VwGH Ra 2020/01/0485

VwGHRa 2020/01/04853.5.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 21. Oktober 2020 mündlich verkündete und am 25. November 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, Zl. G301 2231896‑1/10E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: J N in H), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §8 Abs1
EURallg
MRK Art2
MRK Art3
32011L0095 Status-RL Art3
62013CJ0542 M'Bodj VORAB
62016CJ0652 Ahmedbekova VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010485.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Vorgeschichte

1 Die Mitbeteiligte, eine Staatsangehörige von Venezuela (Bolivarische Republik Venezuela), stellte am 20. Jänner 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 30.April 2020 wurde der Antrag der Mitbeteiligten auf internationalen Schutz vollinhaltlich abgewiesen, kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Venezuela zulässig sei und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

3 Begründend führte das BFA nach Feststellungen zur Lage in Venezuela zur Situation der Mitbeteiligten im Fall ihrer Rückkehr nach Venezuela im Wesentlichen aus, sie habe keinerlei Gründe angeführt, welche gegen eine Rückkehr sprächen. So seien keine konkreten Umstände hervorgekommen, dass die Mitbeteiligte bei einer Rückkehr nicht wieder am Erwerbsleben teilnehmen könnte. Die Mitbeteiligte verfüge über Schulbildung und ein breites Spektrum an Arbeitserfahrung. Sodann verwies das BFA auf die verschiedenen Formen der Unterstützung durch die Rückkehrhilfe, mit welcher der Neubeginn der Rückkehrenden während der Anfangsphase erleichtert würde. Zudem könne eine vorübergehende Unterstützung durch die Familie und Großfamilie der Mitbeteiligten, welche weiterhin in Venezuela, Chile, Argentinien, Ecuador und den Vereinigten Staaten lebten, angenommen werden und es sei davon auszugehen, dass diese die Mitbeteiligte zumindest anfänglich mit finanzieller Zuwendung, gegebenenfalls auch mit Wohnraum unterstützten. Die Mitbeteiligte sei der in Venezuela üblichen Landessprachen mächtig, gesund und verfüge über ein ausreichendes soziales Netzwerk in Venezuela „und umliegenden Ländern“. Daher sei es aus Sicht des BFA überaus unwahrscheinlich, dass die Mitbeteiligte im Fall einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat in eine ausweglose Lage geraten würde.

4 Gegen diesen Bescheid erhob die Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). In der mündlichen Verhandlung zog die Mitbeteiligte ihre Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten zurück und wurde das Verfahren durch das BVwG insoweit mit Beschluss eingestellt.

Angefochtenes Erkenntnis

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BVwG der Beschwerde im Übrigen statt, erkannte der Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Venezuela zu, erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung, behob die übrigen Spruchpunkte des Bescheides des BFA ersatzlos und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

6 Begründend führte das BVwG zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten nach Feststellungen zur Lage in Venezuela Folgendes aus:

„Venezuela befindet sich derzeit in einer politisch äußerst instabilen Lage, die aktuell von einer massiven politischen und mittlerweile auch von zahlreichen gewaltsamen Vorfällen begleiteten Auseinandersetzung zwischen dem amtierenden Staatspräsidenten Nicolás Maduro und den ihm gegenüber loyalen staatlichen Institutionen (insbesondere den Streitkräften und den Sicherheitsbehörden wie dem Inlandsgeheimdienst) einerseits und dem Präsidenten der venezolanischen Nationalversammlung Juan Guaidó (als teilweise bereits international anerkannten ‚Interims-Präsidenten‘ mit Berufung auf die geltende venezolanische Verfassung) und seinen Anhängern andererseits geprägt ist. Überdies herrscht in Venezuela schon seit längerer Zeit eine nunmehr als äußerst prekär zu qualifizierende Versorgungs- und Sicherheitslage, die weitgehend durch die Politik von Präsident Nicolás Maduro und das Verhalten der ihm untergebenen staatlichen Einrichtungen verursacht und verschuldet ist. So herrscht im gesamten Staatsgebiet, insbesondere auch in der Hauptstadt Caracas und den übrigen großen Städten, ein permanenter Mangel an Grundnahrungsmitteln und Medikamenten sowie sonstigen notwendigen Gütern des täglichen Bedarfs wie Hygieneartikel, wobei die Beschaffung solcher Güter oft nur noch am ‚Schwarzmarkt‘ mit immensen Kosten (vor allem auch aufgrund einer stetig steigenden hohen Inflation und ständigen Abwertung der nationalen Währung) möglich ist, zumal auch die Einfuhr und anschließende Verteilung von international bereitgestellten Hilfslieferungen aus dem Ausland bislang von den staatlichen Organen, insbesondere den Streitkräften, im Auftrag des Präsidenten wiederholt aktiv verhindert oder behindert werden. Eine medizinische Basisversorgung der Bevölkerung durch öffentliche Gesundheitseinrichtungen ist kaum noch sichergestellt, während die Inanspruchnahme von noch vorhandenen privaten Gesundheitseinrichtungen mit immensen Kosten verbunden ist, die in aller Regel aber schon im Voraus bezahlt werden müssen. So ist die Verfügbarkeit von notwendigen Impfstoffen und eine ausreichende medizinische Versorgung insbesondere von Schwangeren und Kindern nicht mehr gewährleistet, was zu einem starken Anstieg von Infektionskrankheiten und einer hohen Säuglingssterblichkeit geführt hat. Was die allgemeine Sicherheitslage anbelangt, ist festzuhalten, dass in fast allen Teilen Venezuelas der Alltag von einer ausufernden Kriminalität und zahlreichen Fällen massiver und auch willkürlich ausgeübter Gewalt geprägt ist, wobei die staatlichen Einrichtungen immer stärker nicht in der Lage oder ganz bewusst nicht willens waren, dagegen tätig zu werden.

