VwGH Ra 2021/18/0122

VwGHRa 2021/18/012228.3.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin und die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Februar 2021, G305 2188858‑1/39E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: A A, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, Promenade 3), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art2
MRK Art3
VerfGG 1953 §87 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021180122.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger aus der Provinz Babel, stellte am 31. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Das revisionswerbende Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 2. Februar 2018 zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligen keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005; Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).

3 Mit Erkenntnis vom 19. Oktober 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen vom Mitbeteiligten erhobene Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig.

4 Der Verfassungsgerichtshof gab der gegen dieses Erkenntnis des BVwG vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde mit seinem Erkenntnis vom 26. Februar 2019, E 4766/2018‑14, hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der rechtlich darauf aufbauenden Spruchpunkte statt und behob das Erkenntnis des BVwG in diesem Umfang. Im übrigen Anfechtungsumfang (Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten) lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

5 Begründend führte der Verfassungsgerichtshof aus, das BVwG habe Willkür geübt, indem es bloß pauschale Aussagen zum Nichtbestehen von innerstaatlichen Fluchtalternativen getroffen habe, die sich vor dem Hintergrund der im angefochtenen Erkenntnis selbst dargestellten Berichtslage und widersprüchlicher Feststellungen als unzureichend erwiesen. Die Feststellungen ließen keine Beurteilung zu, ob dem Mitbeteiligten eine Rückkehr in jene Region, aus der er stamme, möglich sei bzw. ob eine konkrete innerstaatliche Fluchtalternative bestehe, die ihm eine Einreise und einen Aufenthalt in einer Weise, die den Anforderungen des Art. 3 EMRK Rechnung trage, ermögliche. Eine Auseinandersetzung mit der Sicherheits‑ und Versorgungslage in der als Fluchtalternative genannten Provinz Diyala und der Situation, in der sich der Mitbeteiligte dort wiederfinden würde, sei unterblieben, wäre jedoch angezeigt gewesen, zumal im Rahmen der Feststellungen festgehalten werde, dass Diyala „weiterhin eine der instabilsten Provinzen“ im Irak sei. Mit den Möglichkeiten des Mitbeteiligten, in diese Provinz zu gelangen, habe sich das BVwG nicht auseinandergesetzt. Vielmehr habe es im Widerspruch zur Feststellung, wonach eine „Einreise in die drei Provinzen der kurdischen Autonomieregion [...] aktuell nur auf dem Landweg möglich“ sei, darauf abgestellt, dass der Mitbeteiligte „problemlos“ über den Luftweg nach Erbil gelangen könne. Die Erwägungen zur Möglichkeit der Rückkehr in den Heimatbezirk des Mitbeteiligten, die Provinz Babel, hätten sich im Verweis auf den dort befindlichen landwirtschaftlichen Besitz der Familie erschöpft. Erwägungen zur Sicherheits‑ und Versorgungslage in diesem Gebiet und zur Situation, in der er sich in der Herkunftsprovinz konkret wiederfinden würde, hätten gefehlt, obwohl das BVwG festgestellt habe, dass es aktuellen Reisewarnungen zufolge in dieser Provinz „besonders gefährlich“ sei. Zur Fluchtalternative Bagdad hätten sich die Ausführungen des BVwG auf den schlichten Hinweis beschränkt, es stünde dem Mitbeteiligten frei, sich in den sunnitisch besiedelten Stadtteilen Bagdads niederzulassen. Eine nähere Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen, die eine Person wie der Mitbeteiligte dort vorfinden würde, fehle, obwohl das BVwG festgestellt habe, dass es für eine Niederlassungsbewilligung, von der auch die Möglichkeit, Arbeit zu finden, abhängig sei, notwendig sein könne, einen Bürgen vorzuweisen.

6 Im fortgesetzten Verfahren erließ das BVwG zunächst das Erkenntnis vom 10. August 2020, mit dem es aussprach, der Bescheid des BFA vom 2. Februar 2018 werde „in dem mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 26.02.2019 [...] aufgezeigten Umfang aufgehoben und die darin vertretene Rechtsansicht hergestellt“. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.

7 Dieses Erkenntnis hob der Verwaltungsgerichtshof aufgrund der dagegen vom BFA erhobenen außerordentlichen Amtsrevision mit dem Erkenntnis vom 4. Jänner 2021, Ra 2020/18/0406, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf, weil der Spruch dieses Erkenntnisses dem Gebot der hinreichenden Bestimmtheit nicht entsprochen habe. Außerdem hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, das BVwG sei mit diesem Erkenntnis dem klaren Auftrag des Verfassungsgerichtshofes, sich widerspruchsfrei mit der aktuellen Lage in den genannten Regionen auseinanderzusetzen und diese in der Begründung des Erkenntnisses mit der individuellen Situation des Mitbeteiligten in Beziehung zu setzen, nicht nachgekommen. Im fortgesetzten Verfahren werde das BVwG daher unter Bindung an die Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes die genannten Begründungsmängel zu beheben und neuerlich zu erkennen haben.

8 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis erkannte das BVwG dem Mitbeteiligten den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zu, erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung und hob die Spruchpunkte III. bis VI. des Bescheides des BFA vom 2. Februar 2018 ersatzlos auf. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.

