VwGH Ra 2020/18/0083

VwGHRa 2020/18/008322.7.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin und die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des A M in Z, vertreten durch Dr. Martin Dellasega & Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Jänner 2020, W242 2180074‑1/21E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180083.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 27. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu führte er zusammengefasst aus, seine Familie sei schon vor seiner Geburt in den Iran gezogen, wo er geboren worden und aufgewachsen sei. Aus dem Iran habe er flüchten müssen, weil er aus näher genannten Gründen Schwierigkeiten mit den Basij‑Milizen gehabt habe, die auch versucht hätten, ihn gegen seinen Willen für den Krieg in Syrien zu rekrutieren.

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines entsprechenden Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 13. November 2017 ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

3 Seine Entscheidung begründete das BVwG zusammengefasst damit, dass der Revisionswerber keine asylrelevante Verfolgung für seinen Herkunftsstaat Afghanistan habe glaubhaft machen können. Auch subsidiärer Schutz sei ihm nicht zu gewähren, weil er in den afghanischen Städten Herat oder Mazar‑e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative vorfinde. In diesem Zusammenhang traf das BVwG umfangreiche Länderfeststellungen zur Lage insbesondere in den genannten Städten und zu den persönlichen Verhältnissen des Revisionswerbers. Darauf aufbauend führte es u.a. aus, es verkenne nicht, dass die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei, der Revisionswerber im Iran geboren worden sei und keinen Kontakt zu in Afghanistan lebenden Verwandten habe. Allein diese Umstände rechtfertigten allerdings noch nicht die Zuerkennung von subsidiärem Schutz (Hinweis auf VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN). Im vorliegenden Fall könne im Einklang mit den in den aktuellen UNHCR‑Richtlinien sowie den EASO Country Guidance Notes aufgestellten Kriterien davon ausgegangen werden, dass es dem Revisionswerber unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse, insbesondere seiner Schulbildung und Berufserfahrung, im Fall der Rückkehr nach Afghanistan möglich und zumutbar sei, nach einem ‑ wenn auch anfangs nur vorläufigen ‑ Wohnraum zu suchen und sich etwa mit seiner bisherigen Berufserfahrung ein für den Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften oder mit Hilfe der Programme für Rückkehrer vor Ort eine Arbeitsstelle zu finden. Der Revisionswerber sei insoweit als selbstständig zu betrachten, was sich daran zeige, dass er bereits im Iran berufstätig gewesen sei und auch in Österreich seinen Lebensunterhalt selbstständig bestritten habe. Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine näher begründete Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA‑VG vor. Dabei gestand es dem Revisionswerber zu, durch Aufnahme etwa einer Kochlehre gewisse Integrationsschritte unternommen zu haben. Ungeachtet dessen läge bei ihm keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen vor, dass von außergewöhnlichen Umständen gesprochen werden könne, aufgrund derer ein dauerhafter Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsse. Der Revisionswerber halte sich erst relativ kurz im Bundesgebiet auf und habe sich bei allen Integrationsschritten seines unsicheren Aufenthaltsstatus stets bewusst sein müssen.

4 Dagegen wendet sich die außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit zusammengefasst geltend gemacht wird, das BVwG habe verkannt, dass die Familie des Revisionswerbers die letzten zwei Jahrzehnte im Iran verbracht habe. Dem Revisionswerber und seinen Familienangehörigen hätte subsidiärer Schutz zuerkannt werden müssen, weil sie kein Auffangnetz in Afghanistan hätten und bei Rückkehr in den Herkunftsstaat Gefahr liefen, in eine ausweglose Lage zu geraten. Das BVwG stützte sich in seiner Entscheidung maßgeblich auf die „Country Guidance: Afghanistan“ des EASO, die davon ausgehe, dass alleinstehenden Männern eine innerstaatliche Fluchtalternative (u.a.) in den Städten Herat oder Mazar‑e Sharif offen stehe. Dabei übersehe das Verwaltungsgericht, dass EASO von dieser Einschätzung ausdrücklich jene Gruppe von Rückkehrern ausnehme, die entweder außerhalb von Afghanistan geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben. Zudem habe das BVwG die hervorragende Integration des Revisionswerbers (er sei als Kochlehrling im zweiten Lehrjahr tätig) nicht ausreichend berücksichtigt.

5 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan:

Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Hat das Verwaltungsgericht - wie im vorliegenden Fall - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig ist, muss die Revision gemäß § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.

Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß § 34 Abs. 1a VwGG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe zu überprüfen. Liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG danach nicht vor, ist die Revision gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

6 Vorauszuschicken ist, dass der Revisionswerber in Österreich gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern lebt, die ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz gestellt haben, denen das BVwG ‑ im Beschwerdeverfahren ‑ keine Folge gegeben hat. Alle Familienmitglieder haben eine gemeinsame außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof erhoben. Die gegenständliche Entscheidung bezieht sich ‑ zuständigkeitshalber ‑ nur auf den Revisionswerber. Der Ausgang dieses Revisionsverfahrens hängt von den gesondert protokollierten Revisionsverfahren seiner Familienmitglieder nicht ab; ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 liegt in Bezug auf den Revisionswerber nicht vor, weil der Revisionswerber nach den Feststellungen des BVwG bereits im Zeitpunkt der Einbringung seines Antrags auf internationalen Schutz volljährig gewesen ist. Wenn die Revision von Gegenteiligem auszugehen scheint und die Geburt des Revisionswerbers mit dem Jahr 2000 datiert, entfernt sie sich ohne nähere Begründung von den Feststellungen des BVwG, die dieses vom Revisionswerber behauptete Geburtsjahr nach den Ergebnissen einer Altersbegutachtung als falsch angenommen hat.

7 Die Revision wendet sich gegen die Annahme des BVwG, der Revisionswerber finde in Afghanistan in den Städten Herat oder Mazar‑e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vor, die der Gewährung von subsidiärem Schutz entgegenstehe. Sie vermag aber nicht darzulegen, dass das BVwG bei seiner diesbezüglichen Einschätzung von den rechtlichen Leitlinien, die sich aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ergeben, abgewichen und/oder fallbezogen zu einem unvertretbaren Ergebnis gelangt wäre.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Dazu muss es dem Asylwerber möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei dieser Beurteilung den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Auch die von EASO herausgegebenen Informationen sind bei der Prüfung, ob die Rückführung eines Asylwerbers in sein Heimatland zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen kann sowie ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, zu berücksichtigen (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0278, mwN).

10 Die Revision weist darauf hin, dass der Revisionswerber im Iran geboren worden, dort aufgewachsen sei und in Afghanistan kein soziales Netzwerk habe. Das BVwG übersehe die einschlägigen EASO‑Richtlinien, die solche Personen für schutzwürdig ansehen würden.

11 Dem ist zunächst darin zuzustimmen, dass die EASO Richtlinien für Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan, June 2019), für Personen mit dem Profil des Revisionswerbers, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und gelebt haben, besondere Prüfkriterien aufstellt. Danach kann eine innerstaatliche Fluchtalternative für Antragsteller, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und/oder dort sehr lange Zeit gelebt haben, nicht zumutbar sein, wenn sie über kein unterstützendes Netzwerk verfügen, das ihnen dabei hilft, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Richtlinien verweisen darauf, dass bei der Prüfung der Zumutbarkeit der persönliche Hintergrund der betroffenen Person, insbesondere deren Selbständigkeit, die vorhandene Ausbildung und allfällige Berufserfahrungen, ins Kalkül gezogen werden müssen (vgl. dazu etwa VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405).

12 Den Richtlinien kann allerdings nicht entnommen werden, dass afghanischen Asylwerbern, die außerhalb ihres Herkunftsstaates geboren wurden, jedenfalls subsidiärer Schutz gewährt werden müsste. Es hat vielmehr stets eine Prüfung des Einzelfalls zu erfolgen.

13 Entgegen dem Revisionsvorbringen hat das BVwG die angeführten Richtlinien des EASO nicht übersehen, sondern in seinen Erwägungen darauf Bezug genommen und die maßgeblichen Prüfkriterien der Sache nach herangezogen. Es hat insbesondere auf den persönlichen Hintergrund des Revisionswerbers (seine Selbstständigkeit, vorhandene Ausbildung und Berufserfahrung) Bedacht genommen und näher begründet, warum es trotz eines fehlenden unterstützenden Netzwerks im vorliegenden Fall von der Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Herat oder Mazar‑e Sharif ausgeht. Dem hält die Revision nichts Stichhaltiges entgegen.

14 Wenn die Revision schließlich die vom BVwG bestätigte Rückkehrentscheidung nur unter Hinweis auf die begonnene Lehre des Revisionswerbers angreift, ist zu erwidern, dass das BVwG auch diesen Umstand in seiner Gesamtbetrachtung berücksichtigt hat. Eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK, die ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ unter Bedachtnahme auf die Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde, ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht revisibel (vgl. VwGH 18.5.2020, Ra 2020/18/0136, mwN).

15 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 22. Juli 2020

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