VwGH Ra 2022/18/0086

VwGHRa 2022/18/00863.1.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revisionen der revisionswerbenden Parteien 1. N D, 2. Z O, und 3. A O, alle in W, alle vertreten durch Mag. Moriz Frech, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Rooseveltplatz 4‑5/8, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 25. Februar 2022, 1. W119 2189558‑1/15E, 2. W119 2189561‑1/16E und 3. W119 2189554‑1/21E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art2
MRK Art3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022180086.L00

 

Spruch:

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind staatenlose Bidun aus Kuwait. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der Zweitrevisionswerberin und des Drittrevisionswerbers, die beide im Zeitpunkt der Asylantragstellung noch minderjährig waren.

2 Am 10. Februar 2016 beantragte die Erstrevisionswerberin für sich, die Zweitrevisionswerberin und den Drittrevisionswerber internationalen Schutz. Die revisionswerbenden Parteien brachten zusammengefasst vor, der Drittrevisionswerber sei aufgrund einer ihm fälschlicherweise unterstellten Teilnahme an einer Demonstration Mitte des Jahres 2014 festgenommen, für sechs Monate inhaftiert und gefoltert worden. In dieser Zeit sei die Erstrevisionswerberin drei Mal von Polizeibeamten misshandelt und vergewaltigt worden. Im Jahr 2016 seien die revisionswerbenden Parteien mit Hilfe eines Freundes, der den Drittrevisionswerber nach seiner Freilassung auch versteckt habe, aus Kuwait geflohen. Der Drittrevisionswerber brachte weiter vor, keinen Nachweis über seine Staatsangehörigkeit sowie keine Geburtsurkunde zu besitzen. Er habe nicht in die Schule gehen können, keinen Zugang zu medizinischer Versorgung gehabt und immer zu Hause bleiben müssen, weil er sonst unter Umständen nach seinem Ausweis gefragt und in Ermangelung eines solchen vier bis fünf Tage inhaftiert worden wäre.

3 Mit Bescheiden vom 9. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten ab. Der Status von subsidiär Schutzberechtigten wurde ihnen jedoch zuerkannt und es wurden ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen erteilt.

4 Begründend führte das BFA aus, dass die revisionswerbenden Parteien der Gruppe der Bidun angehören würden. Diese würden in allen Lebensbereichen, wie etwa Arbeitswelt, Bildung, Unterkunft, soziale Interaktion und Gesundheitsversorgung, diskriminiert werden. Die revisionswerbenden Parteien würden im Herkunftsstaat über keine „Rechtsstellung“ verfügen, ihren Aufenthalt zu legalisieren, und sie würden deshalb bei Rückkehr in den Herkunftsstaat in ihren durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten verletzt.

5 Die gegen den abweisenden Teil der Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit den angefochtenen Erkenntnissen ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

6 Das BVwG stellte fest, dass die revisionswerbenden Parteien staatenlose Bidun seien. Sie hätten nicht glaubhaft machen können, im Herkunftsland aktuell und persönlich in der notwendigen Intensität von Verfolgung bedroht zu sein.

7 Zur Lage von Bidun traf das BVwG Länderfeststellungen gestützt auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Kuwait in der Gesamtaktualisierung vom 29. März 2019.

8 Beweiswürdigend erachtete das BVwG das Fluchtvorbringen in einer Gesamtschau als äußerst vage, widersprüchlich, gesteigert, nicht plausibel und somit insgesamt als nicht glaubhaft.

9 Rechtlich folgerte das BVwG im Hinblick auf die Erst‑ und Zweitrevisionswerberin, die vorgebrachten Diskriminierungen als Bidun beziehungsweise Staatenlose würden keine asylrechtlich relevante Eingriffsintensität erreichen, zumal keine diesbezüglichen persönlichen Übergriffe glaubhaft gemacht werden hätten können. Betreffend den Drittrevisionswerber stellte es in diesem Zusammenhang überhaupt keine Überlegungen an.

10 Dagegen wenden sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, die u.a. geltend machen, das Gericht habe sich nicht ausreichend mit der Eigenschaft der revisionswerbenden Parteien als Bidun auseinandergesetzt.

11 Das BFA hat zu diesen Revisionen keine Revisionsbeantwortung erstattet.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13 Die Revisionen sind zulässig und begründet.

14 Das BFA hat den revisionswerbenden Parteien teilrechtskräftig subsidiären Schutz gewährt, weil ihnen bei Rückkehr in den Herkunftsstaat wegen der Zugehörigkeit zur Gruppe der (staatenlosen) Bidun eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte drohen würde. Dies legt einen Konnex des drohenden ernsthaften Schadens mit einem möglichen Konventionsgrund (etwa Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) nahe, den auch das BVwG nicht ausdrücklich in Zweifel zieht.

15 Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, dass das BVwG eine aktuelle, landesweite Verfolgung der revisionswerbenden Parteien in seiner rechtlichen Beurteilung für nicht glaubhaft erachtet. Insbesondere erweist sich das rechtliche Argument, die vorgebrachten Diskriminierungen als Bidun erreichten keine asylrechtlich relevante Eingriffsintensität, zumal keine diesbezüglichen persönlichen Übergriffe glaubhaft gemacht werden konnten, mit Blick auf die den revisionswerbenden Parteien drohende teilrechtskräftig festgestellte Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK als nicht haltbar (vgl. in diesem Sinne auch VwGH 27.9.2021, Ra 2021/18/0278).

16 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

17 Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. Jänner 2023

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte