VwGH Ra 2020/16/0118

VwGHRa 2020/16/011813.6.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma und den Hofrat Mag. Straßegger, die Hofrätin Dr. Reinbacher, den Hofrat Dr. Bodis und die Hofrätin Dr. Funk‑Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Bürgermeisters der Gemeinde Sölden, vertreten durch Dr. Andreas Brugger, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Salurner Straße 16, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 19. Juni 2020, LVwG‑2020/29/0461‑24, betreffend Abfallgebühren (weitere Partei: Tiroler Landesregierung; mitbeteiligte Parteien: 1. M F und 2. R F, beide in S), zu Recht erkannt:

Normen

AbfallgebührenO Sölden 2019 §2 Abs6
AVG §68 Abs1
AVG §8
BAO §279 Abs1
BAO §4 Abs1
BauO Tir 2018 §33
BauO Tir 2018 §33 Abs1
KanalgebührenO Sölden 2003 §2 Abs2
KanalgebührenO Sölden 2003 §2 Abs3
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2020160118.L00

 

Spruch:

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheiden vom 19. November 2019 schrieb der Bürgermeister der Gemeinde Sölden (Revisionswerber) den Mitbeteiligten Baukostenteilbeiträge I und II (Müllkostenbeiträge Deponie und Recyclinghof) in näher angeführter Höhe für den Um‑ und Ausbau eines Gästehauses („Objekterweiterung“) vor.

2 Die Mitbeteiligten erhoben dagegen Beschwerde und brachten darin vor, bei der Ermittlung des ‑ als Bemessungsgrundlage heranzuziehenden ‑ Rauminhaltes seien unzulässigerweise Bauteile, die bereits vor 50 Jahren errichtet worden seien, herangezogen worden.

3 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 12. Februar 2020 wies der Revisionswerber die Beschwerde gemäß § 263 Abs. 1 BAO ‑ mit näherer Begründung ‑ als unbegründet ab. Darin wurde u.a. ausgeführt, die angefochtenen Abgabenbescheide hätten sich fälschlicherweise auf die Verordnung vom 4. April 1995 bezogen. Korrekterweise sei die Gebührenpflicht aufgrund der Abfallgebührenverordnung der Gemeinde Sölden 2019 und des Gemeinderatsbeschlusses vom 18. Dezember 2018 ‑ mit dem die Abfallgebührenverordnung neu erlassen worden sei ‑ vorgeschrieben worden, wodurch sich jedoch die Bemessungsgrundlage nicht verändert habe.

4 Die Mitbeteiligten beantragten, die Beschwerde dem Landesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Tirol ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ der Beschwerde Folge, behob die angefochtenen Bescheide und sprach aus, dass die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

6 Nach Wiedergabe des Verfahrensgeschehens stellte das Landesverwaltungsgericht ‑ soweit wesentlich ‑ fest, die Mitbeteiligten seien je zur Hälfte grundbücherliche Eigentümer eines näher genannten Grundstückes in der Katastralgemeinde S. Mit Bescheid des Revisionswerbers vom 20. Dezember 2018 sei der F KG ‑ deren Komplementäre die Mitbeteiligten seien ‑ als Bauwerberin für das Vorhaben „Um‑ und Ausbau Gästehaus“ P auf dem im Eigentum der Mitbeteiligten stehenden Grundstück die baubehördliche Bewilligung erteilt worden.

7 In der Zustellverfügung des Baubescheides seien u.a. die F KG als Antragstellerin sowie die Mitbeteiligten als Eigentümer des Grundstückes angeführt. Je eine Ausfertigung des Bescheides sei „mittels Rsb“ an jeden der beiden Mitbeteiligten und an die F KG versandt worden. Diese Adressaten seien auch auf den jeweiligen Rückscheinen angeführt. Der Baubescheid sei den Mitbeteiligten jeweils am 24. Dezember 2018, der F KG jedoch erst am 8. Jänner 2019 zugestellt worden. Gegen den Baubescheid seien keine Rechtsmittel erhoben worden.

8 Für das vom Bauvorhaben betroffene Grundstück seien bereits im Jahr 2018 Baukostenbeiträge sowie erstmalig mit der Errichtung des Recyclinghofes im Jahr 1995 vorgeschrieben worden.

