesen wäre, dass sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung als im Sinn des Art. 8 EMRK unverhältnismäßig dargestellt hätte.
31 Das Bundesverwaltungsgericht rückte bei seinen Erwägungen in den Vordergrund, dass sich der Mitbeteiligte seit dem Jahr 2011 nicht mehr für längere Zeit in seinem Herkunftsstaat Pakistan aufgehalten und seit dem Jahr 2014 bis zum Ausbruch des Krieges Anfang des Jahres 2022 in der Ukraine gelebt habe. Er habe infolgedessen „eigentlich“ keine Bindungen mehr zu seinem Heimatland, sondern weise private Interessen in hohem Maß „an einem Verbleib in Europa“ auf.
32 Zum Argument des Bundesverwaltungsgerichts, der Mitbeteiligte habe „ein Interesse an einem Verbleib in Europa“, ist festzuhalten, dass diese Aussage aufgrund ihres unsubstantiierten und indifferenten Inhalts fallbezogen der Sache nach lediglich mit anderen Worten den Wunsch des Mitbeteiligten, nicht in sein Heimatland zurückkehren zu wollen, zum Ausdruck bringt.
33 Die Einschätzung, der Mitbeteiligte habe keine Bindungen mehr zum Herkunftsstaat, lässt sich wiederum mit den weiteren vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen nicht in Einklang bringen. Darin führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass nicht festgestellt werden könne, dass der Mitbeteiligte im Fall der Rückkehr nach Pakistan in eine die Existenz gefährdende Notsituation geraten werde. Es bestünden keine Zweifel an seiner „Arbeits- und Erwerbsfähigkeit“ (gemeint: in Bezug auf ein Leben in Pakistan). Er sei anpassungsfähig und könne (auch in Pakistan) einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Zahlreiche Familienangehörige von ihm lebten in seinem Heimatland, die ihn ‑ insbesondere seine Eltern und sein Bruder ‑ nach der Rückkehr nach Pakistan zumindest vorübergehend finanziell unterstützen könnten. Weiters habe er auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der Mitbeteiligte, der über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit verfüge, sei mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in Pakistan aufgewachsen und dort sozialisiert worden sei.
34 Schon vor diesem Hintergrund erweist sich die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Beurteilung als nicht tragfähig.
35 Der Vollständigkeit halber sei aber auch erwähnt, dass sich zudem die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts, ob dem Mitbeteiligten ein Verstoß gegen fremdenrechtliche Bestimmungen zum Vorwurf zu machen sei (dessen Fehlen im Übrigen grundsätzlich nur die Eignung zukommen kann, das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung nicht zu vergrößern, aber nicht das private Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet zu erhöhen), als in sich widersprüchlich darstellt. Während das Verwaltungsgericht im Rahmen der Interessenabwägung zum Ergebnis kommt, ein solcher Verstoß liege nicht vor, führt es an anderer Stelle aus, dass die wahren Gründe der Ausreise des Mitbeteiligten ausschließlich wirtschaftlicher Natur gewesen seien. In einer Gesamtbetrachtung seines Vorbringens sei davon auszugehen, dass er seine Ausreise aus asylfremden Motiven organisiert habe. Es sei ihm „bei der Migration nach Österreich“ nicht um Schutz vor einer im Herkunftsstaat bestehenden Verfolgung (die nicht vorliege) gegangen, sondern es sei für ihn wichtig gewesen, ein Zielland zu erreichen, das er persönlich und unabhängig von einer asylrechtlich relevanten Verfolgung für gut erachte. Er habe den Asylantrag rechtsmissbräuchlich gestellt. Primärer Zweck der Antragstellung sei die Unterwanderung der fremdenrechtlichen Bestimmungen seines Ziellandes (gemeint: Österreich) gewesen.
36 Das Bundesverwaltungsgericht, das nach dem Gesagten die in der Rechtsprechung für die Vornahme einer Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG aufgestellten Leitlinien in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hat, hat sohin das angefochtene Erkenntnis, soweit es nach § 9 Abs. 3 BFA‑VG festgestellt hat, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Es war daher aus diesem Grund in diesem Ausspruch sowie in den weiteren rechtlich davon abhängenden Aussprüchen, die ihre Grundlage verlieren, gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
37 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.
38 Aufgrund der Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im angefochtenen Erkenntnis sowie jener des Mitbeteiligten in der Revisionsbeantwortung erachtet der Verwaltungsgerichtshof aber folgenden Hinweis für das fortzusetzende Verfahren für angebracht:
39 Das Bundesverwaltungsgericht ging davon aus, der Mitbeteiligte verfüge über kein anderes Aufenthaltsrecht als jenes, das ihm infolge seines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 13 AsylG 2005 während des Asylverfahrens zustehe. Demgegenüber verweist der Mitbeteiligte in der Revisionsbeantwortung, die nahezu ausschließlich Ausführungen zu diesem Thema enthält, darauf, dass ihm nach § 1 Z 3 iVm § 2 Z 1 der Verordnung der Bundesregierung über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht für aus der Ukraine Vertriebene, der Richtlinie 2001/55/EG („Massenzustrom‑Richtlinie“) sowie des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes als Ehemann und damit als Familienangehöriger einer ukrainischen Staatsangehörigen ein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet zukomme; und zwar ungeachtet dessen, dass ihm der Aufenthaltsort seiner Ehefrau immer noch nicht bekannt geworden sei.
40 Mit dieser bis dato ‑ auch im Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ‑ gänzlich unbeleuchtet gebliebenen, aber nicht von vornherein als für die Entscheidung unmaßgeblich anzusehenden Frage sowie mit der Frage, ob ein solches Aufenthaltsrecht der Erlassung einer auf § 52 Abs. 2 FPG gegründeten Rückkehrentscheidung schon dem Grunde nach entgegen stünde, wird sich das Bundesverwaltungsgericht ‑ unter Einbindung sämtlicher Parteien des Beschwerdeverfahrens und nach allfälliger Ergänzung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts ‑ zu befassen haben.
Wien, am 12. September 2023
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
