VwGH Ra 2019/18/0278

VwGHRa 2019/18/027817.12.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter sowie die Hofrätinnen MMag. Ginthör und Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision 1. M G, und 2. Z S, beide vertreten durch Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juni 2019, 1. W265 2192408-1/5E und 2. W265 2192411-1/5E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Normen

AsylG 2005 §8 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180278.L00

 

Spruch:

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten handelt, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind afghanische Staatsangehörige und stammen aus der Provinz Ghazni. Der Erstrevisionswerber ist der (mittlerweile) volljährige Sohn der Zweitrevisionswerberin. Die revisionswerbenden Parteien stellten am 18. November 2015 Anträge auf internationalen Schutz, welche im Wesentlichen damit begründet wurden, dass der Erstrevisionswerber eine außereheliche Beziehung mit der Tochter eines "Kommandanten" eingegangen sei. Letzterer habe sowohl den Vater des Erstrevisionswerbers als auch seine eigene Tochter getötet und suche nun nach dem Erstrevisionswerber.

2 Mit Bescheiden vom 2. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass eine Abschiebung der revisionswerbenden Parteien nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine vierzehntägige Frist für ihre freiwillige Ausreise fest.

3 Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Gericht für nicht zulässig.

4 Das BVwG erachtete das Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien aufgrund näher dargestellter Widersprüche und Unplausibilitäten als unglaubwürdig. Betreffend die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz führte das BVwG aus, es sei zwar eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz der revisionswerbenden Parteien aufgrund der dort bestehenden volatilen Sicherheitslage nicht in Betracht zu ziehen. Die revisionswerbenden Parteien könnten jedoch auf eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative u.a. in den afghanischen Städten Herat oder Mazar-e Sharif verwiesen werden. Der Erstrevisionswerber, der acht Jahre in Afghanistan die Schule und zwei Jahre das Bundesrealgymnasium in Österreich besucht habe, sei ledig und habe keine Kinder. Dass die revisionswerbenden Parteien in Afghanistan über keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte verfügten, könne nicht festgestellt werden. Es bestünde für sie die Möglichkeit, zu ihrem in Kabul lebenden Onkel bzw. Schwager Kontakt aufzunehmen. Die revisionswerbenden Parteien lebten in Österreich im gemeinsamen Haushalt. Die Zweitrevisionswerberin, die sich so wie schon in Afghanistan auch in Österreich primär um den Haushalt kümmere, leide an Gastritis, Diabetes, Fettstoffwechselstörung, Arthrose, Kopftremor, Schlafstörungen und Depression. Sie nehme regelmäßig Medikamente. Aufgrund von Schmerzen im Schulterbereich mache sie eine Physiotherapie. Im Übrigen sei sie gesund. Die Familie der revisionswerbenden Parteien besitze Grundstücke und ein Haus in Ghazni. Es seien im Verfahren keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass der junge, gesunde, arbeitsfähige Erstrevisionswerber im erwerbsfähigen Alter mit achtjähriger Schulbildung und Sprachkenntnissen in Englisch und Deutsch, auch wenn er bislang nicht über Berufserfahrung verfüge, nicht in der Lage sein werde, u.a. in den Städten Mazar-e Sharif und Herat den Unterhalt - etwa auch durch Gelegenheits- und Hilfsarbeiten - für sich und die Zweitrevisionswerberin zu sichern und eine einfache Unterkunft zu finden. Bei der Arbeitssuche würden dem Erstrevisionswerber u.a. seine gute Schulbildung sowie seine Fremdsprachenkenntnisse zugutekommen. Die revisionswerbenden Parteien seien mit den afghanischen Gepflogenheiten sowie mit "der Sprache" vertraut und gehörten keinem besonders schutzbedürftigen Personenkreis an. Die Zweitrevisionswerberin habe zwar ihren Lebensunterhalt nie selbst bestritten, könne jedoch auf die Unterstützung des gemeinsam mit ihr ausreisenden Erstrevisionswerbers zurückgreifen. Sie leide auch unter Berücksichtigung der von ihr angegebenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen an keinen schweren lebensbedrohlichen Erkrankungen und es bestehe im Bedarfsfall u.a. in den Städten Mazar-e Sharif und Herat Zugang zu medizinischer Versorgung. Die revisionswerbenden Parteien könnten durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe zumindest übergangsweise u.a. in den Städten Mazar-e Sharif und Herat das Auslangen finden. Es sei auch deshalb nicht zu befürchten, dass sie bereits unmittelbar nach ihrer Rückkehr und noch bevor sie in der Lage wären, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnten.

Die Prüfung der maßgeblichen Kriterien (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Juni 2018, Seite 105 f) führe daher im konkreten Fall in einer Gesamtbetrachtung zu dem Ergebnis, dass die revisionswerbenden Parteien in der Lage sein würden, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in den Städten Mazar-e Sharif und Herat Fuß zu fassen und dort ein relativ normales Leben ohne unangemessene Härten zu führen.

5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, welche zu ihrer Zulässigkeit geltend macht, die Feststellungen des BVwG, insbesondere betreffend das als nicht glaubhaft befundene Fluchtvorbringen und die Annahme von familiären Anknüpfungspunkten in Afghanistan sowie die nicht als erwiesen angesehene "westliche Orientierung", seien nicht nachvollziehbar begründet worden.

