Normen
BAO §115 Abs1
BAO §167 Abs2
EURallg
UStG 1994 §12 Abs1 Z1
VwGG §41
32006L0112 Mehrwertsteuersystem-RL Art168 lita
32006L0112 Mehrwertsteuersystem-RL Art9
62013CJ0018 Maks Pen VORAB
62014CJ0277 PPUH Stehcemp VORAB
62015CJ0332 Astone VORAB
62016CJ0664 Vadan VORAB
62019CJ0430 CF VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020130068.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ermittelt den Gewinn nach einem abweichenden Wirtschaftsjahr (Bilanzstichtag: 31. März).
2 Im Bericht über das Ergebnis einer Außenprüfung vom 14. Dezember 2012 wurde u.a. ausgeführt, im Zuge der Prüfung seien vier Eingangsrechnungen der N GmbH (vom 25. Juni bis 11. Juli 2012) vorgefunden worden, aus denen Vorsteuern in Höhe von insgesamt ca. 120.000 € „lukriert“ worden seien. Schon mangels richtiger Rechnungsadresse (der N GmbH) sei ein Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der N GmbH nicht zulässig. Aufgrund der Geschäftsabwicklung der Revisionswerberin mit der N GmbH gehe die Abgabenbehörde davon aus, dass die Revisionswerberin hätte wissen müssen, dass diese Umsätze in Zusammenhang mit Umsatzsteuerhinterziehungen oder sonstigen, die Umsatzsteuer betreffenden Finanzvergehen stünden: die im Firmenbuch eingetragene Adresse (X‑Gasse 4/8/25) existiere tatsächlich nicht; die Rechnungsadresse (X‑Gasse 48/25) sei eine vermietete Wohnung; es sei nicht ausreichend hinterfragt worden, ob D überhaupt berechtigt gewesen sei, Geschäfte für die N GmbH abzuschließen; zu erwähnen sei auch die Art der Zustellung mit dem Pkw des vermeintlichen Vertriebsleiters (D) mit Schweizer Kennzeichen; Alleingesellschafter und Geschäftsführer der N GmbH sei ein Ausländer, der erst kurz in Österreich gemeldet sei und die Anteile an der N GmbH (vorher ein Gastrobetrieb, jetzt Handel mit Waren aller Art) erst im Frühjahr 2012 gekauft habe. Dass die Verantwortlichen der Revisionswerberin Bedenken bezüglich der N GmbH gehabt hätten, zeige sich auch in der Kontaktaufnahme mit der Abgabenbehörde. Die Vorsteuern aus diesen Rechnungen seien nicht abzugsfähig.
3 Mit Bescheid vom 14. Dezember 2012 setzte das Finanzamt Umsatzsteuer für 6‑7/2012 fest. Das Finanzamt berücksichtigte dabei die in den Rechnungen der N GmbH ausgewiesenen Steuerbeträge nicht als Vorsteuern.
4 Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin Berufung. Sie beantragte die Berücksichtigung der bisher nicht anerkannten Vorsteuern.
5 Mit Bescheid vom 26. Juli 2017 setzte das Finanzamt Umsatzsteuer für das Jahr 2013 fest. In der Begründung verwies das Finanzamt darauf, dass im Prüfungsbericht vom 14. Dezember 2012 angeführte Vorsteuern nicht abzugsfähig seien.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesfinanzgericht die (nunmehrige) Beschwerde gegen (nunmehr) den Umsatzsteuerbescheid 2013 als unbegründet ab. Es sprach aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
7 Nach Wiedergabe des Verfahrensgeschehens führte das Bundesfinanzgericht im Wesentlichen aus, der Umsatzsteuer‑Jahresbescheid 2013 sei ‑ im Hinblick auf das abweichende Wirtschaftsjahr ‑ an die Stelle der ursprünglich bekämpften Bescheide über die Festsetzung der Umsatzsteuer für die Zeiträume Juni und Juli 2012 getreten. Die nunmehr als Beschwerde zu behandelnde Berufung wende sich daher gegen diesen Jahresbescheid.
8 Die im Firmenbuch ausgewiesene Adresse der N GmbH X‑Gasse „4/8/25“ existiere nicht. Auf den Rechnungen sei jedoch jeweils die Adresse X‑Gasse „48/25“ ausgewiesen gewesen. Hiebei handle es sich um eine vermietete Wohnung in einem Mehrparteienhaus; der Mieter stehe in keiner Verbindung zur N GmbH. Es könne der Ansicht der Revisionswerberin nicht entgegengetreten werden, wenn sie bei der Unterscheidung der beiden Anschriften einen Flüchtigkeitsfehler sehe. Es handle sich um einen geringfügigen Schreibfehler. Es bedürfe keiner Berichtigung der Rechnung, um den Vorsteuerabzug (grundsätzlich) zu erlangen. Der Vorsteuerabzug sei nicht deshalb zu versagen, weil sich die Anschrift des Rechnungsausstellers von jener im Firmenbuch unterscheide.
9 Die Revisionswerberin sei Steuerpflichtige im Sinne der Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Sie habe die zur Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug angeführten Gegenstände auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke ihrer besteuerten Umsätze verwendet. Die Gegenstände seien jedoch nicht auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert worden. Bei der N GmbH handle es sich um keinen Steuerpflichtigen, da die Gesellschaft nur zum Zweck eines Umsatzsteuermissbrauches gekauft worden sei (24. März 2012) und kurze Zeit danach die Konkurseröffnung beantragt worden sei, wobei aber das Insolvenzverfahren im Oktober 2012 mangels kostendeckenden Vermögens nicht eröffnet worden sei. Die Gesellschaft sei in der Folge (Oktober 2013) wegen Vermögenslosigkeit gemäß § 40 FBG gelöscht worden. Der in diesem Zeitraum alleinige Gesellschafter-Geschäftsführer sei weder an der im Firmenbuch angegebenen (nicht existierenden) Adresse noch an einer anderen Adresse in Österreich gemeldet gewesen. Da die Waren nicht von einem Steuerpflichtigen geliefert worden seien, lägen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nicht vor.
10 Die N GmbH sei ihren steuerlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen; sie habe die streitgegenständliche Umsatzsteuer nicht entrichtet, diese könne auch nicht zwangsweise eingebracht werden.
11 Die Revisionswerberin habe sowohl Lizenzen als auch iPads von der N GmbH bezogen und habe diese weiter geliefert. Die N GmbH habe weder Umsatzsteuervoranmeldungen noch Jahreserklärungen abgegeben. Schriftstücke an den Geschäftsführer seien mit dem Vermerk „Abgabestelle unbenutzt“ zurückgekommen; er sei weder für die Finanzverwaltung, noch für den „Masseverwalter im Insolvenzverfahren“ greifbar gewesen. Ansprechpartner für die Revisionswerberin während der aufrechten Geschäftsverbindung sei immer Herr D gewesen.
12 Beim EDV‑Handel handle es sich um eine „besonders gefährdete“ Branche, in der Umsatzsteuerbetrug häufig vorkomme. Bei Aufnahme neuer Lieferantenbeziehungen sei gegebenenfalls vor Ort zu prüfen, ob die handelnden Personen erreichbar seien und ein aktiver Betrieb unterhalten werde. Der im Firmenbuch ausgewiesene alleinige Gesellschafter-Geschäftsführer sei für die Revisionswerberin nicht erreichbar gewesen; dies sei auch nicht behauptet worden. Die Geschäfte seien ausschließlich über Herrn D abgewickelt worden.
13 Die vom Firmenbuch abweichende Geschäftsanschrift sei mit einem Flüchtigkeitsfehler bei der Rechnungsausstellung erklärt worden. Dieser Fehler scheine auf allen verfahrensgegenständlichen Rechnungen auf. Hinsichtlich der Überprüfung, ob der Lieferant tatsächlich einen aufrechten Betrieb unterhalte, sei vorgebracht worden, dass die Geschäftsräume des Lieferanten aufgesucht worden seien; dies sei mit ‑ nicht aussagekräftigen ‑ Fotos dokumentiert worden. Die „im Firmenbuch eingetragene und auf der Rechnung aufscheinende Adresse“ sei nicht überprüft worden. Das von der Revisionswerberin aufgesuchte Geschäftslokal habe sich an einer anderen Adresse befunden, was dahin erklärt worden sei, dass die Revisionswerberin von einem Warenlager ausgegangen und „eine derartige Existenz“ im Geschäftsleben nicht unüblich sei. Zu den Zahlungsmodalitäten sei auszuführen, dass nach Besichtigung der Ware diese sofort „per Eilüberweisung“ bezahlt worden sei.
14 Auch die Geschäftsanbahnung sei auf eine im Wirtschaftsleben ungewöhnliche Art und Weise erfolgt, nämlich indem Herr D auf telefonischem Wege an den Geschäftsführer der Revisionswerberin herangetreten sei. Herr D habe die Kontaktdaten über einen Bekannten erhalten und habe der Revisionswerberin in der Folge die Lizenzen und iPads zum Kauf angeboten. Hierbei hätte die Revisionswerberin „hellhörig werden müssen“.
15 Nachdem D nach erfolgter Lieferung auf einer sofortigen Zahlung bestanden habe, seien beim Geschäftsführer der Revisionswerberin Zweifel über die Ordnungsmäßigkeit dieser Lieferungen entstanden. Dies sei ableitbar aus einer Anfrage des Geschäftsführers beim damaligen steuerlichen Vertreter sowie aus einer Anfrage bei einem Außenprüfer des Finanzamtes, wie in einem derartigen Fall vorzugehen sei. In beiden Fällen sei der Geschäftsführer der Revisionswerberin auf die Möglichkeit einer Überrechnung hingewiesen worden, die jedoch von D abgelehnt worden sei. Vom Außenprüfer sei sogar darauf hingewiesen worden, dass diese Firma „mit Vorsicht zu genießen“ sei.
16 D sei nicht zur Geschäftsführung befugt gewesen. Die Geschäftsverbindung sei neu und von kurzer Dauer gewesen. Die liefernde Firma sei kurz vor den Umsätzen gekauft worden (Mantelkauf); der Geschäftsgegenstand sei geändert worden; bald darauf sei sie „in Konkurs“ gegangen.
17 Die Überprüfung des Geschäftspartners sei durch die Einholung eines Firmenbuchauszuges und Abfrage der UID‑Nummer erfolgt. Eine Überprüfung der tatsächlichen Existenz des Vertragspartners vor Ort oder durch „Google Maps“ sei gar nicht bzw. äußerst oberflächlich vorgenommen worden, da dem Vorbringen der Revisionswerberin nach die sich vom Firmenbuch unterscheidende Geschäftsanschrift nicht aufgefallen sei. Unstrittig stehe fest, dass die liefernde Firma über keine eigenen Büroräumlichkeiten am im Firmenbuch eingetragenen Sitz der Gesellschaft verfügt habe.
18 Auskünfte von Geschäftspartnern oder Abfragen aus Firmendatenbanken wie auch eine eindeutige Identifikation der Vertretungsbefugnis der handelnden natürlichen Personen seien ebenfalls nicht vorgenommen worden.
19 Die Lizenzen und iPads seien zu marktunüblich niedrigen Preisen bezogen worden. Die Revisionswerberin habe in diesem Zusammenhang nur vorgebracht, dass es sich bei diesen Produkten um keine niedrigeren Bezugspreise gehandelt habe. Sollte der Marktpreis der gelieferten Waren höher als die marktüblichen Preise sein, seien diese Geschäftsverbindung und die Vertragsbedingungen nur mit einer Steuerersparnis erklärbar. Nachgewiesen worden sei dieses Vorbringen durch die Revisionswerberin nicht.
20 Weder seien ernsthafte Preisverhandlungen erkennbar noch existierten persönliche Kontakte zum Lieferanten. Die Zahlung sei selbst bei diesen hohen Beträgen über „Blitzgiro“ erfolgt. Die Zustellung der Waren sei direkt über D in das Lager der Revisionswerberin erfolgt.
21 Die Ausführungen hinsichtlich der Echtheit der Lizenzen könnten der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen, da die Echtheit keine Auskunft darüber gebe, ob mit diesen Produkten ein Mehrwertsteuerbetrug begangen werde oder nicht.
22 Anhand der Mails sei ersichtlich, dass der Geschäftsführer der Revisionswerberin bereit gewesen sei, die gekauften Lizenzen sofort zu bezahlen. Die Nachfrage beim damaligen steuerlichen Vertreter könne nur „in der Absicherung“ der Revisionswerberin „gesehen werden“, dass sie allen ihr gebotenen Sorgfaltspflichten nachgekommen sei und ihr die fehlende Gutgläubigkeit nicht vorwerfbar sei. Auch der Mailverkehr bestärke den Eindruck einer ungewöhnlichen Geschäftsabwicklung. Das Mail des Geschäftsführers der Revisionswerberin mit dem Inhalt: „... können sie auch ipads 3/ 16 bzw. 64 GB schwarz anbieten?“ runde in Anbetracht der Gesamtumstände nur das Bild ab, auch wenn der steuerliche Vertreter vorbringe, dass die Farbe schwarz gemeint gewesen sei. Im österreichischen Sprachgebrauch lasse diese Formulierung nur einen Kontext herstellen, nämlich eine Steuerhinterziehung zu begehen, vor allem deshalb, weil das Modell in „schwarzer“ Farbe im deutschen Raum nicht erhältlich sei. Die branchenübliche Bezeichnung der Farbe sei ‑ auch im deutschen Sprachgebrauch ‑ „space gray“ gewesen, die auch bei Bestellung und Ausstellung der Rechnung dieser iPads angeführt werde.
23 Aus den angeführten Gründen lasse sich der Schluss ableiten, dass sich die Revisionswerberin der besonderen Ungewöhnlichkeit der Umstände der Geschäftsabwicklung bewusst gewesen sei und nicht die erforderlichen Sorgfaltspflichten erfüllt habe und somit vom Mehrwertsteuerbetrug gewusst habe oder davon hätte wissen müssen.
24 Damit stehe der Revisionswerberin das Recht auf Vorsteuerabzug nicht zu.
25 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision.
26 Nach Einleitung des Vorverfahrens hat das Finanzamt eine Revisionsbeantwortung eingebracht.
27 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
28 Die Revision ist zulässig und begründet.
29 Gemäß § 12 Abs. 1 Z 1 UStG 1994 kann der Unternehmer u.a. die von anderen Unternehmern in einer Rechnung (§ 11) an ihn gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die im Inland für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen.
30 Es entspricht der ständigen ‑ neueren ‑ Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt. Die Steuerverwaltung darf das Recht auf Vorsteuerabzug in einem solchen Fall nicht verweigern, wenn sie über sämtliche Daten verfügt, um zu prüfen, ob die für dieses Recht geltenden materiellen Voraussetzungen erfüllt sind. Dabei darf sich die Steuerverwaltung nicht auf die Prüfung der Rechnung selbst beschränken. Sie hat auch die vom Steuerpflichtigen beigebrachten zusätzlichen Informationen zu berücksichtigen (vgl. zuletzt VwGH 19.5.2020, Ro 2019/13/0030, mwN).
31 Anders verhält es sich, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden. Ebenso ist das Recht auf Vorsteuerabzug zu verweigern, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Wusste der Steuerpflichtige, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war, oder hätte er dies wissen müssen, so ist der Vorsteuerabzug zu verweigern (vgl. neuerlich VwGH 19.5.2020, Ro 2019/13/0030, mwN; EuGH 4.6.2020, SC C.F., C‑430/19, Rn. 43).
