Normen
BauO Tir 2018 §71 Abs12
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2019060271.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Die Gemeinde Wiesing hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid des Bürgermeisters der Gemeinde Wiesing (belangte Behörde) vom 2. September 1959 wurde auf dem (jetzigen) Grundstück Nr. X, KG W., der Neubau eines Wohnhauses baubehördlich bewilligt.
2 Mit Eingabe vom 8. Mai 2018 beantragten die mitbeteiligten Parteien die Baubewilligung für Zu‑ und Umbauten am bestehenden Wohnhaus und weitere Baumaßnahmen auf dem genannten Grundstück Nr. X (das im Zeitpunkt der Antragstellung je zur Hälfte im Eigentum des Erstmitbeteiligten und seiner Schwester stand). Diesem Antrag waren eine Einreichung vom 28. Februar 2018 und eine am 5. April 2018 durchgeführte mündliche Verhandlung vorausgegangen, die zu einer Änderung der Einreichung geführt hatte.
3 Hinsichtlich des Antrages vom 8. Mai 2018 und den bezüglichen Plänen fand am 24. Mai 2018 eine mündliche Bauverhandlung statt, in der der Revisionswerber als Eigentümer des an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücks Nr. Y Einwendungen erhob.
4 Mit Bescheid der belangten Behörde vom 28. Mai 2018 wurde die baurechtliche Bewilligung für den Zu‑ und Umbau des bestehenden Wohnhauses auf Grundstück Nr. Y erteilt.
5 Die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde wurde ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ mit Spruchpunkt 1. des angefochtenen Erkenntnisses des Landesverwaltungsgerichts Tirol (im Folgenden: Verwaltungsgericht) mit der Maßgabe des Spruchpunktes 2. als unbegründet abgewiesen.
Im Spruchpunkt 2. des Erkenntnisses wurden mehrere am 7. Jänner 2019 beim Verwaltungsgericht eingegangene Dokumente (Baubeschreibung; Plan „Übersichtsplan; Grundrisse, Schnitte und Ansichten“; Vermessungsurkunde; Energieausweis) anstelle entsprechender früherer Dokumente als wesentliche Bestandteile der Baubewilligung festgelegt.
Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für nicht zulässig erklärt.
6 Nach den vom Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen lasse sich auf den im Zusammenhang mit dem Baubescheid vom 2. September 1959 bewilligten Lageplan im Maßstab 1:1000, welcher auf einer Mappendarstellung 1:2880 fuße, der Abstand des Gebäudes zur Grenze zum Grundstück Nr. Z (Anm.: heute Grundstück Nr. Y) des Revisionswerbers mittels Maßstab mit 4 m bestimmen.
7 Im Rahmen weiterer, detaillierter Feststellungen zu den Maßen des Bestandsgebäudes und des Zubaus führte das Verwaltungsgericht unter anderem aus, der kleinste Abstand des bestehenden Wohngebäudes (samt Vollwärmeschutz) zur Grundstücksgrenze des Revisionswerbers im nordwestlichen Eckbereich betrage 2,77 m. Der kleinste Abstand des beabsichtigten nordöstlichen Zubaus zur Grundstücksgrenze des Revisionswerbers betrage 2,77 m.
Der Verwendungszweck des Gebäudes verändere sich durch den Zubau nicht. Zusätzliche nachteilige Auswirkungen durch Emissionen zum Grundstück des Revisionswerbers hin seien nicht zu erwarten.
8 In seinen rechtlichen Erwägungen hielt das Verwaltungsgericht unter anderem fest, als Vorfrage sei im gegenständlichen Fall wesentlich, inwieweit das Bestandsgebäude rechtmäßig bestehe. Bei Betrachtung der Baubewilligung aus dem Jahr 1959 sei festzustellen, dass in den bewilligten Plänen die Rohbaumaße mit 8,32 m und 8,62 m eingetragen seien. Dies sei deshalb so zu beurteilen, weil in der Baubeschreibung das Mauerwerk mit „Fritzner 30cm“ beschrieben und in den bewilligten Einreichplänen das Mauerwerk mit dieser Stärke ausgewiesen sei. Somit sei bei der Bemaßung der Außenputz (und Innenputz) nicht berücksichtigt worden. Der hochbautechnische Amtssachverständige habe in Ansehung der Eingabe der belangten Behörde vom 21. September 2018 samt den angeschlossenen Ausführungen des hochbautechnischen Sachverständigen der belangten Behörde zutreffend ausgeführt, dass eine Putzstärke von insgesamt 5 cm in Anschlag zu bringen sei und sich so die tatsächlichen Ausmaße des Bestandsgebäudes erklärten. Deshalb gehe das Verwaltungsgericht davon aus, dass das oberirdische Mauerwerk mit der Baubewilligung aus dem Jahr 1959 mit einer Länge von 8,67 m und einer Breite von 8,37 m bewilligt worden sei.
