VwGH Ra 2020/20/0196

VwGHRa 2020/20/01961.7.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, in den Rechtssachen der Revisionen von 1. A J, 2. A S J und 3. S J, alle vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7‑11/15, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 16. April 2020, 1. W251 2183816‑1/13E, 2. W251 2183830‑1/13E und 3. W251 2183832‑1/13E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200196.L00

 

Spruch:

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind afghanische Staatsangehörige und stellten am 6. August 2015 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des Zweitrevisionswerbers und die Schwester des Drittrevisionswerbers.

2 Mit den Bescheiden je vom 15. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge sowohl hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status von Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten jeweils ab. Unter einem sprach es jeweils aus, dass den revisionswerbenden Parteien kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie festgestellt werde, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise setzte die Behörde jeweils mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die dagegen erhobenen Beschwerden nach Durchführung einer Verhandlung mit den Erkenntnissen je vom 16. April 2020 als unbegründet ab und sprach jeweils aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

5 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

7 Die revisionswerbenden Parteien machen zur Zulässigkeit der Revisionen geltend, das BVwG habe sich nicht in der erforderlichen Art und Weise mit der „westlichen Orientierung“ der Erstrevisionswerberin und dem Abfall des Drittrevisionswerbers vom muslimischen Glauben auseinandergesetzt und die diesbezügliche Beweiswürdigung sei unvertretbar vorgenommen worden.

8 In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, dazu führt, dass ihr deshalb internationaler Schutz gewährt werden müsste. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil der Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. etwa VwGH 5.8.2019, Ra 2018/20/0320 bis 0325, mwN).

9 Ausgehend von den weitestgehend unbestrittenen Feststellungen des BVwG zur Lebensweise der Erstrevisionswerberin gelingt es den revisionswerbenden Parteien mit der neuerlichen Benennung einzelner Umstände, die ihrer Ansicht nach eine „westliche Lebenseinstellung“ der Erstrevisionswerberin begründen würden und die ohnehin Eingang in die angefochtenen Entscheidungen gefunden haben, nicht, aufzuzeigen, dass die vom BVwG im Einzelfall vorgenommene Beurteilung an einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Fehlerhaftigkeit leiden würde.

10 Soweit auch die Beweiswürdigung des BVwG angesprochen wird, ist auf die ständige Rechtsprechung zu verweisen, wonach eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung nur dann vorliegt, wenn das BVwG die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 11.2.2020, Ra 2020/20/0032 und 0033, mwN). Mit der pauschalen Behauptung der unvertretbaren Würdigung der „westlichen Lebensweise“ der Erstrevisionswerberin vermögen die revisionswerbenden Parteien eine derart krasse Fehlbeurteilung ‑ soweit sie sich damit auf beweiswürdigende Erwägungen beziehen ‑ nicht darzulegen.

11 Wenn die revisionswerbenden Parteien geltend machen, das BVwG habe sich mit dem Umstand, dass der Drittrevisionswerber vom Islam abgefallen sei, nicht konkret auseinandergesetzt, so übersehen sie, dass sich das BVwG nach Durchführung einer Verhandlung mit diesem Vorbringen näher befasst hat und mit näherer Begründung zur Auffassung gelangt ist, dass der Drittrevisionswerber, der nach eigenen Angaben in der Verhandlung seinen religiösen Pflichten seit etwa drei Jahren nicht mehr nachkomme, zwar seinen Glauben derzeit nicht aktiv ausübe, jedoch nicht festgestellt werden, dass er seine Religionszugehörigkeit aus religiösen Gründen und aus innerer Überzeugung gezielt aufgegeben habe. Einen auf innerer Überzeugung beruhenden Glaubensabfall habe er nicht darlegen können. Dass die Beweiswürdigung in unvertretbarer Weise vorgenommen worden wäre und sich die Erwägungen des BVwG in ihrer Gesamtheit als unschlüssig darstellen würden, legen die revisionswerbenden Parteien nicht dar. Eine tragende Grundsätze des Verfahrensrechts berührende Verkennung der Begründungspflicht ist ebenfalls nicht ersichtlich (vgl. dazu VwGH 19.5.2020, Ra 2019/14/0328, mwN).

12 Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten bringen die revisionswerbenden Parteien vor, das BVwG habe sich nicht ausreichend mit ihren persönlichen Umständen, insbesondere im Hinblick auf die Minderjährigkeit und besondere Vulnerabilität des Zweitrevisionswerbers, auseinandergesetzt. Von ihren in Afghanistan, Österreich und im Iran lebenden Verwandten könnten sie zudem keine Unterstützung erwarten.

13 Nach der ständigen Rechtsprechung ist hinsichtlich der Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 2.8.2019, Ra 2019/19/0150 bis 0153, mwN).

14 Eine besondere Vulnerabilität ‑ etwa aufgrund von Minderjährigkeit ‑ ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung mit der Situation, die eine solche Person bei ihrer Rückkehr vorfindet (vgl. etwa VwGH 23.3.2020, Ra 2020/14/0096 bis 0102; 4.10.2018, Ra 2018/18/0229 bis 0232, mwN).

15 Soweit das Zulässigkeitsvorbringen auf Rechtsprechung zur Berücksichtigung der besonderen Vulnerabilität des minderjährigen Zweitrevisionswerbers hinweist, wird nicht aufgezeigt, dass das BVwG von dieser abgewichen wäre, zumal eine solche Berücksichtigung in den angefochtenen Erkenntnissen nicht fehlt und das BVwG in nachvollziehbarer Weise zu dem Ergebnis gelangt ist, dass nicht zu befürchten sei, dass der minderjährige Zweitrevisionswerber, der sich im Übergang zur Volljährigkeit befinde, über ein höheres Maß an Selbstständigkeit sowie an Schulbildung verfüge und gesund sei, aufgrund der Rückkehr im Familienverband, in dem drei Personen (altersentsprechend) zum Unterhalt beitragen könnten, Gefahr liefe, bei seiner Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage zu geraten. Die revisionswerbenden Parteien könnten beim Vater der Erstrevisionswerberin und des Drittrevisionswerbers, der entgegen der ‑ durch das BVwG aufgrund näherer beweiswürdigender Erwägungen, denen die revisionswerbenden Parteien nicht substantiiert entgegentreten, als unglaubwürdig erachteten ‑ Angaben der revisionswerbenden Parteien am Leben sei, vorübergehend wohnen und mit Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft, einer Arbeitsstelle und Verpflegung sowie medizinischer Versorgung rechnen. Diesen Erwägungen des BVwG halten die revisionswerbenden Parteien nichts Stichhaltiges entgegen.

16 Eine Unvertretbarkeit der auf dieser Grundlage erfolgten Beurteilung des BVwG, es bestehe keine reale Gefahr, dass die revisionswerbenden Parteien ‑ insbesondere auch der Zweitrevisionswerber ‑ in Kabul keine Lebensgrundlage vorfinden könnten, vermögen die revisionswerbenden Parteien nicht aufzuzeigen. Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass durch eine schwierige Lebenssituation im Fall einer Rückführung in den Herkunftsstaat in Bezug auf die Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Grundsätze nicht dargetan wird (vgl. VwGH 21.5.2019, Ra 2018/19/0217, mwN).

17 Insoweit die revisionswerbenden Parteien schließlich die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK beanstanden, ist festzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist (vgl. VwGH 10.4.2019, Ra 2019/20/0153, mwN). Dass das BVwG die Interessenabwägung in unvertretbarer Weise vorgenommen hätte, zeigen die revisionswerbenden Parteien nicht auf.

18 In den Revisionen werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revisionen waren daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 1. Juli 2020

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