VwGH Ra 2020/21/0438

VwGHRa 2020/21/043822.12.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. September 2020, I408 2235221‑1/3E, betreffend Aufenthaltsverbot (Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG), mitbeteiligte Partei: R P in L, im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §67 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwGVG 2014 §28 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210438.L00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein rumänischer Staatsangehöriger, wurde im Juni 1992 in Österreich geboren und ist hier aufgewachsen. Im Hinblick auf seine wiederholte Straffälligkeit wurde gegen ihn mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13. Juli 2016 ein mit drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot rechtskräftig erlassen. Nachdem vom weiteren Vollzug einer über ihn verhängten Freiheitsstrafe gemäß § 133a StVG vorläufig abgesehen worden war, reiste der Mitbeteiligte entsprechend seiner davor abgegebenen Erklärung am 18. Oktober 2016 freiwillig in seinen Herkunftsstaat Rumänien aus. Nach einer dem Aufenthaltsverbot zuwider erfolgten Wiedereinreise nach Österreich wurde der Mitbeteiligte am 6. November 2018 nach Rumänien abgeschoben.

2 Nachdem der Mitbeteiligte neuerlich nach Österreich gekommen war, wurde er hier wiederum straffällig und am 16. Mai 2020 in Untersuchungshaft genommen. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Linz vom 10. Juli 2020 wurde er sodann wegen gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach den §§ 127, 129 Abs. 1 Z 3, 130 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 12 Monaten verurteilt, die er derzeit in einer Justizanstalt verbüßt.

3 Nachdem das BFA von der Anhaltung des Mitbeteiligten in Untersuchungshaft verständigt worden war, beabsichtigte es, für den Fall einer rechtskräftigen Verurteilung gegen ihn ein Aufenthaltsverbot zu erlassen. Davon setzte es den Mitbeteiligten in Kenntnis und gab ihm dazu mit Schreiben vom 19. Mai 2020 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen, wobei er um die Beantwortung von mehreren Fragen (unter anderem) zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen ersucht wurde. Hierauf erfolgte keine Reaktion.

4 In der Folge erließ das BFA gegen den Mitbeteiligten mit Bescheid vom 12. August 2020 gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein mit acht Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Unter einem sprach das BFA aus, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 70 Abs. 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt und gemäß § 18 Abs. 3 BFA‑VG einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt werde.

5 Aufgrund der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten, in der ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt worden war, behob das BVwG mit dem angefochtenen Beschluss vom 28. September 2020 gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG den Bescheid des BFA vom 12. August 2020 und verwies die Angelegenheit zur allfälligen Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück. Des Weiteren sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

6 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens ‑ der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

7 Zur Zulässigkeit der Amtsrevision macht das BFA im Sinne des Begründungserfordernisses nach § 28 Abs. 3 VwGG zusammengefasst geltend, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur eingeschränkten Möglichkeit einer Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen (Hinweis auf das grundlegende Erkenntnis VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063, und daran anschließende Judikate).

8 Dieser Einwand trifft ‑ wie die weiteren Ausführungen zeigen ‑ zu, weshalb sich die Revision unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG als zulässig und auch als berechtigt erweist.

9 Das BVwG erachtete die Voraussetzungen für die von ihm ausgesprochene Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG den Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung zufolge in erster Linie deshalb für gegeben, weil sich das BFA mit den konkreten Lebensumständen des Mitbeteiligten nicht ausreichend auseinandergesetzt und es vor allem unterlassen habe, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt „über eine persönliche Einvernahme abzuklären“.

10 Dabei ließ das BVwG jedoch die diesbezügliche ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes außer Acht, wonach dieser Umstand nicht zur Zurückverweisung berechtigt, weil es grundsätzlich immer auch Aufgabe des BVwG ist, sich vor Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung selbst einen persönlichen Eindruck vom Fremden zu verschaffen, sofern nicht ausnahmsweise ein eindeutiger Fall gegeben ist (siehe dazu VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0247, Rn. 8, mit dem Hinweis auf VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0105, Rn. 13, und auf VwGH 25.9.2018, Ra 2017/21/0253, Rn. 15).

11 An anderer Stelle der Begründung vermisste das BVwG dann konkret Ermittlungen des BFA zu den Fragen, wo sich der Mitbeteiligte in den letzten Jahren aufgehalten, wie er seinen Lebensunterhalt bestritten und wie sich die Beziehung zu den in Österreich lebenden Angehörigen gestaltet habe.

12 Das BFA hatte dem Mitbeteiligten dazu jedoch ohnehin eine schriftliche Äußerungsmöglichkeit eingeräumt (siehe oben Rn. 3), sodass nicht gesagt werden kann, es habe insoweit jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt (vgl. zu diesen Voraussetzungen zur Rechtfertigung einer Zurückverweisung VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0105, Rn. 12, und VwGH 25.9.2018, Ra 2017/21/0253, Rn. 14). Vielmehr war die unterlassene Mitwirkung des Mitbeteiligten im Verfahren vor dem BFA dafür kausal, dass in der Beschwerde erstmals vorgebrachte Tatsachen ‑ soweit sie nicht dem Neuerungsverbot des § 20 Abs. 1 BFA‑VG unterlagen ‑ die Notwendigkeit von Ermittlungen des BVwG, zweckmäßigerweise im Rahmen der durchzuführenden mündlichen Verhandlung, auslösten.

13 In diesem Zusammenhang bemängelte das BVwG noch, die Übernahme des Schreibens vom 19. Mai 2020 durch den Mitbeteiligten sei im Akt nicht dokumentiert. Dazu ist einzuräumen, dass der Inhalt des diesbezüglichen Rückscheins (Seite 65 der vorgelegten Verwaltungsakten) nicht eindeutig ist. Allerdings wurde die Wirksamkeit dieser Zustellung in der Beschwerde nicht in Abrede gestellt, sondern nur die Unterlassung einer persönlichen Einvernahme des Mitbeteiligten gerügt, sodass ein diesbezüglicher (unverhältnismäßiger) Ermittlungsbedarf, der eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG erlaubt hätte, nicht zu sehen ist.

14 Gleiches gilt für den Vorwurf des BVwG, der Behördenakt sei unvollständig vorgelegt worden; insbesondere seien die gegen den Mitbeteiligten ergangenen Strafurteile aus den Jahren 2015 und 2016 sowie aus 2020 und der Aufenthaltsverbotsbescheid aus 2016 nicht enthalten.

15 Richtig ist zwar, dass sich in dem vorliegenden Behördenakt nur fünf den Mitbeteiligten betreffende Strafurteile befinden; das vom BFA angeforderte Urteil aus 2012 (jenes aus 2015 ist vorhanden) und das Urteil aus 2016, insbesondere aber das Urteil vom 10. Juli 2020, fehlen, obwohl sich das BFA in seinem Bescheid auf dieses letzte gegen den Mitbeteiligten ergangene Strafurteil ausdrücklich als Beweismittel bezog. Allerdings traf das BFA ‑ anders als zu den anderen, dem Mitbeteiligten zur Last liegenden Straftaten ‑ im Bescheid vom 12. August 2020 insoweit im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. unter Vielen etwaVwGH 16.1.2020, Ra 2019/21/0360, Rn. 15, mwN) dem Schuldspruch folgend ausreichende Feststellungen zu den der letzten Verurteilung des Mitbeteiligten zugrunde liegenden Straftaten (siehe Seite 8). Soweit das BVwG im Übrigen für wesentlich erachtete, vom BFA nicht vorgelegte Aktenteile vermisste, hätte es das BFA zu deren (nachträglicher) Vorlage auffordern können und müssen. Eine ergänzend erforderliche Beischaffung von Strafurteilen berechtigte das BVwG jedenfalls nicht zur Zurückverweisung der Angelegenheit an das BFA (vgl. neuerlich VwGH 25.9.2018, Ra 2017/21/0253, nunmehr Rn. 16).

16 Schließlich trifft aber auch die dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegende rechtliche Prämisse des BVwG nicht zu, angesichts der Geburt des Mitbeteiligten in Österreich, seines überwiegenden Aufenthalts im Bundesgebiet und der zuletzt ausgeübten Beschäftigung sei von der Anwendbarkeit des fünften Satzes des § 67 Abs. 1 FPG auszugehen, weil hierfür nach dessen Wortlaut ein zehnjähriger Inlandsaufenthalt ausreichend sei.

17 Dabei ließ das BVwG nämlich außer Acht, dass der verstärkte Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung nach der genannten Bestimmung nur dann in Betracht kommt, wenn sich der EWR‑Bürger die letzten zehn Jahre vor der Erlassung des Aufenthaltsverbotes rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich aufgehalten hat (vgl. dazu, aber auch zu den abgestuften Gefährdungsmaßstäben bei Aufenthaltsverboten, zuletzt VwGH 26.11.2020, Ro 2020/21/0013, Rn. 5 iVm Rn. 10 und 11). Das war im vorliegenden Fall schon wegen des von Oktober 2016 bis Oktober 2019 bestehenden (ersten) Aufenthaltsverbotes nicht der Fall. Dass das BFA ‑ wie das BVwG bemängelte ‑ nicht dargelegt habe, warum im gegenständlichen Fall der erhöhte Gefährdungsmaßstab nach § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG nicht herangezogen worden sei, und weshalb diesbezüglich ‑ so ist das BVwG wohl zu verstehen ‑ keine sachverhaltsmäßigen Ermittlungen angestellt worden seien, begründete somit ebenfalls keine relevante, eine Zurückverweisung rechtfertigende Unterlassung.

18 Der angefochtene Beschluss war daher in Stattgebung der berechtigten Amtsrevision gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 22. Dezember 2020

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