Überdies hätten die persönlichen Umstände der revisionswerbenden Parteien bei Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative anders beurteilt werden müssen. Das BVwG habe sich entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes mit den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender (UNHCR-Richtlinien) nicht auseinandergesetzt bzw. es sei nicht ersichtlich, ob sich das BVwG auf die aktuellen UNHCR-Richtlinien bezogen habe. Zum anderen fehle eine Auseinandersetzung mit den vom European Asylum Support Office (EASO) für Afghanistan herausgegebenen Leitlinien. Eine innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan ohne unterstützendes Netzwerk komme nur für alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter in Betracht. Der Erstrevisionswerber sei aber nicht alleinstehend, weil er seine Mutter unterstützen müsse, was ihm nicht möglich sei, und er verfüge zudem über keine Berufserfahrung. Die Zweitrevisionswerberin sei nicht arbeitsfähig, sondern bedürfe der Unterstützung durch den Erstrevisionswerber. Die revisionswerbenden Parteien verfügten über keine sozialen Kontakte in Afghanistan. Aus den UNHCR-Richtlinien ergebe sich, dass ältere und kranke Frauen nicht in der Lage seien, in Afghanistan alleine und ohne Unterstützung ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es fehle eine Begründung für die Annahme des Gerichts, die revisionswerbenden Parteien seien abweichend von den UNHCR-Richtlinien in der Lage, in Afghanistan zu leben und sich zu versorgen.

6 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erstattete keine Revisionsbeantwortung.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet. 8 Zu Spruchpunkt I.:

9 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten richtet, gelingt es ihr nicht, eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG darzulegen. Nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung wirft nämlich eine im Einzelfall vorgenommene, nicht als grob fehlerhaft erkennbare Beweiswürdigung im Allgemeinen keine über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufwirft (vgl. VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0048, mwN). Eine solche läge - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hätte (vgl. etwa VwGH 1.3.2019, Ra 2018/18/0552, mwN). Letzteres vermag die Revision im Zusammenhang mit dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien zur Erlangung von Asyl nicht aufzuzeigen.

10 Das BVwG setzte sich mit der behaupteten Ermordung des Vaters bzw. des Ehemannes der revisionswerbenden Parteien durch den "Kommandanten" sowie mit einer Verfolgung des Erstrevisionswerbers durch diesen im Falle einer Rückkehr auseinander und gelangte im Rahmen einer schlüssigen und nachvollziehbaren Beweiswürdigung zu dem Ergebnis, dass eine konkrete Verfolgung aufgrund der widersprüchlichen und vagen Angaben der revisionswerbenden Parteien nicht glaubhaft sei. Auch im Übrigen vermochte die Revision eine vom Verwaltungsgerichtshof wahrzunehmende Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung bzw. einen relevanten Begründungsmangel im Zusammenhang mit dem Fluchtvorbringen nicht darzulegen.

11 Zu Spruchpunkt II.:

12 Zulässig und berechtigt ist die Revision hingegen mit ihrem Vorbringen, das BVwG habe die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten nur unzureichend geprüft und sei dabei von den höchstgerichtlichen Leitlinien abgewichen.

13 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken ("Indizwirkung"; vgl. etwa VwGH 22.9.2017, Ra 2017/18/0166; 10.12.2014, Ra 2014/18/0103-0106, jeweils mwN). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533). Auch den von EASO herausgegebenen Informationen ist bei der Prüfung, ob die Rückführung eines Asylwerbers in sein Heimatland zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen kann sowie ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, Beachtung zu schenken (VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153).

14 Diesen Anforderungen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht ausreichend entsprochen, indem es vor dem Hintergrund der genannten Richtlinien und Informationen dem persönlichen Hintergrund der revisionswerbenden Parteien zu wenig Beachtung geschenkt hat. Bei der Zweitrevisionswerberin handelt es sich nach den Feststellungen des BVwG um eine zum Entscheidungszeitpunkt 64- jährige Frau mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. 15 Ausgehend davon mangelt es dem angefochtenen Erkenntnis an einer nachvollziehbaren Begründung, aufgrund welcher konkreter Gegebenheiten davon auszugehen sei, dass ihr mittlerweile volljähriger Sohn, der bislang über keine Berufserfahrung verfügt, in der Lage sein werde, bei gemeinsamer Rückkehr der revisionswerbenden Parteien ein für beide Personen ausreichendes Einkommen zu erzielen. Das BVwG hat auch nicht mangelfrei begründet, ob den revisionswerbenden Parteien tatsächlich durch den vormals in Kabul lebenden Schwager bzw. Onkel (zu dem nach den Angaben der revisionswerbenden Parteien aktuell kein Kontakt bestehe) Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden, um beispielsweise in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können (vgl. zu diesen Anforderungen an eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative etwa VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001).

16 Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensfehler im gegenständlichen Fall zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Aussprüche gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten war die Revision hingegen mangels Vorliegen einer Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.

18 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das darüber hinausgehende Kostenbegehren des Revisionswerbers findet in diesen Vorschriften keine Deckung und war daher abzuweisen.

Wien, am 17. Dezember 2019

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