Normen
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs2 Z2
VwGVG 2014 §28 Abs3
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180084.L00
Spruch:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die mitbeteiligten Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans und Mitglieder einer Familie in mehreren Generationen. Sie stellten am 7. Februar 2016 bzw. am 17. Jänner 2018 Anträge auf internationalen Schutz, die sie unter anderem darauf stützten, dass eine in Afghanistan verbliebene Tochter der Erstmitbeteiligten, die auch die Mutter bzw. Schwester bzw. Tante der weiteren mitbeteiligten Parteien sei, in Mazar‑e Sharif für den UNHCR gearbeitet habe. Die Genannte und die gesamte Familie seien aufgrund dieser Tätigkeit mehrfach von unbekannten Leuten bedroht worden.
2 Mit Bescheiden vom 14. Dezember 2018 bzw. 1. Februar 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte den mitbeteiligten Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Mit dem angefochtenen Beschluss behob das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die bekämpften Bescheide und verwies die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurück (Spruchpunkt A.). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Verwaltungsgerichtshof erklärte es für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).
4 Begründend erwog das BVwG, die angefochtenen Bescheide würden sich in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt als mangelhaft erweisen. Das BFA habe in seiner Beweiswürdigung zwar dargelegt, dass es die von den mitbeteiligten Parteien vorgebrachten Fluchtgründe als nicht glaubhaft erachte. Dabei würden die Bescheide jedoch eine nähere Auseinandersetzung mit dem Vorbringen über die Bedrohung der gesamten Familie wegen der Tätigkeit der in Afghanistan verbliebenen Tochter der Erstmitbeteiligten für den UNHCR vermissen lassen. Da nach den UNHCR‑Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 unter anderem Personen, die mit der internationalen Gemeinschaft verbunden seien, ein besonderes Risikoprofil aufwiesen, wären nähere Ermittlungen zur Tätigkeit dieser Verwandten anzustrengen gewesen. Es seien somit weitere ergänzende Befragungen und folglich Ermittlungen beim UNHCR vorzunehmen, die letztlich mit den aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan abzugleichen seien. Aus diesem Grund seien die Bescheide aufzuheben und die Angelegenheit an das BFA zurückzuverweisen.
5 Gegen diesen Beschluss wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit ein Abweichen von der (näher genannten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG ins Treffen führt. Eine Aufhebung und Zurückverweisung sei nur bei krassen oder besonders gravierenden Ermittlungslücken gerechtfertigt. Dies sei im vorliegenden Fall ‑ in dem das BFA die mitbeteiligten Parteien jeweils etwa drei bis sieben Stunden einvernommen und Länderberichte zur allgemeinen Lage in Afghanistan eingeholt habe ‑ nicht gegeben.
6 Die mitbeteiligten Parteien erstatteten eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.
8 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. VwGH 6.12.2019, Ra 2019/18/0327, mwN).
9 Sind (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG, zumal diesbezüglich nicht bloß auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens alleine, sondern auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens abzustellen ist. Nur mit dieser Sichtweise kann ein dem Ausbau des Rechtsschutzes im Sinn einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragendes Ergebnis erzielt werden, führt doch die mit der verwaltungsgerichtlichen Kassation einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung verbundene Eröffnung eines neuerlichen Rechtszugs gegen die abermalige verwaltungsbehördliche Entscheidung an ein Verwaltungsgericht insgesamt zu einer Verfahrensverlängerung (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2019/20/0409, mwN).
10 Die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bzw. das Erfordernis einer ergänzenden Einvernahme im Rahmen dieser Verhandlung können ‑ ebenso wie auch die Notwendigkeit der Ergänzung der Länderfeststellungen ‑ für sich eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht rechtfertigen (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2018/19/0556, mwN).
11 Im vorliegenden Fall ergibt sich nicht, dass vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung die Voraussetzungen einer Kassation der angefochtenen Bescheide nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorlagen.
12 Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erfolgten am 7. Februar 2016 Erstbefragungen der mitbeteiligten Parteien sowie am 9. April 2018 weitere niederschriftliche Einvernahmen durch das BFA. Zudem erhob die belangte Behörde die Lage im Herkunftsstaat und führte dieses Berichtsmaterial in das Verfahren ein.
13 Angesichts dieser Ermittlungen des BFA können weder krasse bzw. gravierende Ermittlungslücken in Zusammenhang mit dem behördlichen Verfahren erkannt, noch kann davon ausgegangen werden, dass eine Ergänzung des bereits festgestellten Sachverhaltes durch das BFA anstelle des BVwG im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre.
14 Im Lichte der hg. Rechtsprechung wäre das BVwG sohin selbst verpflichtet gewesen, auf die bisherigen Ermittlungsergebnisse des BFA aufzubauen und allenfalls notwendige, ergänzende Ermittlungen ‑ fallbezogen etwa die erneute Einvernahme der mitbeteiligten Parteien im Rahmen einer mündlichen Verhandlung sowie die Einholung ergänzender Länderinformationen ‑ durchzuführen.
15 Aufgrund der dargelegten Erwägungen war der angefochtene Beschluss wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 12. Juni 2020
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