VwGH Ra 2022/09/0067

VwGHRa 2022/09/00671.9.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofräte Dr. Doblinger und Mag. Feiel sowie die Hofrätinnen Dr. Koprivnikar und Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die außerordentliche Revision der Disziplinaranwältin der Stadt Wien in 1082 Wien, Rathaus, Stiege 4, Hochparterre, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 17. März 2022, Zl. VGW‑171/091/17553/2021‑2, betreffend Disziplinarstrafe der Geldstrafe nach der Wiener Dienstordnung 1994 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Disziplinarkommission der Stadt Wien; mitbeteiligte Partei: A B, vertreten durch lawpoint Hütthaler‑Brandauer & Akyürek Rechtsanwälte GmbH in 1060 Wien, Otto Bauer Gasse 4), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §1
AVG §59
AVG §59 Abs1
AVG §66 Abs4
AVG §8
B-VG Art130 Abs1 Z1
DO Wr 1994 §74a Abs2 Z2
VwGG §42 Abs2 Z2
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs2 Z1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022090067.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.

Begründung

1 Der im Jahr 1975 geborene Mitbeteiligte steht als Brandmeister in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zur Stadt Wien.

2 Mit Disziplinarerkenntnis der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde (in der Folge: DK) vom 19. Oktober 2021 wurde der Mitbeteiligte schuldig erkannt, seine Dienstpflichten gemäß § 18 Abs. 2 zweiter Satz der Dienstordnung 1994 (DO 1994), LGBl. für Wien Nr. 54/1994 in der geltenden Fassung, dadurch verletzt zu haben, dass er in der Nacht von 8. auf 9. September 2018 (außer Dienst) nach einer verbalen Auseinandersetzung in einem Lokal in Wien mit Frau X dieser gegenüber näher beschriebene Tätlichkeiten gesetzt habe (1.) sowie am 9. September 2018 (jeweils im Dienst) gegenüber Frau X, die ihn in der Feuerwache besucht habe, in näher ausgeführter Form „handgreiflich“ geworden sei (2a.) und seinen Dienst in der Feuerwache in einem durch Alkohol beeinträchtigtem Zustand versehen habe (2b.), wodurch auch die beabsichtigte Vernehmung von der Landespolizeidirektion Wien zu den zuvor zu 1. und 2a. genannten Vorwürfen nicht möglich gewesen sei. Wegen dieser Dienstpflichtverletzungen wurde über den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 1 Z 3 DO 1994 die Disziplinarstrafe der Geldstrafe in Höhe des Siebenfachen des Monatsbezuges unter Ausschluss der Kinderzulage verhängt.

3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der vom Mitbeteiligten gegen den Strafausspruch erhobenen Beschwerde insofern Folge, als es die Geldstrafe in Höhe des siebenfachen Monatsbezuges unter Ausschluss der Kinderzulage bestätigte, jedoch im Umfang des 3,5‑fachen Monatsbezuges unter Ausschluss der Kinderzulage eine bedingte Strafnachsicht unter Setzung einer Bewährungsfrist von drei Jahren aussprach. Weiters erklärte es eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.

4 Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der Disziplinaranwältin; die belangte Behörde und der Mitbeteiligte erstatteten jeweils eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist der Verwaltungsgerichtshof an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nach § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a VwGG). Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

7 In der Zulässigkeitsbegründung macht die Revisionswerberin geltend, dass aufgrund einer auch von ihr erhobenen Beschwerde gegen den Strafausspruch die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes gemäß § 74a Abs. 2 Z 2 DO 1994 durch einen Senat hätte erfolgen müssen; indem die gegenständliche Entscheidung jedoch durch eine nicht zuständige Einzelrichterin dieses Verwaltungsgerichtes erfolgt sei, liege eine Verletzung des Grundsatzes der festen Geschäftsverteilung sowie des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf den gesetzlichen Richter und damit eine Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts vor. Überdies wird als Verfahrensmangel gerügt, dass über ihre Beschwerde, worin anstelle der höchsten Geldstrafe die Verhängung der Disziplinarstrafe der Entlassung beantragt worden sei, noch nicht abgesprochen worden sei und diesfalls das in § 104 DO 1994 normierte Verbot der reformatio in peius gegenüber dem Mitbeteiligten nicht bestanden hätte.

8 Die Revision erweist sich als zulässig und begründet:

9 Gemäß § 59 Abs. 1 AVG hat der Spruch die in Verhandlung stehende Angelegenheit und alle die Hauptfrage betreffenden Parteianträge, ferner die allfällige Kostenfrage in möglichst gedrängter, deutlicher Fassung und unter Anführung der angewendeten Gesetzesbestimmungen, und zwar in der Regel zur Gänze, zu erledigen. Mit Erledigung des verfahrenseinleitenden Antrages gelten Einwendungen als miterledigt. Lässt der Gegenstand der Verhandlung eine Trennung nach mehreren Punkten zu, so kann, wenn dies zweckmäßig erscheint, über jeden dieser Punkte, sobald er spruchreif ist, gesondert abgesprochen werden.Diese Bestimmung ist nach § 17 VwGVG auf Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B‑VG anzuwenden.

