VwGH Ra 2019/19/0221

VwGHRa 2019/19/022123.10.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler, die Hofrätin Dr.in Lachmayer und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2019, W121 2175279- 1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: M H M in S, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190221.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II., A.III. und A.IV. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der in Pakistan geborene Mitbeteiligte ist Staatsangehöriger von Afghanistan, seine Eltern stammen aus der Provinz Kunar. Er stellte am 6. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 10. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Es erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 9 BFA Verfahrensgesetz eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes I. als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Hinsichtlich des Spruchpunktes II. wurde der Beschwerde jedoch stattgegeben und dem Mitbeteiligten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt A.II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 12. April 2020 erteilt (Spruchpunkt A.III.). Die Spruchpunkte III. und IV. wurden ersatzlos behoben (Spruchpunkt A.IV.). Weiters sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5 Begründend führte das BVwG - soweit für den vorliegenden Fall relevant - zusammengefasst aus, dass der Mitbeteiligte nie in Afghanistan gelebt habe. Eine Verweisung in die Herkunftsprovinz seiner Eltern komme daher nicht in Frage. Er könne aber auch nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile Afghanistans verwiesen werden. Wie aus den Erkenntnisquellen ersichtlich sei, stelle sich neben einer prekären Sicherheitslage die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnraum insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt sowie finanzielle Unterstützung in Kabul als unzureichend dar, weshalb diese mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert seien sowie bei fehlender Bildung beziehungsweise Fachausbildung in ernste Versorgungsschwierigkeiten geraten würden. Beim Mitbeteiligten handle es sich zwar um einen arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann mit zehnjähriger Schulbildung und ein wenig Berufserfahrung als Hilfsarbeiter und Stukkator. Zu berücksichtigen sei jedoch, dass er seit seiner Geburt in Pakistan gelebt habe, dort aufgewachsen und sozialisiert worden sei. Er habe nie in Afghanistan gelebt und verfüge dort auch über keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre er daher vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen, allenfalls in der Stadt Kabul nach einem Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. In Hinblick darauf, dass die gesamte Familie des Mitbeteiligten im Iran (gemeint wohl: Pakistan) sei und aufgrund der geschilderten finanziellen Situation sei davon auszugehen, dass seine Familie nicht in der Lage wäre, den Mitbeteiligten finanziell hinreichend zu unterstützen. Dem Mitbeteiligten würde daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK drohen, wobei eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht komme. 6 Die vorliegende Amtsrevision richtet sich gegen die Spruchpunkte A.II. bis A.IV. des angefochtenen Erkenntnisses und bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, es fehle Rechtsprechung, ob bei Asylwerbern, die keine Herkunftsregion haben, das Konzept der innerstaatlichen Fluchtalternative anwendbar oder die Rückführung nur unter dem Blickwinkel einer Art. 3 EMRK-Verletzung zu prüfen sei. Zudem weiche das Erkenntnis des BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht und zur innerstaatlichen Fluchtalternative ab. Das BVwG hätte zunächst ausgehend von den Ermittlungsergebnissen, insbesondere den Länderberichten, aufgrund einer nachvollziehbaren Beweiswürdigung im Rahmen der rechtlichen Beurteilung konkret darlegen müssen, inwiefern dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative in einer bestimmten Region in Afghanistan zumutbar sei. Das BVwG habe seiner Entscheidung Länderinformationen (zB) zur Provinz Balkh bzw. Mazar-e Sharif zugrunde gelegt, gehe jedoch weder in der Beweiswürdigung noch in der rechtlichen Beurteilung näher auf diese Feststellungen ein und setze sich somit nicht konkret damit auseinander, inwiefern dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Der Umstand, dass der Mitbeteiligte über keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfüge, könne für sich betrachtet, ohne nähere Begründung das Ergebnis, dass dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative ua. in Mazare Sharif nicht zumutbar wäre, nicht tragen.

 

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem die mitbeteiligte Partei eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen:

8 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

9 Die Revision wirft die Frage auf, welcher

"Gefährdungsmaßstab" im Hinblick auf den Zielort einer Rückführung in Konstellationen heranzuziehen sei, in denen der Asylwerber keine Herkunftsprovinz habe. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass das BVwG festgestellt hat, der Mitbeteiligte habe nicht in die Herkunftsprovinz seiner Eltern zurückgekonnt, weil ihm dort ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit drohen würde. Weiters ging das BVwG erkennbar in der rechtlichen Beurteilung davon aus, dass der Mitbeteiligte keine eigene Herkunftsprovinz habe, weil er nie in Afghanistan gelebt habe.

