VwGH Ko 2023/03/0002

VwGHKo 2023/03/000220.12.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Lehofer und die Hofräte Mag. Nedwed, Mag. Samm, Dr. Faber und Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über den Antrag der Landeshauptfrau von Niederösterreich auf Entscheidung eines Kompetenzkonfliktes zwischen dem Bundesverwaltungsgericht und dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich betreffend ein eisenbahnrechtliches Enteignungsverfahren (mitbeteiligte Parteien: 1. Mag. G M in W, und 2. Ö AG in W, vertreten durch Dr. Andrew P. Scheichl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wipplingerstraße 20/8‑9), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §1
AVG §6
AVG §6 Abs1
AVG §6 Abs2
B-VG Art10 Abs1 Z9
B-VG Art102 Abs2
B-VG Art102 Abs3
B-VG Art130 Abs1
B-VG Art131
B-VG Art131 Abs1
B-VG Art131 Abs2
B-VG Art133 Abs1 Z3
EisbEG 1954 §2
HlG 1989 §6 Abs1
VerfGG 1953 §46 Abs1
VwGG §71
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §18
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §31 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:KO2023030002.K00

 

Spruch:

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich ist zur Entscheidung über die Beschwerde des Erstmitbeteiligten gegen die Bescheide der Landeshauptfrau von Niederösterreich jeweils vom 7. Dezember 2022, RU6‑E‑3179/002‑2022 und RU6‑E‑3179/003‑2022, zuständig.

Der entgegenstehende Spruchpunkt II. des Beschlusses des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 13. März 2023, LVwG‑AV‑427/0002‑2023 und LVwG‑AV‑428/0002‑2023, wird aufgehoben.

Begründung

1 1.1. Mit zwei Bescheiden vom 7. Dezember 2022 räumte die Landeshauptfrau von Niederösterreich an zwei näher bezeichneten, zu 1/4 bzw. 3/20 im Eigentum des Erstmitbeteiligten stehenden Grundstücken jeweils lastenfreies Eigentum zugunsten der Zweitmitbeteiligten ein (Spruchpunkt 1.) und setzte jeweils eine ziffernmäßig bestimmte Entschädigung fest (Spruchpunkt 2.).

2 1.2. Der Erstmitbeteiligte stellte mit Schreiben vom 9. Jänner 2023 Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zur Abfassung und Erhebung von Beschwerden gegen diese beiden Bescheide, die er bei der Landeshauptfrau von Niederösterreich einbrachte. Die Landeshauptfrau legte die Anträge dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich vor. Mit Beschluss dieses Verwaltungsgerichts vom 19. Jänner 2023 wurde den Anträgen nicht Folge gegeben.

3 1.3. Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2023 erhob der Erstmitbeteiligte gegen die beiden Bescheide vom 7. Dezember 2022 ‑ erkennbar nur gegen die Enteignung, nicht jedoch die Höhe der Entschädigung ‑ Beschwerde, die er bei der Landeshauptfrau von Niederösterreich einbrachte. In einem Begleitschreiben zur Beschwerde führte er u.a. Folgendes aus:

„Anbei meine Beschwerde gegen den Bescheid der Landeshauptfrau von Niederösterreich vom 7.12.2022, GZ ... und meine Beschwerde gegen den Bescheid der Landeshauptfrau von Niederösterreich vom 7. Dezember 2022, GZ ... zur Weiterleitung an das zuständige Verwaltungsgericht.

Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es sich damit um eine Angelegenheit der Vollziehung des Bundes handelt, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt wird, und damit das Bundesverwaltungsgericht für Beschwerden gegen Enteignungsbescheide in dieser Rechtssache nach Art 131 Abs 2 B‑VG zuständig ist. ...“

4 In der Beschwerde führte der Erstmitbeteiligte u.a. wie folgt aus:

„Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich ist für das Beschwerdeverfahren ... unzuständig. Meine Beschwerde ist daher von der bescheiderlassenden Behörde als Einbringungsstelle für Rechtsmittel gegen ihren Bescheid an das zuständige Bundesverwaltungsgericht weiterzuleiten. Sollte die bescheiderlassende Behörde gesetzwidrigerweise der unvertretbaren Rechtsansicht folgen und meine Beschwerde wie meinen Verfahrenshilfeantrag vom 9. Jänner 2023 wieder an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich weiterleiten, ist das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich gemäß § 17 VwGVG iVm § 6 AVG verpflichtet, diese ohne unnötigen Aufschub auf Gefahr des Einschreiters an die zuständige Stelle, das Bundesverwaltungsgericht, weiterzuleiten.“

5 Mit Schreiben vom 22. Februar 2023 legte die Landeshauptfrau von Niederösterreich die Beschwerde dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich vor.

6 1.4. Mit Beschluss vom 13. März 2023 trat das Landesverwaltungsgericht die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht ab (Spruchpunk I.), stellte das bei ihm eingeleitete Beschwerdeverfahren ein (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass gegen diesen Beschluss eine ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig sei (Spruchpunkt III.).

7 Begründend führte das Landesverwaltungsgericht aus, es stelle sich die Frage, ob es unabhängig von der Beurteilung der Zuständigkeitsfrage allein auf Grund des Verlangens des Erstmitbeteiligten die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht weiterzuleiten habe.

8 Prozesshandlungen der Parteien seien ausschließlich nach deren objektivem Erklärungswert zu beurteilen. Ob das vom Einschreiter Erklärte Aussicht auf Erfolg habe, spiele dabei keine Rolle, weswegen eine nicht zielführende Eingabe nicht im Wege der Auslegung in eine möglicherweise aussichtsreichere abgeändert werden dürfe.

9 Diesem Grundsatz folgend könne die Eingabe des Erstmitbeteiligten nur so verstanden werden, dass er die Zuständigkeit des Landesverwaltungsgerichts ausschließe und die Entscheidung eines anderen Gerichts verlange. Dieses Begehren dürfe das Landesverwaltungsgericht nicht negieren. Es habe daher das ausdrücklich auf Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht gerichtete Begehren dem zur Entscheidung darüber (allenfalls in Form einer Zurückweisung) zuständigen Gericht weiterzuleiten.

10 Keineswegs werde dadurch das Risiko in Bezug auf die Erlangung einer Sachentscheidung auf den Erstmitbeteiligten überwälzt, fordere das Gesetz doch von ihm nicht, das zuständige Gericht zu bestimmen. Tue er dies dennoch und nehme damit für sich in Anspruch, auch in Bezug auf die Frage der Zuständigkeit zu entscheiden, also gleichsam „Herr des Verfahrens“ zu sein, habe er auch die Folgen zu tragen.

11 Da mit der Weiterleitung das Verfahren beim Landesverwaltungsgericht beendet sei, sei es mittels Beschluss gemäß § 31 Abs. 1 VwGG einzustellen gewesen.

12 Die Revision sei zulässig, weil eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dahingehend vorliege, ob ein Verwaltungsgericht, welchem die Beschwerde trotz eines gegenteiligen Verlangens des Beschwerdeführers vorgelegt werde, diese unabhängig von seiner Beurteilung der Zuständigkeitsfrage dem vom Beschwerdeführer bezeichneten Verwaltungsgericht vorzulegen habe und in diesem Fall mit Verfahrenseinstellung durch revisiblen Beschluss vorgehen müsse. Es wäre auch die Ansicht vertretbar, das Verwaltungsgericht hätte im Fall seiner Zuständigkeit das gegenteilige Vorbringen zu ignorieren, zumal der Beschwerdeführer seine gegenteilige Auffassung durch Revision an den Verwaltungsgerichtshof bzw. Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gelten machen könne.