9 Der hochbautechnische Amtssachverständige habe eine abweichende Lage des errichteten Gebäudes von 110 cm ‑ ohne den später angebrachten Vollwärmeschutz ‑ gegenüber dem Lageplan der Baubewilligung 1959 anhand der gegenständlichen Einreichplanung bestimmt. Nach § 71 Abs. 12 Tiroler Bauordnung 2018 (TBO 2018) schade im gegenständlichen Fall diese abweichende Lage des auf Grundlage des Baubescheides aus dem Jahr 1959 errichteten Gebäudes nicht. Den Erläuternden Bemerkungen EB 2011/48 zu dieser Bestimmung sei zu entnehmen, dass mit den einen Bestandteil der Katastralmappen bildenden Katasterplänen die in der Natur mehr oder weniger deutlich gekennzeichneten Grundstücksgrenzen für das gesamte damalige österreichische Staatsgebiet im Maßstab von 1:2880 erfasst worden seien. Nach dieser Bestimmung sei daher eine Abweichung von bis zu 120 cm möglich. Dieses Gebäude ‑ ohne den später aufgebrachten Vollwärmeschutz ‑ weise einen Abstand von der Grundgrenze des Nachbarn von 2,90 m auf und weiche somit um 110 cm gegenüber dem Lageplan ab, der einen Grenzabstand von 4 m aufweise. Es handle sich in Ansehung der vorgenannten Bestimmung um ein rechtmäßig bestehendes Gebäude, weil die Baubewilligung nach den baurechtlichen Vorschriften vor der Novelle LGBl. Nr. 10/1989 erteilt worden sei.
10 Mit der Bestimmung solle keine Bebauung als rechtmäßig erachtet werden, für die überhaupt keine Baubewilligung vorliege, sondern es würden lediglich Ungenauigkeiten der verwendeten Lagepläne zugunsten einer erteilten Baubewilligung gesetzlich normiert. Eine derartige Lageänderung könne ‑ wie im gegenständlichen Fall ‑ auch dazu führen, dass eine bauliche Anlage (zum Teil) in der Mindestabstandsfläche zu einem Nachbargrundstück errichtet werde. Anhaltspunkte dafür, dass eine gewillkürte Lageänderung des Bestandsgebäudes erfolgt sei, hätten sich aus dem vorliegenden Bauakt aus dem Jahr 1959 nicht ergeben. Im Übrigen nehme die Bestimmung des § 71 Abs. 12 TBO 2018 keinen Bezug auf eine allfällige Ursache der Lageänderung. Zum Unterschied zu dem vom Revisionswerber angezogenen „Schwarzbauten‑Sanierungs‑Gesetz“ sei im gegenständlichen Fall eine Baubewilligung vor der Errichtung des Bauvorhabens erwirkt worden.
11 Der im Jahr 2006 auf Grundlage des nunmehrigen § 71 Abs. 7 TBO 2018 angebrachte Vollwärmeschutz weise eine zulässige Stärke von 13 cm auf. Zum Zeitpunkt der Umsetzung sei diese Baumaßnahme weder bewilligungspflichtig noch anzeigepflichtig gewesen.
12 Für das bestehende Gebäude, welches einen Abstand zur Grundstücksgrenze des Revisionswerbers von 2,77 m aufweise, liege ein baurechtlicher Konsens vor.
13 In weiterer Folge befasste sich das Verwaltungsgericht in seinen rechtlichen Erwägungen unter anderem mit der aus seiner Sicht gegebenen Zulässigkeit des gegenständlichen Zubaus in der Mindestabstandsfläche zum Grundstück des Revisionswerbers, der keinen Treppenturm im Sinne des § 71 Abs. 9 TBO 2018 darstelle. In § 6 Abs. 10 TBO 2018 seien auch geringfügige Zubauten genannt. Durch den Zubau werde nicht weiter als bisher von den Voraussetzungen nach § 6 Abs. 1 TBO 2018 abgewichen, weil der Abstand des Zubaus von der Grundstücksgrenze des Revisionswerbers mit 2,77 m gegenüber dem Bestand gleich bleibe (wird näher ausgeführt).
14 Der Revisionswerber erhob gegen das angefochtene Erkenntnis des Verwaltungsgerichts zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 23. September 2019, E 1900/2019‑5, deren Behandlung ablehnte und mit gesondertem Beschluss die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof abtrat. In der Begründung des Beschlusses vom 23. September 2019 führte der Verfassungsgerichtshof unter anderem Folgendes aus:
„Der Verfassungsgerichtshof hat vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles keine Bedenken, wenn der Tiroler Landesgesetzgeber im Falle von Gebäuden, für die die Baubewilligung nach den baurechtlichen Vorschriften vor der Novelle LGBl. 10/1989 zur seinerzeitigen Tiroler Bauordnung erteilt worden ist, normierte, dass eine lagemäßige Abweichung des Gebäudes gegenüber der Lage auf Grund der Baubewilligung von höchstens 120 cm die Rechtmäßigkeit des Baubestandes nicht berührt. Vor dem Hintergrund der Gesetzesmaterialien (Erläuterungen zu RV 120/11 BlgLT [Tir] 15. GP, 23. Sitzung, 77) ist erkennbar, dass nicht jegliche Abweichung privilegiert ist, sondern nur jene, die durch ‑ historisch bedingt ‑ ungenaue Pläne begründet wurden (zur Unschärfe von Plänen vgl. VfGH 14.6.2019, V 81/2018 ua.). Daher ist die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur Sanierung von Schwarzbauten (vgl. VfSlg. 14.681/1996, 14.763/1997, 15.441/1999, 16.901/2003, 17.211/2004, 17.402/2004) im vorliegenden Fall nicht einschlägig.“
15 Gegen das angefochtene Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
16 Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof erstattete die Tiroler Landesregierung als weitere Partei eine Revisionsbeantwortung.
