Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
VerfGG 1953 §87 Abs2
VwGVG 2014 §24
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018190241.L00
Spruch:
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen Spruchpunk A.III. (Zurückweisung des Antrags auf einstweilige Anordnung nach Unionsrecht auf Veranlassung der Ermöglichung der Wiedereinreise als unzulässig) richtet, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, schiitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara aus der Provinz Ghazni, stellte am 22. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachte er vor, er habe Afghanistan aus Angst vor dem Krieg verlassen bzw. er sei von den Taliban entführt, misshandelt und mit dem Tod bedroht worden.
2 Mit Bescheid vom 25. Juli 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
3 Mit Erkenntnis vom 16. Dezember 2016 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Begründend führte das BVwG hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aus, dass zwar eine Rückkehr in seine Heimatprovinz auf Grund der Sicherheitslage mit einer ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben verbunden sein könnte und daher nicht zumutbar sei, dem Revisionswerber jedoch in Kabul eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe.
4 Am 29. März 2017 wurde der Revisionswerber nach Afghanistan abgeschoben.
5 Mit Erkenntnis vom 22. September 2017, E 240/2017-21, hob der Verfassungsgerichtshof das Erkenntnis des BVwG vom 16. Dezember 2016 wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf. Begründend führte der Verfassungsgerichtshof - in Bezug auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten - aus, die Annahme, der Revisionswerber könne ohne soziales Netzwerk nach Kabul zurückkehren, sei nicht nachvollziehbar. Das BVwG habe es unterlassen, über die allgemeinen Länderfeststellungen hinaus zur Sicherheitslage in Afghanistan und in Kabul im Besonderen, die auch die Behauptung, dass zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG die Sicherheitslage in Kabul vergleichsweise sicher und stabil sei, nicht stützten, einzelfallbezogene Ermittlungen durchzuführen und Feststellungen zu treffen.
6 Im fortgesetzten Verfahren ergänzte der Revisionswerber mit Schriftsatz vom 21. November 2017 sein Vorbringen. Der Revisionswerber wandte sich darin ausführlich gegen verschiedene Aspekte der Beweiswürdigung des BFA in Bezug auf sein Fluchtvorbringen, behauptete eine Gefährdung auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und bestritt die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, da er über keine Tazkira verfüge sowie im Hinblick auf die dortige Versorgungslage. Er regte an, zu Fragen der innerstaatlichen Fluchtalternative eine Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV beim EuGH zu beantragen, und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Weiters stellte der Revisionswerber beim BVwG den Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung nach Unionsrecht auf Veranlassung der Ermöglichung der Wiedereinreise, da seine Anwesenheit in der mündlichen Verhandlung zur Wahrung seiner Rechte nach Art. 18 und 47 GRC erforderlich und dringlich sei. Eine solche Anordnung sei zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für seine Interessen bereits vor der Entscheidung in der Hauptsache, seinem Antrag auf internationalen Schutz, zu erlassen, um ihre Wirkung entfalten zu können.
7 Mit Verfügung vom 4. Dezember 2017 übermittelte das BVwG dem Revisionswerber aktuelle Länderberichte zwecks Wahrung des Parteiengehörs. Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2017 nahm der Revisionswerber unter Anführung verschiedener Quellen näher zum Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative und zur Situation der Hazara Stellung und wiederholte seine bisherigen Anträge.
8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde des Revisionswerbers abermals als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.), stellte gemäß § 21 Abs. 5 BFA-VG fest, dass die "Anordnung zur Außerlandesbringung" zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides rechtmäßig war (Spruchpunkt A.II.), und wies den Antrag auf einstweilige Anordnung nach Unionsrecht auf Veranlassung der Ermöglichung der Wiedereinreise als unzulässig zurück (Spruchpunkt A.III.). Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig (Spruchpunkt B.).
9 Begründend führte das BVwG unter anderem aus, das BFA habe das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers zu Recht als nicht glaubhaft gewürdigt. Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Ghazni sei im Hinblick auf die dortige Sicherheitslage nicht zumutbar. Dem Revisionswerber stehe aber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul offen. Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG entfallen können. Der maßgebliche Sachverhalt sei aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen und in der Beschwerde nicht substantiiert bestritten worden. Der Antrag auf einstweilige Anordnung betreffend die Wiedereinreise des Revisionswerbers sei als unzulässig zurückzuweisen, weil ein solcher Antrag "gesetzlich nicht vorgesehen" sei.