Die Frage, ob das BVwG zu Recht angenommen hat, der Umstand, dass der Mitbeteiligte nicht in Afghanistan geboren wurde, würde für sich alleine genommen das Vorliegen einer Herkunftsregion ausschließen, kann fallbezogen dahingestellt bleiben. Im Revisionsfall käme als Herkunftsregion nämlich ausschließlich die Herkunftsregion der Eltern des Mitbeteiligten in Betracht. Eine Rückkehr in diese Region würde jedoch ausgehend von den - insoweit von der Revision unangefochtenen - Feststellungen des BVwG eine Verletzung der Rechte des Mitbeteiligten nach Art. 3 EMRK bedeuten. Wäre diese Region als Herkunftsprovinz des Mitbeteiligten anzusehen, wäre bei Prüfung, ob dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, somit gemäß § 8 Abs. 3 iVm § 11 AsylG 2005 zu prüfen, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative (IFA) offen steht. 10 Für den Fall, dass der Mitbeteiligte ungeachtet der Herkunft seiner Eltern aus einer bestimmten Provinz selbst keine Herkunftsprovinz haben sollte, wäre aus nachstehenden Erwägungen ebenfalls das IFA-Konzept anzuwenden und damit eine Zumutbarkeitsprüfung durchzuführen.

11 Gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 liegt eine IFA dann vor, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden kann, und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. grundlegend zur IFA VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001).

12 Dem Konzept der IFA liegt der subsidiäre Charakter des internationalen Schutzes zugrunde, wonach ein Antragsteller dann nicht als schutzbedürftig anzusehen ist, wenn für ihn die Möglichkeit besteht, in einem Teil seines Herkunftsstaates Schutz zu finden. Auch wenn dieses Konzept grundsätzlich auf einer Unterscheidung zwischen der Heimatregion eines Asylwerbers und einem anderen Teil des Herkunftslandes basiert (siehe dazu etwa die EASO, Practical Guide: Qualification for international Protection, 2018, 39), steht der Gesetzeswortlaut einer Übertragung auf Fälle, in denen der Asylwerber tatsächlich keine Heimatregion hat, nicht entgegen. Der Prüfmaßstab der Zumutbarkeit einer IFA spiegelt den Umstand wieder, dass ein Asylwerber, der nicht in seine Herkunftsprovinz zurückkehren kann, in der Regel in einem Gebiet einer vorgeschlagenen IFA nicht über dieselben finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen sowie lokale Kenntnisse und soziale Netzwerke verfügen wird, wie an seinem Herkunftsort und somit eine zusätzliche Prüfung stattzufinden hat, ob die Ansiedelung in dem vorgeschlagenen Gebiet auch zumutbar ist (vgl. zur Prüfung der Zumutbarkeit einer IFA in Afghanistan bei nicht in ihrem Heimatstaat aufgewachsenen Asylwerbern etwa VwGH 28.3.2019, Ra 2018/14/0067 und die dort in Rn. 15 wiedergegebene Judikatur). In diesem Zusammenhang unterscheiden sich Asylwerber, die aufgrund einer möglichen asylrelevanten Verfolgung oder einer drohenden Verletzung des Art. 3 EMRK nicht auf ihre Herkunftsprovinz verwiesen werden können, nicht von jenen, die über keine solche verfügen. Bei Asylwerbern, die keine Herkunftsprovinz haben, ist daher ebenfalls eine Prüfung vorzunehmen, ob ihnen im Herkunftsstaat eine IFA offen steht, was auch eine Zumutbarkeitsprüfung inkludiert (vgl. dazu Nedwed, Interner Schutz (innerstaatliche Fluchtalternative) am Beispiel Afghanistans in Jahrbuch Asyl 2018, 296f).

13 Im Recht ist die Amtsrevision mit ihrem Vorbringen, das BVwG habe sich nicht ausreichend mit dem Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in anderen Teilen des Herkunftsstaates, wie etwa in der Stadt Mazar-e Sharif auseinandergesetzt.

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 25.2.2019, Ra 2018/20/0039, mwN).

15 Das BVwG stellt zwar fest, dass dem Mitbeteiligten im gesamten Staatsgebiet Afghanistans keine IFA zur Verfügung stünde, tatsächlich prüft es allerdings nur das Vorliegen einer solchen in Kabul. Auch die für die rechtliche Beurteilung herangezogenen Länderberichte, auf die sich das BVwG zur Begründung stützt, betreffen lediglich Kabul und nicht auch andere Teile des Herkunftsstaates. Dem Verwaltungsgerichtshof ist es daher nicht möglich, das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich der Annahme zu überprüfen, ob dem Mitbeteiligten tatsächlich im gesamten Staatsgebiet Afghanistans keine IFA zur Verfügung steht. Das angefochtene Erkenntnis ist insoweit mit einem Verfahrensmangel belastet, dessen Relevanz von der Amtsrevision auch aufgezeigt wird.

16 Es war somit hinsichtlich Spruchpunkt A.II. und der rechtlich darauf aufbauenden Aussprüche mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet und daher insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Wien, am 23. Oktober 2019

Stichworte