VwGH Ra 2020/20/0426

VwGHRa 2020/20/042622.1.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. November 2020, Zl. L509 2124746‑1/37E, betreffend Feststellung der dauernden Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach dem BFA‑VG und Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: F A in F), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020200426.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A) A.2. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, stellte am 17. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 22. März 2016 ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bangladesch zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten betreffend die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz unter Spruchpunkt A) A.1. als unbegründet ab. Mit dem Spruchpunkt A) A.2. stellte das Verwaltungsgericht in Abänderung des Bescheides des BFA fest, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 3 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) auf Dauer unzulässig sei, und erteilte ihm gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten. Weiters sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zu Spruchpunkt A) A.2. aus, der Mitbeteiligte lebe seit Anfang des Jahres 2016 in Österreich, wobei ihm die lange Dauer des Asylverfahrens nicht anzulasten sei. Er habe sich in sprachlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht erfolgreich integriert. Er verfüge über eine von 15. April 2018 bis 14. Juli 2021 gültige Beschäftigungsbewilligung und absolviere eine Lehre in einem Hotelbetrieb in Vorarlberg. Seinen Lebensunterhalt bestreite er von seinem monatlichen Einkommen. Er sei in Österreich sozialversichert. Es sei davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte auch in Zukunft in der Lage sein werde, für seinen Lebensunterhalt selbst aufzukommen. Im Übrigen sei er strafgerichtlich unbescholten und habe einen Deutschkurs des Niveaus A2 erfolgreich abgeschlossen. Derzeit besuche er einen Sprachkurs auf dem Niveau B1. Er habe ‑ durch zahlreiche Unterstützungserklärungen belegt ‑ in Österreich einen Freundes‑ und Bekanntenkreis aufgebaut. Er werde als freundlich, zuverlässig, fleißig, zielstrebig und sehr motiviert beschrieben. Er habe zahlreiche Bestätigungen betreffend seine Integrationsbemühungen vorgelegt, darunter ein positives Jahreszeugnis der Berufsschule, die Bestätigung des Besuchs eines Computerkurses und eines Seminares sowie die Teilnahmebestätigung an einem Integrationsprojekt. Aufgrund dessen gelangte das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis, dass die Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK zu Gunsten des Mitbeteiligten auszufallen habe. Es sei keine ausreichende Rechtfertigung zu erkennen, weshalb es öffentliche Interessen zwingend erforderten, dass der Mitbeteiligte Österreich verlassen müsse. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung erweise sich daher als dauerhaft unzulässig. Da der Mitbeteiligte über eine Bestätigung betreffend die erfolgreiche Ablegung der Integrationsprüfung A2 verfüge, sei ihm ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.

5 Die vorliegende Amtsrevision des BFA richtet sich nach ihrer Erklärung über den Umfang der Anfechtung gegen den Spruchpunkt A) A.2. des angefochtenen Erkenntnisses.

6 Vom Verwaltungsgerichtshof wurde nach Vorlage der Revision und der Verfahrensakten das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig und begründet.

8 Das BFA bringt zur Zulässigkeit der Amtsrevision vor, das Bundesverwaltungsgericht habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Es bestehe ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Dieses werde nur in Ausnahmefällen vom Interesse des Fremden an seinem Privatleben in Österreich überwogen. Eine derart außergewöhnliche Konstellation, dass trotz des erst etwa viereinhalbjährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten dessen Integration das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiege, liege im Revisionsfall nicht vor. Einer Berufstätigkeit und einer Ausbildung komme für sich betrachtet keine entscheidungswesentliche Bedeutung zu. Sämtliche vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Aspekte seien zudem dadurch gemindert, dass sie während eines unsicheren Aufenthaltsstatus entstanden seien. Darüber hinaus habe das Bundesverwaltungsgericht übersehen, dass der Mitbeteiligte in Deutschland wegen Urkundenfälschung strafgerichtlich verurteilt worden und daher nicht unbescholten sei.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Lehrverhältnissen bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG bereits festgehalten, dass die Berücksichtigung einer Lehre oder Berufsausübung als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden unzulässig ist und es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versuche, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).

10 Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. VwGH 20.11.2019, Ra 2019/20/0269, mwN).

11 Die Amtsrevision zeigt im Zusammenhang mit dem relativ kurzen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass noch nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. dazu etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289; 19.6.2019, Ra 2019/01/0051; 10.4.2019, Ra 2019/18/0049).

12 Das Bundesverwaltungsgericht hielt fest, dass der Mitbeteiligte seine in Österreich verbrachte Zeit genützt habe, um sich in vielerlei Hinsicht in die österreichische Gesellschaft zu integrieren, und dabei ein schützenwertes Privatleben in Österreich entwickelt habe. Es würdigte die guten Deutschkenntnisse, das Bestehen eines Lehrverhältnisses sowie die Schritte zur sozialen Integration des Mitbeteiligten. Dass diese aber zu einer außergewöhnlichen Konstellation führte lässt das angefochtene Erkenntnis nicht erkennen. Dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, hat das Bundesverwaltungsgericht zudem zu wenig Beachtung geschenkt. Die Interessenabwägung des Bundesverwaltungsgerichts steht sohin mit dem Gesetz nicht im Einklang (siehe zu einer vergleichbaren Konstellation auch VwGH 27.4.2020, Ra 2019/20/0402).

13 Das Erkenntnis war deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 26. Jänner 2021

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