European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190426.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II. bis A.IV. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte ist ein Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem. Er stellte am 31. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. 2 Begründend brachte er vor, er sei im Iran geboren, dort mit seiner Familie aufgewachsen und noch nie in Afghanistan gewesen. Im Iran sei er mehrmals von der Polizei festgenommen und zuletzt vor die Wahl gestellt worden, entweder nach Afghanistan oder in den Krieg nach Syrien zu gehen. Deshalb habe er den Iran verlassen. Im Laufe des Verfahrens brachte er zusätzlich vor, bei einer Rückkehr nach Afghanistan werde er als Hazara und Schiit verfolgt.
3 Mit Bescheid vom 24. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten als unbegründet ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Hinsichtlich des Spruchpunktes II. gab das BVwG der Beschwerde statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt A.II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A.III.), hob die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos auf (Spruchpunkt A.IV.) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.). 5 Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - fest, der Mitbeteiligte sei im Iran geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Seine Familie lebe weiterhin im Iran. Er spreche Farsi, habe acht Jahre lang die Schule besucht und als Verkäufer in einem Supermarkt gearbeitet. Er habe keine Verwandten oder Bekannten in Afghanistan. Dem Mitbeteiligten würde bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan, in dem er sich noch nie aufgehalten habe, ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Zudem liefe er bei einer Rückkehr mangels hinreichender familiärer Anknüpfungspunkte sowie mangels ausreichender Erwerbsfähigkeit und in Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zur Minderheit der schiitischen Hazara Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. 6 Zur allgemeinen Lage in Afghanistan traf das BVwG Feststellungen in Form von Auszügen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation und aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016.
7 Beweiswürdigend führte das BVwG aus, die Feststellungen zu den Folgen einer Ansiedlung des Mitbeteiligten in seinem Herkunftsstaat Afghanistan ergäben sich - unter Berücksichtigung der von UNHCR aufgestellten Kriterien für das Bestehen einer internen Schutzalternative - in Zusammenschau mit den vom Mitbeteiligten glaubhaft dargelegten Umständen.
8 In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, dem Mitbeteiligten sei mangels drohender Verfolgung der Status des Asylberechtigten nicht zuzuerkennen. Es bestehe jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn des Art. 3 EMRK. Der Revisionswerber habe nie in Afghanistan gelebt. Eine Verweisung in die Herkunftsprovinz seiner Eltern (Bamyan) komme daher nicht in Frage. Er könne aber auch nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile Afghanistans verwiesen werden. Beim Mitbeteiligten handle es sich zwar um einen arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann mit achtjähriger Schulbildung und ein wenig Berufserfahrung als Verkäufer. Er sei im Iran aufgewachsen und dort sozialisiert worden, während er in Afghanistan nie gelebt habe und dort auch über keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte verfüge. Seine Familie könne ihn nicht finanziell unterstützen. Er wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan daher vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen, allenfalls in der Stadt Kabul nach einem Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Nach den Länderinformationen stelle sich die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt jedoch meist nur unzureichend dar. Mit einer ausreichenden staatlichen Unterstützung sei nicht zu rechnen. Als Angehöriger der Hazara wäre der Mitbeteiligte zusätzlich gesellschaftlichen Diskriminierungen (wenn auch keiner gezielten asylrelevanten Diskriminierung aufgrund seiner Religionszugehörigkeit) ausgesetzt. Dem Mitbeteiligten sei daher der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen. 9 Gegen die Spruchpunkte A.II. bis A.IV. dieses Erkenntnisses richtet sich die Revision der belangten Behörde. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, welcher Gefährdungsmaßstab in Fällen, in denen ein Fremder niemals in seinem Herkunftsstaat gelebt hat, bei der Beurteilung einer Rückkehr an den Zielort heranzuziehen sei.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 23. Oktober 2019, Ra 2019/19/0221, auf dessen Begründung gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, ausgeführt, dass bei Asylwerbern, die keine Herkunftsprovinz haben - ob dies hinsichtlich des Mitbeteiligten der Fall ist, kann dahingestellt bleiben -, eine Prüfung vorzunehmen ist, ob ihnen im Herkunftsstaat eine innerstaatliche Fluchtalternative offen steht, was auch eine Zumutbarkeitsprüfung beinhaltet.
13 Zulässig und auch begründet ist die Revision jedoch hinsichtlich des Vorbringens, das BVwG sei von der - näher zitierten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen. 14 Der vorliegende Revisionsfall gleicht in den für seine Erledigung maßgeblichen Punkten jenem, den der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 17. September 2019, Ra 2019/14/0160, entschieden hat. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Begründung dieses Erkenntnisses verwiesen.
15 Wie in dem diesem Erkenntnis zugrunde liegenden Fall handelt es sich im Revisionsfall bei dem Mitbeteiligten nach den Feststellungen um einen jungen, erwerbsfähigen Mann, der der Volksgruppe der Hazara angehört und außerhalb Afghanistans in einer afghanischen Familie aufgewachsen ist. Auch hinsichtlich der allgemeinen Situation in Afghanistan - etwa auch betreffend die Lage der Hazara und die Unterstützungen für Rückkehrer - hat das BVwG mit dem Erkenntnis im Verfahren Ra 2019/14/0160 vergleichbare Feststellungen getroffen.
16 Auch im Revisionsfall ist die in den rechtlichen Erwägungen zum Ausdruck gebrachte Einschätzung mit den Feststellungen zur Lage der Hazara in Afghanistan und zur Lage von im Iran aufgewachsenen afghanischen Staatsangehörigen im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan nicht in Einklang zu bringen. Darauf, dass der Mitbeteiligte über keine detaillierten Ortskenntnisse betreffend die afghanischen Großstädte verfügt, kommt es nicht an. Insoweit unterscheidet sich seine Situation nicht maßgeblich von jener, in der sich afghanische Staatsangehörige befinden, die sich Zeit ihres Lebens in Afghanistan aufgehalten haben und solche Kenntnisse gleichfalls nicht aufweisen (vgl. insgesamt zu einem ähnlichen Fall VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0282).
17 Das BVwG geht zwar davon aus, dass dem Mitbeteiligten im (gesamten) Herkunftsstaat Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe, beurteilt aber nur das Vorliegen einer solchen in Kabul, obwohl es im Rahmen der Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan auch solche zu Herat und Balkh bzw. Mazar-e Sharif getroffen hat. Dem Verwaltungsgerichtshof ist es daher nicht möglich, das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich der Annahme zu überprüfen, ob dem Mitbeteiligten tatsächlich im gesamten Staatsgebiet Afghanistans keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (vgl. neuerlich VwGH Ra 2019/19/0221).
18 Da das BVwG im Fall einer mängelfreien Begründung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis im Umfang seines Spruchpunktes A.II. und der darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 13. Februar 2020
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