Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52
MRK Art8
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023200073.L00
Spruch:
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird insoweit, als sie sich gegen die Zurückweisung des Antrages der Revisionswerberin auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 wendet, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine nigerianische Staatsangehörige, stellte am 13. September 2004 erstmals einen Asylantrag in Österreich. Dieser Antrag wurde im Instanzenzug mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 8. Mai 2008 abgewiesen. Unter einem wurde die Revisionswerberin aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und festgestellt, dass ihre Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach Nigeria zulässig sei. Die Behandlung einer von der Revisionswerberin dagegen erhobenen Beschwerde lehnte der Verwaltungsgerichtshof (nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung) mit Beschluss vom 11. November 2010, 2008/20/0441, ab.
2 Im Jahr 2011 beantragte die Revisionswerberin bei der Niederlassungsbehörde die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Dieser Antrag blieb erfolglos.
3 Am 31. Mai 2022 stellte die Revisionswerberin, die im Bundesgebiet geblieben war, einen Folgeantrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005. Das Verfahren über diesen Antrag wurde nicht zugelassen.
4 Mit Bescheid vom 4. November 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei. Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht eingeräumt.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin ‑ ohne Durchführung einer Verhandlung ‑ als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
6 In der Begründung des Erkenntnisses ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, die Revisionswerberin habe keine neuen Fluchtgründe geltend gemacht. Auch im Hinblick auf den Status der subsidiär Schutzberechtigten seien keine wesentlichen Änderungen festzustellen, weshalb der Antrag auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sei.
7 Der bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommenen Interessenabwägung legte das Bundesverwaltungsgericht zugrunde, dass die Revisionswerberin sich zumindest seit der Stellung des ersten Asylantrages, somit seit 18 Jahren, im Bundesgebiet aufhalte, seit dem Jahr 2004 als Prostituierte in Österreich tätig sei und sich dadurch ihren Lebensunterhalt sichere. Seit dem Jahr 2015 sei sie bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen pflichtversichert. Die ‑ unbescholtene ‑ Revisionswerberin habe im Bundesgebiet keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen.
8 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass ein Überwiegen der persönlichen Interessen der Revisionswerberin am Verbleib im Bundesgebiet nicht alleine auf den langen Inhaltsaufenthalt gestützt werden könne, habe sie doch die in Österreich verbrachte Zeit nicht genützt, um sich zu integrieren. Ihre „selbstständige Tätigkeit, die der finanziellen Absicherung ihres Aufenthalts in Österreich dient“, stelle keinen integrationsbegründenden Umstand dar. Als volljährige, gesunde und arbeitsfähige Frau werde die Revisionswerberin im Fall ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland ihre existenziellen Grundbedürfnisse sichern können. Im Übrigen habe die Revisionswerberin zwei unberechtigte Asylanträge gestellt und ihre Ausreiseverpflichtung verletzt, was das öffentliche Interesse an ihrer Ausreise verstärke. Auch wenn diese Umstände für sich genommen bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt nicht entscheidungswesentlich ins Gewicht fielen, komme hinzu, dass die Revisionswerberin seit mehreren Jahren „schwarz“ als Prostituierte arbeite. An der Unterbindung von „Schwarzarbeit“ bestehe aber ein großes öffentliches Interesse. Insgesamt wiege somit das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung schwerer als die privaten Interessen der Revisionswerberin am Verbleib in Österreich.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche Revision, die vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt wurde. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat ‑ über die Revision erwogen:
Zur teilweisen Zurückweisung der Revision
11 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
12 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
13 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
14 Zur Zurückweisung des Antrages der Revisionswerberin auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache und zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen enthält die Begründung für die Zulässigkeit der Revision kein konkret darauf Bezug nehmendes Vorbringen.
15 Zu diesen Aussprüchen werden sohin von der Revisionswerberin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher insoweit gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG zurückzuweisen.
Zur teilweisen Aufhebung:
16 Die Revision ist zulässig, soweit sie sich gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung sowie der rechtlich davon abhängenden Aussprüche richtet. Sie ist in diesem Umfang auch begründet.
17 Die Revisionswerberin macht geltend, sie gehe seit 18 Jahren legal der Prostitution nach, verdiene damit ihren Lebensunterhalt und zahle auch Sozialabgaben. Somit sei nicht von einer gänzlichen „Nicht‑Integration“ auszugehen. Überdies habe das Bundesverwaltungsgericht rechtswidrig von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen, weil es sich keinen persönlichen Eindruck von der Revisionswerberin, insbesondere im Hinblick auf deren Deutschkenntnisse, verschafft habe.