9 In rechtlicher Hinsicht führte das Landesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, für ‑ wie im vorliegenden Verfahren erfolgte ‑ Um‑ und Zubauten definiere sowohl die seit 1. Februar 2019 geltende Abfallgebührenverordnung der Gemeinde Sölden 2019 als auch die mit 31. Jänner 2019 außer Kraft getretene „Müllgebührenverordnung“ (gemeint: Müllgebührenordnung) den Zeitpunkt des Entstehens des Abgabenanspruches mit „binnen eines Jahres ab Rechtskraft der Baubewilligung“. Weiters werde normiert, dass ‑ wenn bis zu diesem Zeitpunkt nachweislich weder eine Benützung des umgebauten Gebäudes oder des Zubaues erfolgte, noch im Zusammenhang mit dem Um‑ oder Zubau eine der in § 1 der Verordnung genannten Anlagen in Anspruch genommen wurde ‑ die Gebührenpflicht mit der erstmaligen Benützung des umgebauten Gebäudes bzw. des Zubaues entstehe, oder wenn vorher eine der in § 1 der Verordnung genannten Anlagen im Zusammenhang mit dem Um‑ oder Zubau in Anspruch genommen werde.

10 Der Ausdruck „binnen eines Jahres ab Rechtskraft der Baubewilligung“ definiere jedoch keinen konkreten Zeitpunkt, sondern einen Zeitraum und sei daher ‑ weil ansonsten die Vorschreibung der Abgabe der „Willkür“ der Abgabenbehörde überlassen wäre ‑ nicht geeignet, den Entstehungszeitpunkt des Abgabenanspruches festzulegen.

11 In Zusammenschau mit dem zweiten Satz des § 2 Abs. 6 der Abfallgebührenverordnung der Gemeinde Sölden 2019 bzw. dem gleichlautenden Satz in § 2 Abs. 3 der davor geltenden Müllgebührenordnung der Gemeinde Sölden ‑ in dem die Entstehung des Abgabenanspruches nach Ablauf eines Jahres nach Rechtskraft der Baubewilligung normiert werde ‑ ergebe sich, dass der Abgabenanspruch frühestens ein Jahr nach Rechtskraft der Baubewilligung entstehen solle, wenn bis zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keine Benützung erfolge, erst mit dem Zeitpunkt der tatsächlichen Benützung.

12 Der Baubescheid vom 20. Dezember 2018 sei an mehrere Verfahrensparteien gerichtet gewesen, diesen aber zu verschiedenen Zeitpunkten zugestellt worden. Die (formelle) Rechtskraft trete daher erst (frühestens) mit Ablauf der Rechtsmittelfrist, gerechnet von der letzten Zustellung ein. Der F KG als Bauwerberin sei der Baubescheid nachweislich erst am 8. Jänner 2019 zugestellt worden, womit die 4‑wöchige Rechtsmittelfrist am 5. Februar 2019 geendet habe. Der Rechtsansicht des Revisionswerbers, wonach der Baubescheid der F KG schon früher zugestellt worden sei, und zwar am 24. Dezember 2018 mit Zustellung an die beiden Mitbeteiligten, die vertretungsbefugte Organe der F KG gewesen seien, sei nicht zu folgen: Die Bescheidausfertigungen, die am 24. Dezember 2018 zugestellt worden seien, seien gemäß Adressierung am Kuvert an die Mitbeteiligten gerichtet und daher nicht für die F KG bestimmt gewesen. Auch wenn diese durch die Zustellung „Kenntnis“ vom Bescheidinhalt erhalten habe, habe die Zustellung für sie nicht den Beginn der Rechtsmittelfrist ausgelöst, zumal die Zustellung an die Mitbeteiligten nicht in ihrer Funktion als Komplementäre der F KG erfolgt sei, sondern aufgrund ihrer Stellung als Eigentümer des vom genehmigten Bauvorhaben betroffenen Grundstückes.

13 Die in § 2 Abs. 6 der Abfallgebührenverordnung der Gemeinde Sölden 2019 normierte Jahresfrist habe daher am 4. Februar 2020 geendet, womit die Abgabenpflicht (frühestens) mit diesem Zeitpunkt entstanden sei.

