VwGH Ra 2020/19/0090

VwGHRa 2020/19/00903.12.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des M B H A H, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf‑Dietrich‑Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Jänner 2020, L524 2134930‑1/27E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §45 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190090.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein sunnitischer Araber, ist Staatsangehöriger des Irak. Er stellte am 24. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, ein Arbeitskollege in Mossul hätte ihn für den IS rekrutieren wollen, was er abgelehnt habe, weswegen sein Bruder entführt worden sei. Der IS habe ihm seinen LKW weggenommen. Er habe Mossul verlassen und sei nach Suleymania gegangen, von wo ihn die Peschmerga vertrieben hätten. Dann habe er in Bagdad gearbeitet, wo bewaffnete Leute einen Arbeitskollegen getötet und auf dessen Leiche eine Drohung hinterlassen hätten.

2 Mit Bescheid vom 24. August 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keine Aufenthaltsberechtigung aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG auf das hier Wesentliche zusammengefasst aus, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers sei nicht glaubhaft. Der Revisionswerber sei auch nicht als sunnitischer Araber gefährdet. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte das BVwG aus, die allgemeine Sicherheitslage in seinem Herkunftsort (Mossul) sei nicht so, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt sei. Auch seine Familie lebe normal in Mossul. Dem Revisionswerber wäre auch nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen. Ihm stehe auch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Bagdad, Erbil oder Suleymaniya offen.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, die das BVwG unter Anschluss der Verfahrensakten vorgelegt hat.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs.1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, das BVwG habe zu Unrecht einen Beweisantrag des Revisionswerbers abgelehnt. Der Revisionswerber habe mit Stellungnahme an das BVwG vom 19. November 2019 ein neues Fluchtvorbringen geltend gemacht. Demnach habe jener Arbeitskollege, der ihn in Mossul für den IS rekrutieren habe wollen, auf dem Facebook‑Account eines Bekannten eine Nachricht gepostet, dass der Revisionswerber und sein Bekannter bei einer Rückkehr in den Irak getötet würden. Dazu habe der Revisionswerber den Beweisantrag gestellt, diesen Bekannten als Zeugen einzuvernehmen. Diesem Antrag sei das BVwG in vorgreifender Beweiswürdigung nicht nachgekommen.

8 Die Revision ist aus diesem Grund zulässig und auch begründet.

9 Das BVwG führte zur Ablehnung dieses Beweisantrages begründend aus, das Vorbringen sei „von unkonkreten Angaben und vagen Vermutungen gekennzeichnet“. Der Revisionswerber habe dazu in der mündlichen Verhandlung auch eine divergierende Aussage gemacht. Er habe auch keine schriftlichen Belege über die Drohung vorbringen können, weil sein Bekannter diese Facebook‑Nachrichten gelöscht hätte. Ebenso wenig habe der Revisionswerber genau angeben können, wann diese Drohung erfolgt sei oder die Polizei davon verständigt. Es sei dem Revisionswerber auch nicht gelungen, sein ursprüngliches Fluchtvorbringen in Bezug auf die behauptete Rekrutierung für den IS durch den ehemaligen Arbeitskollegen glaubhaft zu machen, weshalb das darauf aufbauende Vorbringen hinsichtlich einer einem Freund gegenüber geäußerten Drohung, er werde bei einer Rückkehr in den Irak getötet, „ebenso wenig glaubhaft sei“. Es sei daher nicht erforderlich gewesen, dem Beweisantrag nachzukommen. Auf Grund der insgesamt aufgezeigten Umstände zu dem neuen Vorbringen werde davon ausgegangen, dass der Revisionswerber bloß versuche, seine Chancen auf Asylgewährung zu erhöhen, die Bedrohung durch den ehemaligen Arbeitskollegen aber nicht tatsächlich passiert sei.

10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (vgl. VwGH 10.8.2020, Ra 2018/19/0228, mwN). Auch hat der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf den Rechtssatz, es liege im Wesen der freien Beweiswürdigung, dass weitere Beweisanträge nicht mehr berücksichtigt werden müssten, wenn die Behörde sich auf Grund der bisher vorliegenden Beweise ein klares Bild über die maßgebenden Sachverhaltselemente machen konnte, ausgeführt, dass dieser Rechtssatz im Hinblick auf das Verbot vorgreifender Beweiswürdigung wohl nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen Beweisanträge geradezu mutwillig erscheinen, zum Tragen kommen könnte (vgl. VwGH 22.4.2009, 2008/12/0063, mwN zu der genannten Rechtsprechung).

11 Gemäß § 3 Abs. 2 erster Satz AsylG 2005 kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe). Die Revision macht zu Recht geltend, dass das BVwG die Einvernahme des beantragten Zeugen nicht ablehnen hätte dürfen. Es ist nämlich keineswegs ausgeschlossen, dass dessen Einvernahme zur Klärung des vorgebrachten Nachfluchtgrundes beitragen hätte können. Dass das neue Fluchtvorbringen missbräuchlich oder der Beweisantrag geradezu mutwillig gestellt worden wäre, wurde vom BVwG nicht behauptet und kann der Verwaltungsgerichtshof auch nicht erkennen. Wenn das BVwG dem Beweisantrag bereits deshalb nicht nachgekommen ist, weil es schon das ursprüngliche Fluchtvorbringen in Bezug auf den ehemaligen Arbeitskollegen für nicht glaubhaft gewertet habe, ist dies der Sache nach einer unzulässigen vorgreifenden (antizipierenden) Beweiswürdigung gleichzuhalten (vgl. etwa VwGH 17.7.2008, 2007/21/0232; 10.8.2020, Ra 2018/19/0228; 30.1.2020, Ra 2019/16/0215).

12 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

13 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG und die VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. Dezember 2020

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