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat droht der Mitbeteiligten somit durch die direkte Einwirkung und durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer unmenschlichen Behandlung und damit einer Verletzung von nach Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechten.

Der Vollständigkeit halber ist im Hinblick auf die zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen festzuhalten, dass konkrete Umstände dahingehend, dass eine Rückführung nach Venezuela für die Mitbeteiligte als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, hingegen nicht anzunehmen waren.“

7 In rechtlicher Hinsicht ergebe sich somit, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Venezuela gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 gegeben seien, zumal der Mitbeteiligten im Fall der Rückkehr nach Venezuela mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund von außergewöhnlichen Umständen eine reale Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK drohen würde.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision.

9 Die Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zulässigkeit

10 Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vor, das BVwG sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten abgewichen. Es habe nicht einzelfallbezogen oder nachvollziehbar begründet, welche konkreten Umstände den Ausschlag für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigen gegeben hätten. Dies sei wesentlich, weil das BFA im angefochtenen Bescheid dargelegt habe, dass die Mitbeteiligte gesund und arbeitsfähig sei, von ihrer Familie unterstützt werden könne und selbst gar nicht behauptet habe, aufgrund der allgemeinen Lebensbedingungen nicht in ihren Herkunftsstaat zurückkehren zu können. Dass die Mitbeteiligte einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt wäre, habe das BVwG ausdrücklich verneint.

11 Die Revision ist zulässig und begründet.

Zum Status des subsidiär Schutzberechtigten und Art. 3 EMRK

12 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) ist es dem nationalen Gesetzgeber ‑ auch unter Berufung auf Art. 3 der Statusrichtlinie ‑ verboten, Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, die einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten unabhängig von einer Verursachung durch Akteure oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat zuerkennen (vgl. VwGH 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, mwN auf die Rechtsprechung des EuGH, insbesondere EuGH 18.12.2014, C‑542/13, M’Bodj, und 4.10.2018, C‑652/16, Ahmedbekova).

13 Jedoch hat der Verwaltungsgerichtshof auch dargelegt, dass eine Interpretation, mit der die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit dem in der Judikatur des EuGH dargelegten Verständnis des subsidiären Schutzes nach der Statusrichtlinie in Übereinstimmung gebracht würde, die Grenzen der Auslegung nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln überschreiten und zu einer ‑ unionsrechtlich nicht geforderten ‑ Auslegung contra legem führen würde. Damit würde der Statusrichtlinie zu Unrecht eine ihr im gegebenen Zusammenhang nicht zukommende unmittelbare Wirkung zugeschrieben. Infolge dessen sei an der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat ‑ auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird ‑ die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen kann, festzuhalten (vgl. VwGH 23.4.2020, Ra 2019/01/0368-0371, mit Verweis auf VwGH 25.9.2019, Ra 2019/19/0399-0400).

14 Daher ist vorliegend ‑ bis zur Schaffung einer unionsrechtskonformen Rechtslage durch den Gesetzgeber des AsylG 2005 ‑ weiterhin davon auszugehen, dass eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK auch durch Umstände, die nicht auf eine Verursachung durch Akteure oder eine Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat das Verhalten von Akteuren zurückzuführen sind, nach nationalem Recht den Status des subsidiär Schutzberechtigten begründen kann (vgl. auch hiezu VwGH 23.4.2020, Ra 2019/01/0368-0371, mwN).

Prüfung von Art. 3 EMRK bei Außerlandesschaffung

15 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden hg. Judikatur ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa aus jüngster Zeit VwGH 16.3.2021, Ra 2020/19/0324, mwN der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes).