17 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
18 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, es stelle sich die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob die Privilegierung des § 71 Abs. 12 erster Satz Tiroler Bauordnung 2018 im Falle einer Unterschreitung des gesetzlichen Mindestabstandes zur Naturgrenze zur Anwendung komme. Ferner stelle sich die Zusatzfrage, ob diese Privilegierung auch dann zur Anwendung komme, wenn sich ‑ wie hier ‑ aus dem bewilligten Plan der gesetzlich vorgeschriebene Mindestabstand zur Grundstücksgrenze ohnehin entnehmen habe lassen.
19 Aufgrund dieses Vorbringens einschließlich der dazu in der Zulässigkeitsbegründung ergänzend erstatteten Ausführungen erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.
20 Gemäß § 71 Abs. 12 erster Satz TBO 2018, LGBl. Nr. 28/2018, berührt bei Gebäuden, für die die Baubewilligung nach den baurechtlichen Vorschriften vor der Novelle LGBl. Nr. 10/1989 zur seinerzeitigen Tiroler Bauordnung erteilt worden ist, eine lagemäßige Abweichung des Gebäudes gegenüber der Lage aufgrund der Baubewilligung von höchstens 120 cm die Rechtmäßigkeit des Baubestandes nicht.
21 Das Verwaltungsgericht ging im angefochtenen Erkenntnis auf Grund des § 71 Abs. 12 TBO 2018 vom Vorliegen eines baurechtlichen Konsenses hinsichtlich des bestehenden, 1959 baubewilligten Gebäudes aus. Unstrittig weist dieses Gebäude (ohne den später aufgebrachten Vollwärmeschutz) einen Abstand zur Grenze des Revisionswerbers von 2,90 m auf, es weicht somit um 110 cm vom seinerzeitigen Lageplan ab, der einen Grenzabstand von 4 m ausweist.
22 Dabei legte das Verwaltungsgericht seiner Beurteilung zugrunde, dass eine gemäß § 71 Abs. 12 TBO 2018 privilegierte Lageänderung ‑ wie im gegenständlichen Fall ‑ auch dazu führen könne, dass eine bauliche Anlage (zum Teil) in der Mindestabstandsfläche zu einem Nachbargrundstück errichtet werde. Es hob dabei hervor, dass die genannte Bestimmung keinen Bezug auf eine allfällige Ursache der Lageänderung nehme.
23 Das Verwaltungsgericht übersieht jedoch, dass ‑ wie auch der Verfassungsgerichtshof in seinem ablehnenden Beschluss vom 23. September 2019, E 1900/2019‑5, ausführte ‑ entsprechend den bereits im genannten Beschluss des Verfassungsgerichtshofes zitierten Erläuternden Bemerkungen zur mit LGBl. Nr. 48/2011 erfolgten Änderung der Tiroler Bauordnung 2001 durch die (damalige) Bestimmung des § 59 Abs. 13 TBO 2001 (nunmehr: § 71 Abs. 12 TBO 2018) nur solche Abweichungen privilegiert sind, die durch die aus heutiger Sicht mangelhafte Qualität der damaligen Planunterlagen erklärbar sind (vgl. dazu auch VwGH 28.11.2014, Ra 2014/06/0021).
24 Nun hat aber ‑ wie der Revisionswerber zutreffend vorbringt ‑ das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis selbst festgestellt, dass sich aus dem im Zusammenhang mit der Baubewilligung vom 2. September 1959 bewilligten Lageplan der Grenzabstand des Gebäudes zur Grundstücksgrenze des Revisionswerbers mittels Maßstab mit 4 m bestimmen lasse. Weshalb im vorliegenden Fall dennoch von einer Abweichung auszugehen sei, die (im Sinne der Erläuterungen und der zitierten Judikatur) auf historisch bedingt ungenaue Pläne zurückzuführen sei und der die Privilegierung nach § 71 Abs. 12 TBO 2018 zukomme, begründet das Verwaltungsgericht als Folge seiner unrichtigen Rechtsansicht, es komme im Zusammenhang mit dieser Privilegierung nicht auf eine allfällige Ursache der Lageänderung an, nicht.
25 Da sich das angefochtene Erkenntnis aus diesem Grund als inhaltlich rechtswidrig erweist, war es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Auf das weitere Revisionsvorbringen war daher nicht mehr einzugehen.
26 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Dezember 2022
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