13 Gegen diesen Beschluss wurde von den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens keine Revision erhoben.

14 1.5. Mit Beschluss vom 17. April 2023 wies das Bundesverwaltungsgericht die ihm vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich weitergeleitete Beschwerde zurück und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

15 Das Bundesverwaltungsgericht führte aus, Bau und Planung von Eisenbahn-Hochleistungsstrecken gehörten zum Kompetenztatbestand „Verkehrswesen“, welches gemäß Art. 10 Abs. 1 Z 9 B‑VG in Gesetzgebung und Vollziehung Bundesssache sei und zu den in Art. 102 Abs. 2 B‑VG genannten Angelegenheiten zähle, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden könnten. Gemäß Art. 102 Abs. 3 B‑VG stehe es dem Bund jedoch frei, eine Vollziehung durch den Landeshauptmann vorzusehen. Davon habe der Gesetzgeber in § 6 Eisenbahn‑Hochleistungsstreckengesetz Gebrauch gemacht. Zuständig für die Erlassung von Enteignungsbescheiden im Zusammenhang mit dem Bau einer Hochleistungsstrecke sei der Landeshauptmann. Die Vollziehung erfolge insoweit in mittelbarer Bundesverwaltung, weswegen der Rechtszug an das Landesverwaltungsgericht gehe (Hinweis auf VwGH 20.3.2018, Ko 2018/03/0001).

16 Wenn die Unzuständigkeit eines Verwaltungsgerichts zweifelhaft und nicht offenkundig sei, habe eine Entscheidung über die Zuständigkeit durch (zurückweisenden) Beschluss zu erfolgen.

17 Auch gegen diesen Beschluss wurde von den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens keine Revision erhoben.

18 1.6. Die Landeshauptfrau von Niederösterreich stellte als belangte Behörde den vorliegenden Antrag auf Entscheidung eines negativen Kompetenzkonfliktes gemäß Art. 133 Abs. 1 Z 3 B‑VG. Begründend führte sie aus, sowohl das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich mit seinem Beschluss vom 13. März 2023 als auch das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Beschluss vom 17. April 2023 hätten klar zum Ausdruck gebracht, dass sie sich in derselben Sache, nämlich zur Entscheidung über die Beschwerde des Erstmitbeteiligten, jeweils für unzuständig erachteten.

19 Beide Mitbeteiligten erstatteten jeweils eine schriftliche Äußerung. Die Verwaltungsgerichte legten jeweils die Akten vor. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wies darauf hin, dass nach seiner Auffassung noch kein negativer Kompetenzkonflikt vorliege. Es teile die im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. April 2023 vertretene Auffassung zur Zuständigkeitsfrage, habe sich aber an die vom Erstmitbeteiligten vorgenommene Gestaltung des Rechtsmittels durch ausdrückliche Bestimmung des zuständigen Gerichts gebunden erachtet, weswegen „keine vom LVwG zu behandelnde Beschwerde vorlag“. Das Bundesverwaltungsgericht verwies auf seine Entscheidungsgründe.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

20 2.1. Gemäß Art. 133 Abs. 1 Z 3 B‑VG erkennt der Verwaltungsgerichtshof (unter anderem) über Kompetenzkonflikte zwischen Verwaltungsgerichten.

21 Gemäß § 71 VwGG sind im Verfahren zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen Verwaltungsgerichten die §§ 43 bis 46, 484951 und 52 VfGG sinngemäß anzuwenden.

22 Nach § 51 VfGG hat das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes über die Kompetenz auch die Aufhebung der diesem Erkenntnis entgegenstehenden behördlichen Akte auszusprechen.

23 2.2. § 2 Eisenbahn-Enteignungsentschädigungsgesetz ‑ EisbEG, BGBl. Nr. 71/1954, lautet (auszugsweise):

„§ 2. (1) Das Enteignungsrecht kann zu einer dauernden oder vorübergehenden Enteignung nur insoweit ausgeübt werden, als es die Herstellung und der Betrieb der Eisenbahn notwendig machen.

