VwGH Ra 2019/20/0340

VwGHRa 2019/20/034015.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. Mai 2019, Zl. W109 2164240‑1/12E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A K N in S, vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf‑Dietrich‑Straße 19/5), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200340.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 4. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, sein Vater und sein Bruder seien im Zuge von Grundstücksstreitigkeiten erschossen worden. Trotz seiner Flucht nach Kabul sei der Mitbeteiligte immer wieder von den damaligen Nachbarn, Angehörige der Taliban, bedroht worden.

2 Mit Bescheid vom 21. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze als unbegründet ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

3 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer Verhandlung statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Unter einem sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte sei in eine Blutfehde verwickelt, weshalb ihm im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsdorf aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Familie seines Vaters Übergriffe bis hin zur Tötung durch dessen Cousins drohten. Es sei nicht zu erwarten, dass die afghanischen Behörden dem Mitbeteiligten Schutz vor Racheakten bieten würden. Die Cousins seines Vaters verfügten zwar über Verbindungen zu den Taliban, eine Einmischung dieser in die Angelegenheit des Revisionswerbers könne jedoch nicht festgestellt werden. Nicht zu erwarten sei weiters, dass dem Mitbeteiligten auch im Fall einer Niederlassung in den Städten Herat oder Mazar‑e Sharif Übergriffe durch die Cousins seines Vaters drohten. Zudem könne nicht festgestellt werden, dass dem Mitbeteiligten dort die Gefahr drohe, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen, misshandelt oder verletzt zu werden. Beim Mitbeteiligten handle es sich um einen jungen, gesunden Mann, bei dem die Teilnahme am Arbeitsmarkt grundsätzlich vorausgesetzt werden könne. Er habe im Herkunftsstaat ‑ wenn auch unregelmäßig ‑ sieben Jahre lang die Schule besucht und auch in Österreich Bildungsangebote wahrgenommen. Außerdem verfüge er über Berufserfahrung als Schneider und in der Landwirtschaft. Aufgrund seiner persönlichen Umstände als Rückkehrer (fehlendes soziales Netzwerk, fehlende Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse) sowie der Schwierigkeiten und Diskriminierungen, die diese nach sich zögen, wäre es jedoch dem Mitbeteiligten unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat in den genannten Städten nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen. Da ihm eine Ansiedlung in den als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebieten somit nicht zumutbar sei, sei ihm der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen.

5 Die vorliegende Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht in Zusammenhang mit der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ab. Der Verwaltungsgerichtshof habe bereits ausgesprochen, dass einem alleinstehenden jungen und gesunden Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung verfüge, eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar‑e Sharif offen stehe.

Das BVwG habe nicht näher begründet, weshalb der Mitbeteiligte für die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative soziale Anknüpfungspunkte benötige. Das Fehlen dieser alleine könne nämlich das Ergebnis, wonach ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar sei, nicht tragen. Im Übrigen begründeten die angeführten Schwierigkeiten bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche nicht die Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative, sofern es sich ‑ wie beim Mitbeteiligten ‑ um einen jungen, gesunden, volljährigen und arbeitsfähigen Mann handle. Der Mitbeteiligte verfüge zudem über eine siebenjährige schulische Ausbildung sowie Berufserfahrung als Schneider, beherrsche eine der Landessprachen Afghanistans und sei mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut. Das BVwG habe daher nicht die Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative aufzeigen können.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Amtsrevision nach Aktenvorlage und Einleitung des Vorverfahrens ‑ der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig und auch begründet. Dass einzelne Passagen in der Zulässigkeitsbegründung der Revision wortident auch in den Revisionsgründen zu finden sind, führt ‑ entgegen dem Vorbringen des Mitbeteiligten ‑ nicht dazu, dass die Revision unzulässig ausgeführt wäre.

8 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung in Bezug auf Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN).

9 Soweit es die Beurteilung betrifft, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates wesentliche Bedeutung hat. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigten, findet. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, so wird dem Asylwerber unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss. Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz‑ und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. zum Ganzen VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, mwN).

10 Weiters entspricht es in Bezug auf Afghanistan der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann (vgl. VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, mwN).

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass diese Rechtsprechung auch zur hier maßgeblichen Berichtslage aufrechtzuerhalten ist. In diesem Zusammenhang ist auch den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben sich die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Auch den vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office - EASO) herausgegebenen Informationen ist in einem solchen Fall Beachtung zu schenken (vgl. neuerlich VwGH Ra 2019/14/0160, mwN).

12 Weder EASO (Leitfaden vom Juni 2018) noch UNHCR (Richtlinien vom 30. August 2018) gehen von der Notwendigkeit der Existenz eines sozialen Netzwerkes in Mazar‑e Sharif für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität für die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative aus. Es entspricht zudem der ‑ auch zu dieser Berichtslage ergangenen ‑ Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere (vgl. nochmals VwGH Ra 2019/20/0309, mwN).

13 Nach den Feststellungen des BVwG handle es sich beim Mitbeteiligten um einen jungen, gesunden Mann, der Paschtu als Muttersprache spreche und über Sprachkenntnisse in Dari verfüge sowie in seinem Herkunftsstaat Afghanistan ‑ nicht regelmäßig ‑ sieben Jahre lang die Schule besucht habe und über Berufserfahrung als Schneider verfüge.

14 Vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung erweist sich die Beurteilung des BVwG, dem Mitbeteiligten sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative ‑ etwa in der Stadt Mazar‑e Sharif ‑ nicht zumutbar, somit als nicht nachvollziehbar.

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 15. April 2020

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