10 § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG sieht vor, dass das Verwaltungsgericht ‑ sofern nicht nach Absatz 1 dieser Bestimmung die Beschwerde zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist ‑ über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B‑VG dann in der Sache selbst zu entscheiden hat, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht.

11 Gemäß § 74a Abs. 2 Z 2 DO 1994 hat (neben anderen in Absatz 1 dieser Bestimmung genannten, hier nicht zum Tragen kommenden Fällen) die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Wien durch einen Senat zu erfolgen, wenn die Beschwerde vom Disziplinaranwalt gegen ein Disziplinarerkenntnis erhoben wurde.

12 Aus den übermittelten Verwaltungsakten ist ersichtlich, dass die Beschwerde gegen das erstinstanzliche Disziplinarerkenntnis sowohl des Disziplinarbeschuldigten (nunmehr: Mitbeteiligten) wie auch der Disziplinaranwältin (nunmehr: Revisionswerberin) dem Verwaltungsgericht übermittelt wurden, mag auch das Vorlageschreiben der DK sich explizit nur auf die Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten beziehen. Da der Akt aber jedenfalls dem Verwaltungsgericht vorgelegt wurde, lag dem Verwaltungsgericht auch die (rechtzeitig eingebrachte) Beschwerde der Disziplinaranwältin vor.

13 Werden gegen eine Erledigung von mehreren Parteien (zulässige und rechtzeitige) Beschwerden erhoben und ist die angefochtene Erledigung nicht trennbar, so ist darüber in einem einheitlichen Verfahren durch ein einheitliches Erkenntnis abzusprechen. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Sachentscheidung ergibt sich aus dem zitierten § 59 Abs. 1 AVG, wonach der Spruch der Entscheidung „die in Verhandlung stehende Angelegenheit und alle die Hauptfrage betreffenden Parteienanträge ... zur Gänze zu erledigen hat“, iVm § 17 VwGVG. In diesem Sinne wurde schon zur Regelung des Berufungsverfahrens in § 66 Abs. 4 AVG die Auffassung vertreten, dass bei mehreren Berufungen gegen insofern untrennbare Bescheidteile durch einheitliche Entscheidung gegenüber allen Parteien vorzugehen ist (vgl. dazu SchulevSteindl, Verwaltungsverfahrensrecht6 [2018] Rz. 315, Hengstschläger/Leeb, Verwaltungsverfahrensrecht6 [2018] Rz. 518, Hengstschläger/Leeb, AVG [2007] § 66, Rz. 69, Thienel, Zweifelsfragen der Berufungsvorentscheidung im Mehrparteienverfahren, ÖGZ 1991/2). Die Rechtslage nach § 28 VwGVG hinsichtlich der Entscheidung über Bescheidbeschwerden durch die Verwaltungsgerichte ist insofern grundsätzlich gleichartig, dementsprechend wird in der Literatur zum Teil auch explizit die Auffassung vertreten, dass genauso wie bei Berufungen bei Bescheidbeschwerden gegen untrennbare Bescheidteile durch mehrere Parteien ein einheitliches Verfahren mit einem einheitlichen abschließenden Erkenntnis zu ergehen hat (vgl. insbesondere Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht11 [2019] Rz. 564 und 840, und die dazu dargelegte Judikatur).

14 Im vorliegenden Fall war die Frage der Strafbemessung Gegenstand des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht, wozu es diametrale Vorbringen des Disziplinarbeschuldigten und der Disziplinaranwältin in deren Beschwerden gab. Die angefochtene Entscheidung war somit nicht trennbar und es wäre über beiden Beschwerden in einem einheitlichen Verfahren durch ein einheitliches Erkenntnis abzusprechen gewesen. Indem das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten partiell stattgegeben hat, hat es (auch wenn es darüber nicht ausdrücklich abgesprochen hat) inzident auch die Beschwerde der Revisionswerberin erledigt, weil § 59 AVG iVm § 17 VwGVG einer neuerlichen Entscheidung in dieser Rechtssache entgegensteht.

15 In diesem Disziplinarverfahren nach der DO 1994 ist (nach § 74a Abs. 2 Z 2 leg. cit.) die Entscheidung durch einen Senat des Verwaltungsgerichts nur bei Beschwerden des Disziplinaranwalts vorgesehen. Geht man aber nach dem Vorgesagten davon aus, dass im Falle mehrerer Beschwerden gegen einen untrennbaren Bescheid eine einheitliche Entscheidung zu ergehen hat, muss das konsequenterweise bedeuten, dass bei gleichzeitiger Erhebung der Beschwerde durch den Disziplinarbeschuldigten und der Disziplinaranwältin der Senat zuständig ist.

16 Indem die angefochtene Entscheidung durch eine Einzelrichterin getroffen wurde, war sie auf Grund der Revision der Disziplinaranwältin wegen Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts (die insofern die inhaltliche Rechtswidrigkeit prävaliert, die in der Erledigung bloß einer Beschwerde liegt) gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben.

Wien, am 1. September 2022

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