(2) Es umfaßt insbesondere das Recht:

1. auf Abtretung von Grundstücken;

...“

24 2.3. § 6 Hochleistungsstreckengesetz ‑ HLG, BGBl. Nr. 135/1989, lautet (auszugsweise):

„§ 6. (1) Der Landeshauptmann hat in einem Enteignungsbescheid (§§ 2 und 3 des Eisenbahnenteignungsgesetzes 1954) für den Bau einer Hochleistungsstrecke zugleich mit Gegenstand und Umfang der Enteignung die Höhe der Entschädigung unter Setzung einer angemessenen Leistungsfrist festzusetzen. Die Höhe der Entschädigung ist auf Grund einer Sachverständigenschätzung nach den Bestimmungen des Eisenbahnenteignungsgesetzes 1954 zu ermitteln. Im Falle eines Übereinkommens über die Höhe der Entschädigung tritt im Enteignungsbescheid an die Stelle der Entscheidung über die Entschädigung die Beurkundung des Übereinkommens. Die Leistungsfrist beginnt mit der Rechtskraft des Enteignungsbescheides.

...“

25 3. Zur Zulässigkeit

26 3.1. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass die Behörde, welche den mit Beschwerde bekämpften Bescheid erlassen hat und daher gemäß § 18 VwGVG Partei des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht ist (belangte Behörde), als beteiligte Partei iSd gemäß § 71 VwGG sinngemäß anzuwendenden § 46 Abs. 1 VfGG den Antrag auf Entscheidung eines verneinenden Kompetenzkonfliktes stellen kann (vgl. VwGH 18.1.2015, Ko 2015/03/0001). Die Landeshauptfrau von Niederösterreich ist daher zur Antragstellung legitimiert.

27 3.2.1. Ein vom Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 1 Z 3 B‑VG zu entscheidender negativer Kompetenzkonflikt setzt jedenfalls voraus, dass beide in Betracht kommenden Gerichte eine Entscheidung in derselben Sache aus dem Grund der Unzuständigkeit abgelehnt haben, wobei diese Voraussetzung allein durch die Weiterleitung der Akten iSd § 6 AVG noch nicht erfüllt wird (vgl. VwGH 19.6.2018, Ko 2018/03/0002, mwN).

28 Nach der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ungeachtet der durch die subsidiäre (sinngemäße) Anwendbarkeit des § 6 AVG auch den Verwaltungsgerichten eröffneten Möglichkeit, Anbringen, zu deren Behandlung sie nicht zuständig sind, an die zuständige Stelle ‑ die auch ein anderes sachlich oder örtlich zuständiges Verwaltungsgericht sein kann ‑ durch verfahrensleitenden Beschluss im Sinne des § 31 Abs. 2 VwGVG weiterzuleiten, jedenfalls dann, wenn eine Unzuständigkeit eines Verwaltungsgerichts zweifelhaft und nicht offenkundig ist, eine Entscheidung über die Zuständigkeit in der in den Verfahrensgesetzen vorgesehenen Form (Beschluss über die Zurückweisung und Unzuständigkeit oder Erkenntnis in der Sache bzw. Zurückweisung aus anderen Gründen oder Einstellung unter Bejahung der Zuständigkeit) zu treffen (vgl. VwGH 18.2.2015, Ko 2015/03/0001, mwN; 31.10.2017, Ko 2017/03/0004).

29 3.2.2. Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass das Bundesverwaltungsgericht seine Zuständigkeit förmlich abgelehnt hat. Strittig ist hingegen, ob eine solche Ablehnung der eigenen Zuständigkeit auch durch den Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich erfolgte. Die antragstellende Landeshauptfrau bejaht dies, die Zweitmitbeteiligte und das Landesverwaltungsgericht selbst in seiner Stellungnahme aus Anlass der Aktenvorlage verneinen es.