18 Gemäß § 9 Abs. 1 BFA‑VG ist, wenn durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat‑ oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
19 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden.
20 Bei der Beantwortung der Frage, ob einem unrechtmäßig aufhältigen Fremden ein aus Art. 8 EMRK ableitbares Aufenthaltsrecht zuzugestehen ist, ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes maßgeblich darauf Bedacht zu nehmen, ob sich der Fremde bereits mehr als zehn Jahre im Bundesgebiet aufhält.
21 Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen.
22 Allerdings führt auch ein mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend zu einem Überwiegen des persönlichen Interesses, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken oder die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren.
23 Diese Rechtsprechung hat der Verwaltungsgerichtshof auch für jene Konstellationen als maßgeblich erachtet, in denen sich der Aufenthalt zwar ‑ allenfalls: zum Teil ‑ als rechtmäßig dargestellt hat, jedoch der bisherige Aufenthaltsstatus als unsicher einzustufen war. Das betraf in erster Linie jene Fremden, denen als Asylwerber ein bloß für die Dauer des Asylverfahrens zukommendes, vorübergehendes Aufenthaltsrecht eingeräumt war (siehe zum Ganzen VwGH 25.10.2023, Ra 2023/20/0125 bis 0130, mwN, dort auch mit einer beispielhaften Aufzählung von Fehlverhalten, bei dessen Vorliegen auch bei einem langen Zeitraum des Aufenthaltes die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme für zulässig angesehen wurde).
24 Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes hielt sich die Revisionswerberin im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits über 18 Jahre, also (weit) mehr als zehn Jahre, in Österreich auf, ging einer Erwerbstätigkeit als Prostituierte nach und leiste aufgrund dessen Abgaben. Als Umstände, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken und die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren, führte das Bundesverwaltungsgericht neben der Nichterfüllung der Ausreiseverpflichtung und der Stellung eines unbegründeten Folgeantrages auf internationalen Schutz das öffentliche Interesse an der Hintanhaltung von „Schwarzarbeit“ ins Treffen.
25 In diesem Zusammenhang ist aber aus der Begründung des Erkenntnisses nicht nachvollziehbar, ob das Bundesverwaltungsgericht seinen Erwägungen nun eine unrechtmäßige Tätigkeit der Revisionswerberin als Prostituierte oder aber ‑ wie in der Beschwerde vorgebracht und wie durch die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichtes, sie sei als Selbstständige pflichtversichert, nahe liegt ‑ eine Tätigkeit als nach den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen registrierte Prostituierte (sh. § 11 Abs. 2 Geschlechtskrankheitengesetz sowie die aufgrund dieser Ermächtigung erlassene Verordnung über gesundheitliche Vorkehrungen für Personen, die sexuelle Dienstleistungen erbringen) zugrunde legte. Es hätte somit weiterer Feststellungen zur Erwerbstätigkeit der Revisionswerberin, durch die sie ihren Lebensunterhalt bestritt, insbesondere ob (und gegebenenfalls in welchen Zeiträumen) diese Tätigkeit in einer vom Gesetz erlaubten Weise (abgesehen vom Umstand des unrechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet) ausgeübt wurde, bedurft, um beurteilen zu können, ob aufgrund ihres Verhaltens eine solche Beeinträchtigung öffentlicher Interessen gegeben ist, sodass trotz der langen Aufenthaltsdauer die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht unverhältnismäßig ist. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass ein in der Ausübung einer unrechtmäßigen Beschäftigung liegendes Fehlverhalten angesichts einer langen Aufenthaltsdauer in der Gesamtabwägung je nach den Umständen des Einzelfalles nicht überbewertet werden darf (vgl. etwa VwGH 16.10.2012, 2012/18/0062; 12.12.2012, 2012/18/0177, oder auch VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0134).
26 Die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses lässt auch eine Erörterung der Frage vermissen, warum keine Schritte zur Effektuierung der früher erlassenen aufenthaltsbeendenen Maßnahme seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (und auch der zuvor zuständigen Behörde) erkennbar sind (vgl. etwa VwGH 6.4.2020, Ra 2020/20/0055).
27 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Auf das übrige Vorbringen in der Revision war nicht mehr einzugehen.
28 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 20. Dezember 2023
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