9 In der rechtlichen Beurteilung hielt das BVwG fest, die „höchstgerichtlichen Ausführungen“ könnten nur in der Weise aufgefasst werden, dass dem Mitbeteiligten subsidiärer Schutz zu erteilen sei. Unter Berücksichtigung der „vom Verfassungsgerichtshof ausgeführten Gründe“ habe das BVwG davon auszugehen, dass

„im gegenständlichen Anlassfall nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass der [Mitbeteiligte] im Falle seiner Rückkehr Gefahr laufen würde, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK unterworfen zu werden [...]. Die letzte bekannte Verwandte des [Mitbeteiligten] in Form einer Tante mütterlicherseits ist im Jahr 2018 verstorben und die Heimatregion durchgehend von Milizen genutzt, ohne dass es zivile Standorte gäbe. Die in den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Konstatierungen zur Situation in der Provinz Babel, hier speziell der Herkunftsregion des [Mitbeteiligten,] die derzeit in ihrer Gesamtheit als Basis des PMF [Anm: Popular Mobilisation Forces, schiitische Milizen] dient und von Zivilisten geräumt ist, verdeutlichen zudem, dass bereits in Hinblick auf die Gewährung von subsidiärem Schutz gemäß § 8 AsylG den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs zu folgen und dem [Mitbeteiligten] der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist.“

10 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die im Zusammenhang mit der Darlegung ihrer Zulässigkeit einräumt, es sei vertretbar, dass das BVwG eine Rückkehr des Mitbeteiligten als Sunnit in seine Herkunftsregion, die vorwiegend von schiitischen Milizen kontrolliert werde, ohne reales Risiko der Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausschließe. Das BVwG sei jedoch insoweit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, als es trotz entsprechender Ermittlungsaufträge des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes in den letzten beiden Verfahrensgängen abermals nicht hinreichend geprüft habe, ob dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative in Erbil oder Bagdad zumutbar sei, was angesichts der derzeitigen Lage dort für den alleinstehenden leistungsfähigen Mitbeteiligten anzunehmen sei.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revision, zu der der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12 Die Revision ist zulässig und begründet.

13 Wenn der Verfassungsgerichtshof einer Beschwerde stattgegeben hat, sind nach § 87 Abs. 2 VfGG die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsbehörden verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Auf Grundlage der im § 87 Abs. 2 VfGG statuierten Bindungswirkung ist das Verwaltungsgericht verhalten, im fortgesetzten Verfahren entsprechend der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes vorzugehen. Da § 87 Abs. 2 VfGG kein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht einräumt, hat der Verwaltungsgerichtshof zu prüfen, ob die vom Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren erlassene Entscheidung dem gemäß § 87 Abs. 2 VfGG erteilten Auftrag entspricht (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2018/19/0241, mwN).

14 Der Verfassungsgerichtshof hob das im ersten Rechtsgang ergangene Erkenntnis des BVwG mit seinem Erkenntnis vom 26. Februar 2019 mit der Begründung auf, dass sich das BVwG nicht ausreichend und widerspruchsfrei mit der Lage in der Herkunftsregion des Mitbeteiligten sowie in bestimmten Regionen, die als innerstaatliche Fluchtalternativen in Betracht gezogen worden seien, auseinandergesetzt habe. Das BVwG habe keine Feststellungen zur Sicherheits‑ und Versorgungslage im Herkunftsort des Mitbeteiligten in der Provinz Babel getroffen. Darüber hinaus habe das BVwG ‑ im Widerspruch zu den getroffenen Länderfeststellungen ‑ erwogen, dass der Mitbeteiligte „problemlos“ über den Luftweg nach Erbil gelangen und dort eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen könne. Hinsichtlich der weiters als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Stadt Bagdad habe das BVwG eine Auseinandersetzung damit vermissen lassen, dass nach den Feststellungen für gewisse Tätigkeiten, etwa die Arbeitsaufnahme, die Notwendigkeit eines Bürgen bestehen könne. Der Verfassungsgerichtshof zeigte also mehrere konkrete Mängel des Erkenntnisses des BVwG im ersten Rechtsgang auf und trug dem BVwG deren Behebung auf.

15 Wie bereits im zweiten Rechtsgang (vgl. VwGH 4.1.2021, Ra 2020/18/0406) gelang es dem BVwG jedoch auch im nunmehr angefochtenen Erkenntnis, somit im dritten Rechtsgang, nicht, den Aufträgen des Verfassungsgerichtshofes gerecht zu werden:

16 Das BVwG traf zwar einige Feststellungen zur Lage in den Regionen Babel, Kurdistan (Erbil) und Bagdad. Indem es allerdings in der rechtlichen Beurteilung explizit und zentral darauf abstellte, die „höchstgerichtlichen Ausführungen“ könnten nur in der Weise aufgefasst werden, dass dem Mitbeteiligten subsidiärer Schutz zu erteilen sei, verkannte das BVwG abermals, dass die aufhebende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes im ersten Rechtsgang keineswegs dahingehend zu verstehen war, dass dem Mitbeteiligten zwingend der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen wäre. Der Verfassungsgerichtshof zeigte vielmehr konkrete Begründungsmängel der Entscheidung des BVwG im ersten Rechtsgang auf und trug dem Verwaltungsgericht deren Behebung auf, nämlich eine widerspruchsfreie Auseinandersetzung mit der aktuellen Lage in der Herkunftsregion einerseits (diesbezüglich geht das amtsrevisionswerbende BFA nunmehr davon aus, das angefochtene Erkenntnis sei im Ergebnis vertretbar), jedoch andererseits auch in den als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht gezogenen Gebieten, sowie ‑ vor dem Hintergrund solcher Feststellungen ‑ die rechtliche Prüfung der Möglichkeit der Rückkehr in die Herkunftsregion bzw. der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative ohne reales Risiko der Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte (vgl. grundlegend zur innerstaatlichen Fluchtalternative VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001). Eine dementsprechende Begründung für die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist dem angefochtenen Erkenntnis nicht zu entnehmen.

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 28. März 2023

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