30 Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat in seinem Beschluss nicht nur die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet (Spruchpunkt I.), sondern auch das bei ihm „eingeleitete Beschwerdeverfahren ... eingestellt“ (Spruchpunkt II.). Dabei ging es davon aus, der Revisionswerber habe in seiner Beschwerde die Zuständigkeit des Landesverwaltungsgerichts ausdrücklich ausgeschlossen und die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verlangt. Es habe daher die Beschwerde lediglich an das Bundesverwaltungsgericht weiterzuleiten gehabt, womit das Beschwerdeverfahren beendet und mit Beschluss gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG einzustellen gewesen sei.

31 Das Landesverwaltungsgericht hat damit zwar nach der Formulierung seines Spruchs keinen förmlichen Beschluss über die Zurückweisung der Beschwerde wegen Unzuständigkeit gefasst. Es ist in die Prüfung seiner Zuständigkeit deswegen nicht eingetreten, weil es sich daran durch das Beschwerdevorbringen, welches die Zuständigkeit eines anderen Verwaltungsgerichtes behauptete, gehindert sah. Es kann für die Frage der Zulässigkeit des vorliegenden Antrags nach Art. 133 Abs. 1 Z 3 B‑VG dahinstehen, ob diese Vorgangsweise rechtmäßig war (vgl. dazu aber noch unten Pkt. 4.3.). Das Landesverwaltungsgericht ist nämlich, wie sich aus Spruchunkt II. seines Beschlusses unmissverständlich ergibt („Das ... eingeleitete Beschwerdeverfahren wird eingestellt.“), in die Behandlung der ihm vorliegenden Beschwerde selbst eingetreten, nur um das Beschwerdeverfahren ‑ nach Weiterleitung der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Spruchpunk I.) ‑ wieder förmlich zu beenden (vgl. zur Beendigung des Beschwerdeverfahrens durch Einstellung VwGH 29.4.2015, Fr 2014/20/0047). Damit hat es aber zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht als zur Entscheidung der ihm vorliegenden Beschwerde zuständig erachtete, was ‑ aus dem Blickwinkel eines Verfahrens nach Art. 133 Abs. 1 Z 3 B‑VG ‑ einer förmlichen Ablehnung seiner Zuständigkeit gleichkommt.

32 3.3. Der Antrag ist daher zulässig.

33 4. In der Sache

34 4.1. Die Zuständigkeiten des Bundesverwaltungsgerichts bzw. der Verwaltungsgerichte der Länder ergeben sich unmittelbar aus Art. 131 Abs. 1 und 2 B‑VG, sofern nicht einfachgesetzlich eine Zuständigkeit des einen Gerichts oder der anderen Gerichte vorgesehen ist. Dies ist in den hier einschlägigen eisenbahnrechtlichen Bestimmungen nicht der Fall.

35 Gemäß Art. 131 Abs. 2 erster Satz B‑VG erkennt das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B‑VG in Rechtssachen in Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden. Angelegenheiten, die in mittelbarer Bundesverwaltung, also durch den Landeshauptmann und die ihm unterstellten Landesbehörden vollzogen werden, fallen gemäß Art. 131 Abs. 1 B‑VG in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte der Länder (vgl. statt vieler VwGH 20.3.2018, Ko 2018/03/0001, mwN).

36 4.2.1. Die Beschwerde des Erstmitbeteiligten richtet sich gegen zwei Bescheide der Landeshauptfrau von Niederösterreich, mit denen gemäß §§ 2 und 6 Abs. 1 Hochleistungsstreckengesetz ‑ HlG iVm. § 2 Abs. 2 Z 1 Eisenbahn‑Enteignungsentschädigungsgesetz ‑ EisbEG an im Eigentum des Erstmitbeteiligten stehenden Liegenschaften das lastenfreie Eigentum zugunsten der Zweitmitbeteiligten eingeräumt wurde.

37 4.2.2. Der Erstmitbeteiligte bestreitet in seiner Stellungnahme die Zuständigkeit der Landeshauptfrau zur Erlassung der Enteignungsbescheide auf Grundlage der herangezogenen gesetzlichen Bestimmungen. Zuständig sei vielmehr gemäß § 11 Abs. 2 EisbEG die für die Erteilung der eisenbahnrechtlichen Baugenehmigung zuständige Behörde, das sei für Hochleistungsstrecken gemäß § 4 Abs. 1 Z 1 iVm. § 12 Abs. 2 Eisenbahngesetz 1957 ‑ EisbG der zuständige Bundesminister. Richtigerweise müsse die Vollziehung daher in unmittelbarer Bundesverwaltung erfolgen, weswegen über Beschwerden das Bundesverwaltungsgericht zu entscheiden habe.

38 Dieses Vorbringen kann hier jedoch dahinstehen. Die Zuständigkeit eines Verwaltungsgerichts zur Entscheidung über eine Beschwerde bestimmt sich nämlich danach, welche Verwaltungsbehörde den bekämpften Bescheid tatsächlich erlassen hat, und nicht danach, welche Verwaltungsbehörde richtigerweise zur Bescheiderlassung zuständig gewesen wäre. Eine allfällige Unzuständigkeit der bescheiderlassenden Verwaltungsbehörde hat das Verwaltungsgericht jedoch im Beschwerdeverfahren aufzugreifen und den bekämpften Bescheid zu beheben (vgl. etwa VwGH 21.10.2020, Ra 2018/11/0205, mwN).

39 Auch im vorliegenden Verfahren nach Art. 133 Abs. 1 Z 3 B‑VG ist für die Bestimmung des zuständigen Verwaltungsgerichts daher von den beiden in Beschwerde gezogenen, auf §§ 2 und 6 Abs. 1 HlG iVm. § 2 Abs. 2 EisbEG gestützten Enteignungsbescheiden der Landeshauptfrau von Niederösterreich auszugehen.

40 4.2.3. § 6 Abs. 1 HlG und § 2 EisbEG regeln die Enteignung für den Bau einer Hochleistungsstrecke. Regelungen über Planung und Bau von Hochleistungsstrecken zählen zum Kompetenztatbestand „Verkehrswesen bezüglich der Eisenbahnen“ (Art. 10 Abs. 1 Z 9 B‑VG; vgl. Wallnöfer, Art 10 Abs 1 Z 9 B‑VG, in Kneihs/Lienbacher [Hrsg], Rill‑Schäffer‑Kommentar Bundesverfassungsrecht, 9. Lfg 2012, Rz 22, mwN: „umfassende Fachplanungs‑ und Sonderbaurechtskompetenz des Bundes“). Die Zuständigkeit für Enteignungen folgt der Zuständigkeit für die jeweilige (kompetenzrechtliche) Angelegenheit (vgl. grundlegend VfSlg. 2217/1951). Die Enteignung für den Bau einer Hochleistungsstrecke zählt daher zum Kompetenztatbestand „Verkehrswesen bezüglich der Eisenbahnen“ (Art. 10 Abs. 1 Z 9 B‑VG).

41 Wie der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 20. März 2018, Ko 2018/03/0001, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ausgeführt hat, zählt das „Verkehrswesen bezüglich der Eisenbahnen“ zu den in Art. 102 Abs. 2 B‑VG genannten Angelegenheiten, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden können. Gemäß Art. 102 Abs. 3 B‑VG kann jedoch in einer solchen Angelegenheit die Vollziehung nur für einzelne Bereiche unmittelbar Bundesbehörden, für andere Bereiche aber dem Landeshauptmann übertragen werden, wodurch die zuletzt genannte Angelegenheit in diesem Umfang eine solche der mittelbaren Bundesverwaltung wird.

42 Die Erlassung der gegenständlichen Enteignungsbescheide zum Bau einer Hochleistungsstrecke durch die Landeshauptfrau von Niederösterreich erfolgte demnach im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung. Zuständig zur Entscheidung über Beschwerden gegen solche Bescheide sind gemäß Art. 131 Abs. 1 B‑VG die Verwaltungsgerichte der Länder.

