Normen
MRK Art8
NAG 2005 §11 Abs1 Z4
NAG 2005 §30 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021220067.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 7. August 2020 verfügte der Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3 AVG von Amts wegen die Wiederaufnahme der jeweils mit Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ abgeschlossenen Verfahren über den Erstantrag des Revisionswerbers, eines serbischen Staatsangehörigen, vom 23. Juni 2017 sowie dessen Verlängerungsantrag vom 25. Mai 2018, in denen sich dieser auf seine Ehe mit einer über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügenden serbischen Staatsangehörigen BJ berufen hatte. Unter einem wies die Behörde den Erstantrag des Revisionswerbers wegen Vorliegen einer Aufenthaltsehe ab sowie dessen Verlängerungsantrag wegen Fehlen eines gültigen Aufenthaltstitels zurück.
2 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der neben der Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt wurde, sowohl BJ als auch den Revisionswerber selbst sowie weitere namentlich genannte Personen zum Beweis dafür einzuvernehmen, dass keine Aufenthaltsehe vorgelegen sei. Des Weiteren trat der Revisionswerber der Beweiswürdigung der Behörde mit näherer Begründung entgegen und er bestritt den Vorwurf, mit BJ kein Familienleben im Sinn von Art. 8 EMRK geführt zu haben.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Verwaltungsgericht für unzulässig.
4 Das Verwaltungsgericht stellte ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ fest, dass der Revisionswerber und BJ, die aus demselben Dorf in Serbien stammten, einander bereits ihr ganzes Leben lang gekannt hätten. Der Revisionswerber sei bereits verheiratet gewesen und habe zwei Töchter. BJ sei ebenfalls bereits verheiratet gewesen und habe zwei Söhne. Die Ehe zwischen dem Revisionswerber und BJ sei am 13. April 2017 in Serbien geschlossen worden. Der Revisionswerber und BJ hätten die Kinder ihres Ehepartners nie kennengelernt. In den Zeiträumen von 7. Juni bis 23. Juni 2017 sowie von 20. Juli 2017 bis 29. August 2018 hätten der Revisionswerber und BJ in Linz über einen gemeinsamen Wohnsitz verfügt. Der Revisionswerber sei jedoch nicht in Besitz eines Schlüssels zu dieser Wohnung gewesen. In dieser hätten sich auch keine privaten Gegenstände des Revisionswerbers befunden. Am 30. Jänner 2018 habe der Revisionswerber einen Mietvertrag für eine Wohnung in Wien mit Beginn des Mietverhältnisses am 1. Februar 2020 abgeschlossen. Seit 4. Oktober 2017 sei er in Wien bei einem näher genannten Reinigungsunternehmen beschäftigt. Nach der Trennung der Ehepartner im August 2018 sei die zwischen dem Revisionswerber und BJ geschlossene Ehe im Dezember 2018 einvernehmlich geschieden worden. Das Scheidungsurteil sei am 28. Februar 2019 in Rechtskraft erwachsen. Der Revisionswerber habe die zuständigen Behörden erst am 4. Juli 2019 anlässlich eines weiteren Verlängerungsantrages von der Scheidung informiert. BJ führe seit dem Frühjahr 2018 ‑ und damit schon während noch aufrechter Ehe mit dem Revisionswerber ‑ eine neue Lebensgemeinschaft. Seit August 2018 lebe BJ mit ihrem neuen Lebensgefährten in Wien.
5 Der festgestellte Sachverhalt ergebe sich „völlig widerspruchsfrei und unbestritten“ aus dem Verwaltungsakt und der Beschwerde.
6 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, der Revisionswerber habe eine für ihn vorteilhafte Entscheidung der Behörde (Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“) erschlichen, indem er vor der Niederlassungs- und Aufenthaltsbehörde objektiv unrichtige Angaben hinsichtlich der Ernsthaftigkeit seiner Ehe mit BJ und zu seinen diesbezüglichen Beweggründen gemacht habe. Wie sich nunmehr herausgestellt habe, habe es sich um eine Aufenthaltsehe im Sinn von § 30 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) gehandelt. Aus diesem Grund sei die Wiederaufnahme zu verfügen gewesen. Die Tatsachen, aus denen sich das Bestehen einer Aufenthaltsehe ableiten lasse, seien erst im Zuge des zweiten Verlängerungsverfahrens offenkundig geworden.
7 Für die Beurteilung, ob im Einzelfall eine familiäre Beziehung im Sinn des Art. 8 EMRK vorliege, seien tatsächliche Anhaltspunkte notwendig, wie das gemeinsame Wohnen, die Art und die Länge der Beziehung sowie das Interesse und die Bindung der Partner zueinander, etwa durch gemeinsame Kinder oder andere Umstände.