14 Die Vorschreibung der Baukostenteilbeiträge sei somit zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu welchem der Abgabenanspruch noch nicht entstanden sei und deshalb rechtswidrig.

15 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, zu der keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden.

16 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

17 Zur Zulässigkeit der Revision wird im Wesentlichen vorgebracht, die angefochtene Entscheidung weiche von der - näher genannten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach die Rechtsmittelbehörde bzw. das Verwaltungsgericht auf Grund der zum Zeitpunkt der Entscheidung gegebenen Sach- und Rechtslage zu entscheiden und damit während des Rechtsmittelverfahrens eingetretene Änderungen der für die Festsetzung der Abgabe maßgeblichen Umstände zu berücksichtigen hätten.

18 Die Revision erweist sich als zulässig und begründet.

19 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom heutigen Tag, Ra 2020/16/0117 (auf dessen nähere Begründung insoweit gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird), im Zusammenhang mit der Vorschreibung von Anschluss‑ und Erweiterungsgebühren nach der Kanalgebührenordnung der Gemeinde Sölden in der Fassung des Gemeinderatsbeschlusses vom 15. April 2003 (Kanalgebührenordnung 2003) entschieden, dass, wenn bei der Entstehung des Abgabenanspruches auf die „Rechtskraft der Baubewilligung“ abgestellt wird, der Eintritt der Rechtskraft gegenüber den als Abgabenschuldner bestimmten Personen ‑ vor dem Hintergrund ihrer Parteistellung im Bauverfahren nach der Tiroler Bauordnung 2018 ‑ relevant ist.

20 Dieser Grundsatz ist auch bei der Vorschreibung von Baukostenbeiträgen nach der Abfallgebührenverordnung der Gemeinde Sölden 2019 (Abfallgebührenverordnung 2019) ‑ bei der Beurteilung der Entstehung des Abgabenanspruchs gemäß § 2 Abs. 6 dieser Verordnung ‑ zu beachten. Im vorliegenden Revisionsfall war somit ‑ entgegen der Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes ‑ der Eintritt der Rechtskraft des Baubescheides vom 20. Dezember 2018 gegenüber den Mitbeteiligten ‑ und nicht gegenüber der F KG als Bauwerberin ‑ relevant.

21 Dabei ist allerdings anzumerken, dass die Rechtskraft der Baubewilligung nur für die in § 2 Abs. 6 der Abfallgebührenverordnung 2019 geregelten Fälle ‑ somit nur für Um‑ und Zubauten, die erst „nach Festsetzung des betreffenden Baukostenteilbetrages benützt werden“ ‑ entscheidend ist. Angesichts dessen, dass die verfahrensgegenständlichen Baukostenteilbeiträge ‑ wie insbesondere der Begründung der Beschwerdevorentscheidung vom 12. Februar 2020 zu entnehmen ist ‑ zum Teil für bereits in der Vergangenheit (nach dem Vorbringen der Mitbeteiligten in der Beschwerde und im Vorlageantrag: „bereits vor 50 Jahren“) ohne baurechtliche Bewilligung durchgeführte Umbauten vorgeschrieben wurden, erscheint zweifelhaft, ob die Entstehung des (gesamten) Abgabenanspruches überhaupt nach dieser Bestimmung zu beurteilen ist. Dies würde entsprechende Feststellungen zum Zeitpunkt der (erstmaligen) Benützung der in der Vergangenheit vorgenommenen Umbauten voraussetzen.

22 Unabhängig davon erweist sich das angefochtene Erkenntnis als rechtswidrig, weil das Landesverwaltungsgericht ‑ wie vom Revisionswerber zutreffend vorgebracht ‑ selbst für den Fall, dass die Festsetzung der Baukostenteilbeträge durch die Abgabenbehörde vor Entstehung des Abgabenanspruchs erfolgt wäre, der Abgabenanspruch aber im Entscheidungszeitpunkt bereits entstanden war, die Abgabenbescheide nicht hätte aufheben dürfen.