43 4.3. Im vorliegenden Fall ist noch die Besonderheit in den Blick zu nehmen, dass der Erstmitbeteiligte in seiner Beschwerde die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts behauptete und jene des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich bestritt. Die belangte Behörde legte die bei ihr eingebrachte Beschwerde ungeachtet dessen dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich vor. Das Landesverwaltungsgericht lehnte im Hinblick auf dieses Parteivorbringen seine Zuständigkeit zur Entscheidung (wie oben Pkt. 3.2.2. dargelegt) im Ergebnis ab.

44 Dass es sich im vorliegenden Fall nach Inhalt und Form um eine Beschwerde handelte, welche von der belangten Behörde bzw. dem zuständigen Verwaltungsgericht grundsätzlich in Behandlung zu ziehen war und daher einen Erledigungsanspruch des Erstmitbeteiligten begründete, ist im Verfahren unstrittig geblieben.

45 Gemäß § 6 Abs. 1 AVG (iVm. § 17 VwGVG) hat die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht seine sachliche und örtliche Zuständigkeit von Amts wegen wahrzunehmen. Die Zuständigkeit der Behörden richtet sich gemäß § 1 AVG nach den Vorschriften über ihren Wirkungsbereich und nach den Verwaltungsvorschriften, bei den Verwaltungsgerichten ‑ wie ausgeführt ‑ nach Art. 131 B‑VG. Gemäß § 6 Abs. 2 AVG (iVm § 17 VwGVG) kann die Zuständigkeit der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts durch Vereinbarung der Parteien weder begründet noch geändert werden.

46 Die Partei kann auch nicht dadurch die Zuständigkeit einer Behörde bzw. eines Verwaltungsgerichts begründen, dass sie einen Antrag bei einer unzuständigen Behörde einbringt bzw. eine Beschwerde an ein unzuständiges Verwaltungsgericht richtet und deren bzw. dessen Zuständigkeit behauptet. Dadurch wird diese Behörde bzw. dieses Verwaltungsgericht niemals zur Entscheidung in der Sache, sondern allenfalls dafür zuständig, den Antrag bzw. die Beschwerde mangels Zuständigkeit zurückzuweisen (vgl. VwGH 27.11.2008, 2008/07/0196; Hengstschläger/Leeb, AVG I2, 2014, § 6 AVG, Rz 6).

47 Andererseits verliert eine nach der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung zuständige Behörde bzw. ein zuständiges Verwaltungsgericht seine Zuständigkeit nicht dadurch, dass die Partei diese Zuständigkeit (in welcher Form auch immer) bestreitet. Aus § 6 Abs. 2 AVG ergibt sich, dass das Recht auf Entscheidung durch die zuständige Behörde bzw. das zuständige Verwaltungsgericht unverzichtbar ist (vgl. VwGH 4.7.1968, 1438/66 = VwSlg. 7385 A; 31.1.2007, 2005/08/0176 = VwSlg. 17.116 A). Jede nach dem Gesetz für zuständig erklärte Behörde hat ihrerseits die Pflicht, die ihr eingeräumten Befugnisse auszuüben; niemand, auch nicht eine Partei des Verfahrens, ist berechtigt, ihr diese Zuständigkeit abzusprechen (vgl. VwGH 21.11.1969, 1843/67 = VwSlg. 7669 A).

48 Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, dem die Beschwerde des Erstmitbeteiligten von der Landeshauptfrau von Niederösterreich als belangter Behörde vorgelegt wurde, ungeachtet des Vorbringens in der Beschwerde, mit welchem seine Zuständigkeit bestritten und die Weiterleitung der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht beantragt wurde, in die Behandlung der Beschwerde eintreten und über diese entscheiden musste.

49 5. Für die Entscheidung über die Beschwerde des Erstmitbeteiligten war nach dem Gesagten das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich zuständig.

50 Der entgegenstehende Spruchpunkt II. des Beschlusses des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 13. März 2023 war gemäß § 71 VwGG iVm. § 51 VfGG aufzuheben.

Wien, am 20. Dezember 2023

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