VwGH Ra 2020/22/0198

VwGHRa 2020/22/019812.11.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien vom 26. Juni 2020, VGW‑151/053/2689/2019‑13, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: N L, vertreten durch die Marschall & Heinz Rechtsanwalts‑Kommanditpartnerschaft in 1010 Wien, Goldschmiedgasse 8), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37
IPRG §6
NAG 2005 §46 Abs1 Z2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwGVG 2014 §28 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020220198.L00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Ein Kostenersatz findet nicht statt.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien (VwG) wurde der Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (belangte Behörde vor dem VwG, Revisionswerber), mit dem der Antrag der Mitbeteiligten, einer syrischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) wegen Vorliegen einer Stellvertreterehe abgewiesen worden war, gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG behoben und die Angelegenheit ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ zur Erlassung eines neuen Bescheides an den Revisionswerber zurückverwiesen. Eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt.

Begründend führte das VwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe nicht ermittelt, ob bei der Eheschließung von einer Stellvertretung in der Form oder im Willen auszugehen sei (Hinweis auf eine zur als vergleichbar angesehenen deutschen Rechtslage ergangene Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 8.12.2010, 3 W 175/10: eine Vertretung im Willen liefe jedenfalls dem deutschen ordre public zuwider).

2 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende Amtsrevision.

3 In der Revisionsbeantwortung wurde beantragt, die Revision abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

4 Der Revisionswerber rügt in der Zulässigkeitsbegründung mit näheren Ausführungen ein Abweichen des angefochtenen Beschlusses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zulässigkeit der Zurückverweisung gemäß § 28 VwGVG.

5 Die Revision erweist sich im Hinblick auf dieses Vorbringen als zulässig und auch begründet.

6 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG normiert diese Bestimmung einen prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen, zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Liegen die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG für eine Sachentscheidung vor, hat das Verwaltungsgericht jedenfalls eine solche zu treffen. Zudem hat das Verwaltungsgericht nachvollziehbar zu begründen, wenn es seine meritorische Entscheidungszuständigkeit nicht als gegeben annimmt (vgl. VwGH 8.11.2018, Ra 2018/22/0041, Rn. 6, mwN).

7 Im vorliegenden Fall stützte der Revisionswerber seine Entscheidung auf§ 6 IPRG, wonach eine Bestimmung des fremden Rechts nicht anzuwenden ist, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das mit den Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar ist. Die Ehe der Mitbeteiligten sei in Syrien in Abwesenheit ihres Ehegatten und ohne dessen persönlicher Erklärung des freien Willen des Eingehens einer ehelichen Lebensgemeinschaft geschlossen worden; eine solche Stellvertreterehe verstoße gegen den „ordre‑public‑Grundsatz“ (Hinweis auf mehrere Entscheidungen des EGMR). Am 14.9.2018 habe die Mitbeteiligte ihren Ehemann in Beirut (erneut) kirchlich geheiratet; eine lediglich religiöse Eheschließung könne jedoch nicht akzeptiert werden, weshalb die Mitbeteiligte weiterhin nicht als Familienangehörige nach dem NAG gelte.

8 Angesichts dessen kann nicht gesagt werden, der Revisionswerber habe jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen oder lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt. Auch wenn der Bescheid keine Feststellungen hinsichtlich der Art der Vertretung enthält, rechtfertigt dies für sich genommen keine Behebung und Zurückverweisung, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Verhandlung vervollständigt werden können. Der Umstand, dass die Mitbeteiligte und ihr Ehemann in Beirut erneut ‑ nunmehr in Anwesenheit beider Eheleute ‑ kirchlich heirateten (vgl. dazu die im Verfahrensakt befindliche Niederschrift einer Aussage des Ehemannes vom 23.10.2018), spricht gegen das Vorliegen einer Vertretung im Willen. Allfällige Zweifel daran hätte das VwG im Rahmen einer mündlichen Verhandlung klären können.

9 Der angefochtene Beschluss war daher in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

10 Kosten waren nicht zuzusprechen, weil die Mitbeteiligte gemäß § 47 Abs. 3 VwGG nur im Fall der Abweisung der Revision Anspruch auf Aufwandersatz hätte.

Wien, am 12. November 2020

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