10 Mit Beschluss vom 11. Juni 2018, E 1656/2018-5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis erhobenen Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 1 B-VG ab. Mit Beschluss vom 5. Juli 2018, E 1656/2018-7, trat der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:
12 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, das BVwG habe die Bindungswirkung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 22. September 2017 in Bezug auf das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative missachtet. Auf das Beschwerdevorbringen zur individuellen Unzumutbarkeit einer Neuansiedlung in Kabul gehe das angefochtene Erkenntnis nicht ein. Das BVwG habe sich mit den vom Revisionswerber vorgebrachten Fluchtgründen nicht weiter befasst, obwohl der Revisionswerber die Beweiswürdigung substantiell bestritten habe. Im Hinblick auf die mangelhafte Beweiswürdigung hätte die beantragte mündliche Verhandlung durchgeführt werden müssen. Die Zurückweisung des Antrags auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung nach Unionsrecht zur Ermöglichung der Wiedereinreise zwecks persönlicher Teilnahme am fortgesetzten Asylverfahren verletze den Revisionswerber in seinen "durch Art. 18 und 47 GRC" bzw. die Rechtsprechung des EuGH zur Gebotenheit einstweiligen Rechtsschutzes garantierten Rechten.
Zur einstweiligen Anordnung nach Unionsrecht 13 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes
zu § 28 Abs. 3 VwGG hat ein Revisionswerber einerseits konkret auf die vorliegende Rechtssache bezogen aufzuzeigen, welche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung der Verwaltungsgerichtshof in einer Entscheidung über die Revision zu lösen hätte, und andererseits konkret darzulegen, in welchen Punkten die angefochtene Entscheidung von welcher Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht bzw. welche Rechtsfrage der Verwaltungsgerichtshof uneinheitlich beantwortet hat oder dass dazu Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes überhaupt fehlt (vgl. etwa VwGH 23.1.2019, Ra 2018/19/0580; mwN).
14 Diesen Anforderungen wird die Revision, die in der Zulassungsbegründung lediglich allgemein die Verletzung näher genannter Vorschriften des Unionsrechts behauptet, aber nicht konkret auf die vorliegende Rechtssache bezogen darlegt, von welcher Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung das rechtliche Schicksal der Revision abhängt bzw. welche derartige Rechtsfrage der Verwaltungsgerichtshof in einer Entscheidung über die Revision zu lösen hätte, nicht gerecht.
Zur Bindungswirkung des aufhebenden Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes im fortgesetzten Verfahren
15 Insoweit sich die Revision auf die Bindungswirkung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 22. September 2017 beruft, ist auf Folgendes hinzuweisen: Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass nach § 87 Abs. 2 VfGG, wenn der Verfassungsgerichtshof einer Beschwerde stattgegeben hat, die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsbehörden verpflichtet sind, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Auf Grundlage der im § 87 Abs. 2 VfGG statuierten Bindungswirkung war das Verwaltungsgericht somit verhalten, im fortgesetzten Verfahren entsprechend der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes vorzugehen. Da § 87 Abs. 2 VfGG kein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht einräumt, hat der Verwaltungsgerichtshof zu prüfen, ob die vom Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren erlassene Entscheidung dem gemäß § 87 Abs. 2 VfGG erteilten Auftrag entspricht (VwGH 6.7.2016, Ra 2016/01/0008, mwN).
16 Entgegen dem Vorbringen der Revision hat das BVwG in Entsprechung des genannten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes im angefochtenen Erkenntnis aktuelle Feststellungen zu Afghanistan, zu Kabul und zur Lage von Hazara in Kabul im Besonderen getroffen. Eine Verletzung der Bindungswirkung des § 87 Abs. 2 VfGG ist daher nicht ersichtlich.
Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung
17 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0484, mwN).
18 Diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
19 Der Revisionswerber ist den Feststellungen und der Beweiswürdigung des BFA sowohl hinsichtlich seiner Fluchtgründe als auch hinsichtlich der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht bloß unsubstantiiert entgegengetreten. Das Bundesverwaltungsgericht erkannte auch das Erfordernis weiterer Erhebungen zur Lage im Herkunftsstaat des Revisionswerbers und zog - im Vergleich zum Bescheid des BFA - aktuellere Länderberichte, die es seinen Feststellungen zu Grunde legte, heran. Damit hat es die Beweiswürdigung gegenüber den Ausführungen des BFA nicht bloß unwesentlich ergänzt und die Feststellungen insoweit einer Aktualisierung zugeführt (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0527). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass die vom BVwG erkannte Notwendigkeit, zur Situation im Herkunftsstaat eines Asylwerbers aktuelle Länderberichte einzuholen und die Feststellungen des BFA zu ergänzen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich macht (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0560, mwN).
20 Demnach lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0560, mwN). Ergebnis
21 Hinsichtlich des Antrags auf einstweilige Anordnung nach Unionsrecht werden in der Revision keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme, sodass die Revision in diesem Umfang gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen war. Im Übrigen war das Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 26. März 2019
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