8 Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich habe wie die Behörde im Rahmen des Beweisverfahrens den Eindruck gewonnen, dass es sich bei der zwischen dem Revisionswerber und BJ geschlossenen Ehe um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe. Dazu verwies das Landesverwaltungsgericht auf divergierende Aussagen der Eheleute hinsichtlich des ersten Aufeinandertreffens, des Heiratsantrages, der ersten Tage nach der Hochzeit sowie der Gründe für die getrennte Wohnsitznahme. Es liege auch die Vermutung nahe, dass sich der Revisionswerber nie in der gemeinsamen Ehewohnung in Linz aufgehalten und er den Wohnsitz in Linz lediglich angemeldet habe, um die Ehe „in ein richtiges Licht“ zu rücken. Der Eindruck, dass eine Aufenthaltsehe vorliege, werde zudem dadurch verstärkt, dass weder der Revisionswerber noch BJ die Kinder des jeweils anderen Ehepartners kennengelernt hätten. Es hätten keine gemeinsamen Urlaube der Eheleute stattgefunden und es existierten auch keine Fotos, die ein gemeinsames Eheleben dokumentieren würden. Es bestehe überdies ein relativ großer Altersunterschied zwischen der im Jahr 1970 geborenen BJ und dem im Jahr 1984 geborenen Revisionswerber. Die Ehe habe weniger als eineinhalb Jahre gedauert und BJ sei während der aufrechten Ehe mit dem Revisionswerber eine Liebesbeziehung mit einem anderen Mann eingegangen. Es liege somit nahe, dass der Revisionswerber die Ehe mit BJ lediglich geschlossen habe, weil ein von ihm in der Vergangenheit gestellter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels mangels Vorliegen der dafür erforderlichen, besonderen Erteilungsvoraussetzungen nicht erfolgreich gewesen sei. Folglich sei festzustellen, dass fallbezogen ein Eheleben in der gesetzlich geforderten Mindestqualität nicht stattgefunden und es sich um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
10 Eine Revisionsbeantwortung wurde erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision macht in ihrer Zulässigkeitsbegründung eine Verletzung der Verhandlungspflicht geltend.
12 Im Hinblick darauf erweist sich die Revision als zulässig und berechtigt.
13 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG auf Antrag eine mündliche Verhandlung durchzuführen, welche der Erörterung der Sach- und Rechtslage sowie der Erhebung der Beweise dient. Als Ausnahme von dieser Regel kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Antrages gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt. Dies ist dann der Fall, wenn von vornherein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann, und auch keine Rechtsfragen aufgeworfen werden, deren Erörterung in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erforderlich wäre (vgl. zu alldem VwGH 3.6.2020, Ra 2019/22/0156, mwN).
14 Darüber hinaus betont der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt. Diese Rechtsprechung hat der Verwaltungsgerichtshof auch für die nach § 30 Abs. 1 NAG relevante Frage, ob Ehegatten ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK führen oder nicht, anwendbar erachtet (siehe dazu etwa VwGH 20.10.2020, Ra 2020/22/0036).
15 Des Weiteren dürfen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts beizutragen. Es ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht zulässig, ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorwegzunehmen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge - ungeachtet der Ergebnisse des bisherigen Beweisverfahrens - nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. erneut VwGH 20.10.2020, Ra 2020/22/0036).
16 Im vorliegenden Fall wurden in der Beschwerde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie (u.a.) die Einvernahme des Revisionswerbers und der BJ beantragt. Zudem trat der Revisionswerber den von der Behörde getroffenen Sachverhaltsfeststellungen (im Hinblick auf die Annahme, es liege eine Aufenthaltsehe vor) substantiiert entgegen.
17 Betreffend das Vorliegen einer Aufenthaltsehe und damit für die Beurteilung eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG konnte das Verwaltungsgericht somit nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen. Anders als im angefochtenen Erkenntnis dargestellt war der entscheidungswesentliche Sachverhalt, nämlich insbesondere die Frage, ob zwischen dem Revisionswerber und BJ ein gemeinsames Familienleben tatsächlich geführt wurde oder nicht, keinesfalls unstrittig. Das Verwaltungsgericht hätte demnach nicht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung und im Übrigen auch nicht begründungslos von der Einvernahme des Revisionswerbers sowie der in der Beschwerde beantragten Zeugen absehen dürfen.
18 Aus den dargestellten Gründen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
19 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
20 Im Hinblick auf das vorliegende Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs erübrigt sich eine Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.
Wien, am 27. Mai 2021
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