23 Gemäß § 279 Abs. 1 BAO hat das Verwaltungsgericht ‑ von hier nicht betroffenen Fällen abgesehen ‑ immer in der Sache selbst zu entscheiden. Es ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Bescheidbeschwerde als unbegründet abzuweisen (vgl. VwGH 2.2.2023, Ra 2020/13/0012, mwN). Dabei hat das Verwaltungsgericht grundsätzlich nach der Sach‑ und Rechtslage zu entscheiden, welche im Zeitpunkt seiner Entscheidung vorliegt (vgl. VwGH 15.10.2021, Ra 2019/16/0136, mwN). Bei der Festsetzung von Abgaben sind ‑ nach dem allgemeinen Prinzip der Zeitbezogenheit der Abgaben ‑ die materiell‑rechtlichen Bestimmungen anzuwenden, die im Zeitpunkt der Entstehung des Abgabenanspruches in Kraft gestanden sind (vgl. VwGH 23.6.2021, Ra 2019/13/0111, mwN).

24 Die bei der Entscheidung über die Bescheidbeschwerde bestehende Änderungsbefugnis im Sinne des § 279 Abs. 1 zweiter Satz BAO ‑ nach jeder Richtung ‑ ist (nur) durch die Sache nach § 279 Abs. 1 erster Satz BAO begrenzt. Sache ist im Bescheidbeschwerdeverfahren die Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches des bekämpften Bescheides erster Instanz gebildet hat (vgl. VwGH 7.9.2021, Ro 2018/15/0026, mwN).

25 Sache des Verfahrens war im vorliegenden Revisionsfall die Vorschreibung von Baukostenteilbeiträgen (Müllkostenbeiträgen) anlässlich des Um‑ und Ausbaus (Zubaus) eines Gästehauses. Das Landesverwaltungsgericht hatte somit über die Vorschreibung dieser Beiträge zu entscheiden. War der Abgabenanspruch hinsichtlich dieser Beiträge im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Landesverwaltungsgericht bereits entstanden ‑ wenn auch erst nach Erlassung der vor dem Landesverwaltungsgericht angefochtenen Bescheide ‑, wäre das Landesverwaltungsgericht ‑ unter Heranziehung jener Bestimmungen, die im Zeitpunkt der Entstehung des Abgabenanspruches in Kraft gestanden sind und zwar unabhängig davon, auf welche Rechtsgrundlage (wenn überhaupt) die Abgabenbehörde die Festsetzung ursprünglich (oder in der Beschwerdevorentscheidung) gestützt hat (vgl. dazu VwGH 22.11.1999, 98/17/0351) ‑ verpflichtet gewesen, inhaltlich darüber abzusprechen.

26 Gegenteiliges ergibt sich ‑ entgegen der Rechtsansicht des Landesverwaltungsgerichtes ‑ auch nicht aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. Oktober 1983, 81/16/0165. Darin sprach der Verwaltungsgerichtshof im Zusammenhang mit der Festsetzung von Grunderwerbsteuer aus, die Entstehung des Abgabenanspruches nach Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides (aufgrund des Ergehens einer grundverkehrsbehördlichen Genehmigung), sei zwar von der Rechtsmittelbehörde bei der Erlassung ihrer Berufungsentscheidung gemäß § 279 Abs. 1 und § 280 BAO (in der damaligen Fassung) zu beachten. Die Abweisung der Berufung (durch die Rechtsmittelbehörde) bewirke allerdings im Ergebnis eine bloße Bestätigung des erstinstanzlichen Bescheides und damit die (rechtswidrige) Abgabenfestsetzung mit Wirkung von einem vor der Entstehung des Abgabenanspruches liegenden Zeitpunkt. Dies bewirke allerdings eine rechtswidrige Festlegung der Fälligkeit der Abgabenschuld und der Wirksamkeit der damit verbundenen Rechtsfolgen (etwa den Lauf von Stundungszinsen). Diesem Erkenntnis kann daher gerade nicht entnommen werden, dass der Rechtsmittelinstanz eine Festsetzung der betreffenden Abgabe mit einem abweichenden Stichtag verwehrt gewesen sei.

27 Das angefochtene Erkenntnis war aus den dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 13. Juni 2023

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