16 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auch festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein ‑ im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen ‑ höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (vgl. aus jüngerer Zeit etwa VwGH 10.2.2021, Ra 2020/19/0353, und VwGH 9.11.2020, Ra 2020/20/0373, jeweils mwN, vgl. bereits VwGH 21.2.2017, Ra 2016/18/0137, mit Verweis auf EGMR 28.6.2011, Sufi and Elmi/United Kingdom, Nr. 8319/07 und 11449/07, Rz. 217 und 218, mwN).

17 Der Verwaltungsgerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auch auf die ständige Judikatur des EGMR, wonach es ‑ abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde ‑ grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos darzulegen, dass ihr im Fall der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. aus jüngster Zeit etwa VwGH 16.3.2021, Ra 2020/19/0324, mwN, und etwa VwGH 7.9.2020, Ra 2020/01/0273, mwN). In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof auf Rechtsprechung des EGMR hingewiesen, welche insoweit auf die allgemeine Sicherheitslage („general security situation“) eingeht (vgl. VwGH 29.6.2020, Ra 2020/01/0119, mit Verweis auf EGMR 25.2.2020, A.S.N. u.a./Niederlande, 68377/17 und 530/18 [vgl. dort Rz. 105], sowie VwGH 12.12.2019, Ra 2019/01/0243, mit Verweis auf EGMR 5.7.2016, A.M./Niederlande, 29.094/09, Rz. 87; vgl. zu diesem Thema grundsätzlich ‑ zu den „General principles applicable in expulsion cases“ ‑ EGMR 28.6.2011, Sufi and Elmi/United Kingdom, 8319/07 und 11.449/07, Rz. 217, und Grabenwarter/Pabel, EMRK [7. Auflage 2021], § 20 Rn. 86: „allgemeine Gewaltsituation“).

Auseinandersetzung mit dem Bescheid des BFA

18 Gemäß § 18 VwGVG ist Partei (des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens) auch die belangte Behörde. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist damit zumindest ein Zweiparteienverfahren, in dem der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, die gleichen Parteirechte (unter anderem Recht auf Akteneinsicht, Parteiengehör, Ladung zur Verhandlung, Fragerecht an die Parteien, Zeugen und Sachverständigen, Zustellung der Entscheidung) wie dem Beschwerdeführer zukommen. Es stehen sich damit der Beschwerdeführer und die belangte Behörde im verwaltungsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich gleichberechtigt gegenüber. Wenn das BVwG von der Entscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) abweichen will, ist es daher gehalten, auf die beweiswürdigenden Argumente des BFA einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. etwa VwGH 29.1.2021, Ra 2020/01/0422, mwN)

Einzelfallbezogene Beurteilung

19 Ausgehend von den oben angeführten Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erweist sich die Amtsrevision als begründet:

20 Die in den Feststellungen angeführte „ausufernde Kriminalität“ und die „zahlreichen Fälle[ ] massiver und auch willkürlich ausgeübter Gewalt“ belegen vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Art. 3 EMRK (vgl. oben Rn. 16 und 17 zur allgemeinen Sicherheitslage bzw. Gewaltsituation) noch nicht das für eine Verletzung von Art. 3 EMRK geforderte Ausmaß.

21 Nur das Vorliegen einer derartigen Art. 3 EMRK verletzenden allgemeinen Sicherheitslage bzw. Gewaltsituation würde eine Prüfung der besonderen in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründeten Umstände entbehrlich machen (vgl. nochmals VwGH Ra 2019/01/0243, mit Verweis auf EGMR 5.7.2016, A.M./Niederlande, 29.094/09, Rz. 87, und weiter EGMR 28.6.2011, Sufi and Elmi/United Kingdom, 8319/07 und 11.449/07, Rz. 217, sowie Grabenwarter/Pabel, EMRK [7. Auflage 2021], § 20 Rn. 86).

22 Darüber hinaus ist ‑ worauf die Amtsrevision zutreffend hinweist ‑ dem angefochtenen Erkenntnis keine von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geforderte Einzelfallprüfung zu entnehmen. Das BVwG gab zwar im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung die festgestellte Situation im Herkunftsstaat wieder, berücksichtigte bei seiner Beurteilung aber weder die persönlichen Umstände der Mitbeteiligten noch ihre individuelle Lage im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat.

23 In diesem Zusammenhang beschäftigte sich das BVwG entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht mit den (entgegenstehenden) Argumenten des BFA im erstinstanzlichen Bescheid. Das BFA ging unter anderem davon aus, dass die Mitbeteiligte gesund und nicht vulnerabel sei und zudem im Falle ihrer Rückkehr von ihrer Familie finanziell unterstützt und mit Wohnraum versorgt werden würde, und kam zum Schluss, dass bei einer Rückkehr der Mitbeteiligten nach Venezuela ein reales Risiko einer Verletzung des Art. 2 und 3 EMRK nicht gegeben sei.

Ergebnis

24 Aus diesen Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 3. Mai 2021

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte