VwGH Ra 2020/21/0247

VwGHRa 2020/21/024727.8.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. Mai 2020, L508 2228156‑1/2E, betreffend Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG), mitbeteiligte Partei: M A in S, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert‑Sattler‑Gasse 10, zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7
FrPolG 2005 §52
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §28 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210247.L00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss (Spruchpunkt A.II. der Erledigung vom 22. Mai 2020) wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der 1982 geborene Mitbeteiligte, ein pakistanischer Staatsangehöriger, hielt sich auf Basis einer vom 1. September 2017 bis 31. August 2018 gültigen „Aufenthaltsbewilligung Schüler“ ‑ an einer Adresse in Salzburg gemeldet seit 9. Oktober 2017 ‑ in Österreich auf. Nachdem ein Antrag auf Verlängerung dieses Aufenthaltstitels im Beschwerdeweg mit Erkenntnis eines Landesverwaltungsgerichtes Ende Mai 2019 rechtskräftig abgewiesen worden war, stellte der Mitbeteiligte am 18. September 2019 einen Antrag auf Erteilung eines „Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK“ gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

2 Mit Schreiben vom 25. September 2019 forderte das BFA den Mitbeteiligten in Verbindung mit entsprechenden Rechtsbelehrungen auf, insbesondere ein gültiges Reisedokument im Original binnen zwei Wochen vorzulegen, und es gab dem Mitbeteiligten Gelegenheit, den Antrag binnen derselben Frist durch Beantwortung eines Fragenkatalogs ergänzend zu begründen.

3 Demzufolge erstattete der Mitbeteiligte eine von seinen rechtsanwaltlichen Vertretern verfasste Stellungnahme vom 10. Oktober 2019. Danach halte sich seine Ehefrau mit den drei minderjährigen Kindern „seit mehreren Jahren“ im Oman auf. In Pakistan lebe seine Mutter. In Österreich wohne der Mitbeteiligte mit einem Bruder, der ihn finanziell unterstütze, und mit zwei Neffen ‑ alle Genannten verfügten über eine gültige „Rot‑Weiß‑Rot‑Karte plus“ ‑ im gemeinsamen Haushalt. Es bestehe kein aufrechtes Arbeitsverhältnis und er habe kein Einkommen; vorgelegt wurden in diesem Zusammenhang aber ein mit einem Reinigungsunternehmen am 8. Oktober 2019 abgeschlossener „arbeitsrechtlicher Vorvertrag“ und eine Haftungserklärung iSd § 2 Abs. 1 Z 15 NAG. Weiters legte der Mitbeteiligte noch ein von dreizehn Personen unterschriebenes „Unterstützungsschreiben“ vor. Abschließend brachte er vor, sein Lebensmittelpunkt sei in Österreich, wo sein Bruder, seine Neffen und seine Freunde lebten; ein Leben außerhalb Österreichs könne er sich gar nicht mehr vorstellen. Aufgrund dieser Ausführungen könne als „Gesamtergebnis“ festgehalten werden, dass im gegenständlichen Fall eine Aufenthaltsbeendigung „absolut nicht im Verhältnis“ stehen würde. Dem Auftrag zur Vorlage (insbesondere) des Reisedokumentes im Original kam der Mitbeteiligte nicht nach.

4 Hierauf wies das BFA den Antrag des Mitbeteiligten vom 18. September 2019 mit Bescheid vom 19. November 2019 gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 wegen der Nichtvorlage erforderlicher Dokumente zurück (Spruchpunkt I.) und erließ unter einem gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.). Des Weiteren stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Zulässigkeit der Abschiebung des Mitbeteiligten nach Pakistan fest (Spruchpunkt III.) und gewährte eine Frist für die freiwillige Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

5 Aufgrund der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten behob das BVwG mit dem angefochtenen Beschluss vom 22. Mai 2020 die Spruchpunkte II. bis IV. des Bescheides des BFA vom 19. November 2019 und verwies die Angelegenheit insoweit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück (Spruchpunkt A.II.). Unter einem wies es die Beschwerde, soweit sie sich gegen Spruchpunkt I. des genannten BFA‑Bescheides richtete, mit dem ‑ nicht verfahrensgegenständlichen ‑ Erkenntnisteil als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Schließlich sprach das BVwG noch gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).

6 Gegen den aufhebenden und zurückverweisenden Beschluss des BVwG richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens ‑ der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

7 Zur Zulässigkeit der Amtsrevision macht das BFA im Sinne des Begründungserfordernisses nach § 28 Abs. 3 VwGG zusammengefasst geltend, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur eingeschränkten Möglichkeit einer Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen (Hinweis auf das grundlegende Erkenntnis VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063, und daran anschließende Judikate). Dieser Einwand trifft ‑ wie die weiteren Ausführungen zeigen ‑ zu, weshalb sich die Revision unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als zulässig und auch als berechtigt erweist.

8 Das BVwG erachtete die Voraussetzungen für die von ihm ausgesprochene Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vor allem deshalb für gegeben, weil das BFA dem Mitbeteiligten im Zusammenhang mit der vorgenommenen Interessenabwägung nur schriftlich Parteiengehör eingeräumt und ihn nicht einvernommen habe. Dieser Umstand berechtigt aber schon deshalb nicht zur Zurückverweisung, weil es grundsätzlich immer auch Aufgabe des BVwG ist, sich vor Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung selbst einen persönlichen Eindruck vom Fremden zu verschaffen, sofern nicht ausnahmsweise ein eindeutiger Fall gegeben ist (vgl. VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0105, Rn. 13, mit dem Hinweis auf VwGH 25.9.2018, Ra 2017/21/0253, Rn. 15).

9 Darüber hinaus erachtete das BVwG die vom BFA vorgenommene Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG als „völlig unzureichend“. So habe das BFA sowohl die vorgelegte „Unterstützerliste“ als auch die weiteren „Integrationsunterlagen“ außer Acht gelassen. Obwohl der Mitbeteiligte vorgebracht hatte, mit seinem Bruder und zwei Neffen im gemeinsamen Haushalt zu leben und vom Bruder finanziell unterstützt zu werden, sei die Beziehung des Mitbeteiligten zu diesen in Österreich lebenden Verwandten keiner näheren Prüfung durch deren zeugenschaftliche Vernehmung unterzogen worden. Die Ausführungen des BFA zu den Deutschkenntnissen des Mitbeteiligten hätten sich darauf beschränkt, dass er keine Zertifikate über absolvierte Deutschkurse vorgelegt habe, ohne jedoch zu ermitteln, ob der Mitbeteiligte „dennoch zumindest Unterhaltungen auf einfachem Sprachniveau“ führen könne.

10 Diesbezüglich ist mit der Amtsrevision zunächst zu erwidern, dass derartige ergänzende Ermittlungen nach dem Inhalt der von den rechtsanwaltlichen Vertretern des Mitbeteiligten verfassten Stellungnahme vom 10. Oktober 2019 nicht zwingend geboten waren, legte das BFA doch das darin erstattete ‑ wie sich aus der Darstellung in Rn. 3 ergibt: sonst nicht weiter konkretisierte ‑ Vorbringen seiner Entscheidung erkennbar ohnehin zur Gänze zugrunde. Soweit das BVwG aufgrund der Beschwerdeausführungen ergänzende Ermittlungen zur Intensität der Beziehung zu den österreichischen Verwandten und zu den Deutschkenntnissen sowie zur Integration des Mitbeteiligten für erforderlich hielt, ist aber nicht zu sehen, dass die Klärung dieser Fragen rascher und effizienter durch Eröffnung eines weiteren Rechtsganges hätte erfolgen können als in einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.

11 Vor allem unterlässt es das BVwG aber, die Relevanz der aus seiner Sicht bestehenden Ermittlungs‑ und Begründungsmängel für den vorliegenden Fall darzutun. Der Mitbeteiligte hält sich nämlich erst seit Anfang September 2017, sohin bis zur Erlassung des angefochtenen Beschlusses etwa zwei Jahre und neun Monate in Österreich auf, wobei sich die Rechtmäßigkeit nur auf Basis einer zum bloß vorübergehenden befristeten Aufenthalt zu einem bestimmten Zweck berechtigenden Aufenthaltsbewilligung (vgl. § 8 Abs. 1 Z 12 NAG) ergab und der weitere Verbleib nach rechtskräftiger Ablehnung ihrer Verlängerung unrechtmäßig war. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes muss aber bei einer Aufenthaltsdauer wie der vorliegenden in Bezug auf die Integration eine „außergewöhnliche Konstellation“ vorliegen, um die Voraussetzungen für die Erteilung eines „Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK“ zur Aufrechterhaltung eines Privat‑ und Familienlebens gemäß § 55 AsylG 2005 zu erfüllen bzw. eine Rückkehrentscheidung als unverhältnismäßig ansehen zu können (vgl. etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0149, Rn. 8/9, mwN). Dass im vorliegenden Fall ‑ selbst bei Vermeidung der vom BVwG gesehenen Mängel ‑ ausreichende Anhaltspunkte für eine solche „außergewöhnliche Konstellation“ bestehen könnten, wird im angefochtenen Beschluss nicht aufgezeigt. Auch von daher erweist sich die vorgenommene Zurückverweisung an das BFA zur Erlassung einer neuen Entscheidung als verfehlt.

12 Soweit das BVwG schließlich noch einen „schweren Mangel“ darin erblickte, dass das BFA keine ausreichenden Ermittlungen zur „Poliomyelitis‑Erkrankung“ des Mitbeteiligten und zu deren Behandelbarkeit in Pakistan angestellt habe, wird in der Amtsrevision schließlich zu Recht darauf verwiesen, dass der Mitbeteiligte diesbezüglich kein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet hatte. Selbst in der Beschwerde wurde dazu vom Mitbeteiligten nur pauschal kritisiert, das BFA habe keine Ermittlungen „hinsichtlich seiner Erkrankungen“ vorgenommen, jedoch der Annahme des BFA, er sei wegen der „vorgebrachten Polioerkrankung aktuell nicht in ärztlicher Behandlung“, gar nicht entgegen getreten. Auch die vom BVwG für erforderlich gehaltene weitere Erörterung dieses Themenkreises erlaubte daher nicht die Zurückverweisung der Sache nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG. Auch einem diesbezüglichen Klärungsbedarf hätte im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG entsprochen werden können.

13 Zusammenfassend ergibt sich daher, dass der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.

Wien, am 27. August 2020

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