32 Die für die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug erforderlichen materiellen Voraussetzungen sind in Art. 168 Buchstabe a der Richtlinie 2006/112/EG aufgezählt. Demnach ist es erforderlich, dass der Betroffene Steuerpflichtiger (im Sinne der Richtlinie) ist und dass die zur Begründung des Abzugsrechts angeführten Leistungen vom Steuerpflichtigen auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden und dass diese Leistungen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen erbracht wurden (vgl. wiederum VwGH 19.5.2020, Ro 2019/13/0030, mwN).
33 Zunächst ist festzuhalten, dass die Eigenschaft einer Person als Unternehmer („Steuerpflichtiger“ im Sinne der Richtlinie 2006/112/EG ) nicht davon abhängt, ob die Pflichten zur Abgabe einer Steuererklärung und zur Entrichtung der Mehrwertsteuer erfüllt werden (vgl. EuGH 22.10.2015, PPUH Stehcemp, C‑277/14, Rn. 39). Der Vorsteuerabzug der Revisionswerberin kann demnach ‑ entgegen der Ansicht des Bundesfinanzgerichts ‑ nicht bereits mit der Begründung versagt werden, dass die N GmbH keine Steuerpflichtige gewesen sei.
34 Ob der Steuerpflichtige vom Mehrwertsteuerbetrug (hier) eines Lieferanten wusste oder hätte wissen müssen, hängt von Tatfragen ab, die die Abgabenbehörde oder das Verwaltungsgericht in freier Beweiswürdigung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen hat. Die Beweiswürdigung (zu diesen Tatfragen) unterliegt der Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes insoweit, als das Ausreichen der Sachverhaltsermittlungen und die Übereinstimmung der behördlichen Überlegungen zur Beweiswürdigung mit den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut zu prüfen ist (vgl. VwGH 19.12.2018, Ra 2017/15/0012; 12.6.2019, Ro 2017/13/0011, je mwN).
35 Das Bundesfinanzgericht führt u.a. aus, die Revisionswerberin habe vom Mehrwertsteuerbetrug gewusst oder hätte hievon wissen müssen. Feststellungen dazu, dass die Revisionswerberin von der Mehrwertsteuerhinterziehung der N GmbH tatsächlich gewusst habe, hat das Bundesfinanzgericht aber nicht getroffen; hiezu sind auch keine beweiswürdigenden Erwägungen erkennbar. Die Frage des Wissens ist aber (anders als jene des Wissen-Müssens) eine Sachverhaltsfrage (vgl. etwa RIS‑Justiz RS0010192; RS0038811). Ausgehend von den Sachverhaltsannahmen des Bundesfinanzgerichts kann sohin die Versagung des Vorsteuerabzuges nicht darauf gestützt werden, dass die Revisionswerberin von der Mehrwertsteuerhinterziehung der N GmbH gewusst habe.
36 Aber auch den Ausführungen des Bundesfinanzgerichts zum „Wissen‑Müssen“ der Revisionswerberin fehlt es an einer ausreichenden Begründung.
37 Ein Steuerpflichtiger kann bei Vorliegen von Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung dazu verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen. Die Steuerverwaltung kann jedoch von einem Steuerpflichtigen nicht generell verlangen, einerseits zu prüfen, ob der Aussteller der Rechnung über die Gegenstände und Dienstleistungen verfügte und sie liefern konnte und seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer nachgekommen ist, um sich zu vergewissern, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorhergehenden Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung vorliegen, oder anderseits entsprechende Urkunden vorzulegen (vgl. EuGH 4.6.2020, SC C.F., C‑430/19, Rn. 47).
38 Auch wenn es sich beim EDV‑Handel (hier Handel mit Tablets sowie Lizenzen für Software) um eine „gefährdete Branche“ handeln mag (vgl. auch den Sachverhalt zu VwGH 26.3.2014, 2009/13/0172, VwSlg. 8902/F: Großhandel mit Computerteilen im Jahr 2002), kann (in Bezug auf den Vorsteuerabzug) eine generelle Verpflichtung, vor Aufnahme neuer Lieferantenbeziehungen vor Ort (an der im Firmenbuch eingetragenen Anschrift) zu prüfen, ob handelnde Personen erreichbar seien und ein aktiver Betrieb unterhalten werde, nicht angenommen werden. Insbesondere kann eine wirtschaftliche Tätigkeit auch von anderen Orten als dem Gesellschaftssitz ausgeführt werden (vgl. auch hiezu etwa EuGH 22.10.2015, PPUH Stehcemp, C‑277/14, Rn. 35; VwGH 23.12.2015, 2012/13/0007). Eine von der Revisionswerberin als Warenlager angesehene Geschäftslokalität, die erkennbar der N GmbH zuzuordnen war, wurde von einem Mitarbeiter der Revisionswerberin aber aufgesucht.
39 Dass eine Geschäftsanbahnung auf telefonischem Wege ungewöhnlich sei, bedürfte näherer Begründung; beweiswürdigende Erwägungen zu dieser Annahme des Bundesfinanzgerichts sind nicht erkennbar. Wie auch das Bundesfinanzgericht anführt, habe der Anrufer D die Kontaktdaten „über einen Bekannten“ (nach den Aussagen des Vertriebsleiters der Revisionswerberin: einem Mitarbeiter einer Gesellschaft, mit der die Revisionswerberin in regelmäßiger Geschäftsbeziehung stehe) erhalten. Warum die Revisionswerberin in diesem Zusammenhang hätte „hellhörig werden müssen“, ist ebenfalls nicht erkennbar.
40 Unklar (und zum Teil hypothetisch) sind die Darlegungen des Bundesfinanzgerichts dazu, ob der Einkaufspreis der Revisionswerberin bei der N GmbH marktunüblich niedrig oder hoch („Sollte der Marktpreis der gelieferten Ware höher als die marktüblichen Preise sein, ...“) gewesen sei. Eine konkrete beweiswürdigende Auseinandersetzung mit dem diesbezüglichen Vorbringen der Revisionswerberin erfolgte nicht.
41 Aktenwidrig sind die Ausführungen des Bundesfinanzgerichtes betreffend „Schwarzgeschäfte“; die branchenübliche Bezeichnung für die „schwarze“ Farbe sei „space gray“, was auch in Rechnungen angeführt werde. Im Arbeitsbogen des Außenprüfers finden sich Rechnungen (der Revisionswerberin und von Dritten), in denen der Leistungsgegenstand u.a. mit „iPad ... schwarz“ beschrieben ist (Blätter 223 ff im Arbeitsbogen). Im Übrigen erscheinen die Ausführungen des Bundesfinanzgerichts zu diesem Thema auch inhaltlich wenig überzeugend, sind doch „Schwarzgeschäfte“ im Wesentlichen durch mangelnde Dokumentation und Barzahlungen geprägt. Die Revisionswerberin macht aber Vorsteuerbeträge geltend, die regelmäßig durch Rechnungen zu belegen sind und damit die Geschäftsfälle dokumentieren; Barzahlungen erfolgten nicht.
42 Auch dass Rückfragen der Revisionswerberin (an den Steuerberater und den Außenprüfer des Finanzamts) ‑ wie das Bundesfinanzgericht ausführt ‑ nur dazu gedient hätten, dass der Revisionswerberin die fehlende Gutgläubigkeit nicht vorwerfbar sei (also nicht dazu, um Auskünfte über ein gebotenes Vorgehen einzuholen, sondern nur um den Anschein eines sorgfältigen Vorgehens zu erwecken), bedürfte näherer Begründung; auch zu dieser Annahme des Bundesfinanzgerichtes fehlen beweiswürdigende Erwägungen.
43 Insgesamt wurden sohin in die Beurteilung (Gesamtbetrachtung) des Wissen‑Müssens Umstände einbezogen, die zum Teil einer ergänzenden Begründung bedürften oder auf Aktenwidrigkeiten beruhen. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
44 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 27. Jänner 2021
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