Normen
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210132.L00
Spruch:
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 richtet, zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und gehört der tschetschenischen Volksgruppe an. Er reiste spätestens im Juni 2008 nach Österreich ein und stellte hier einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 8. Februar 2010 wurde dieser Antrag vollinhaltlich abgewiesen, außerdem wurde der Revisionswerber in die Russische Föderation ausgewiesen. Er erhob Beschwerde und wurde im Zuge des Beschwerdeverfahrens einer psychiatrischen Begutachtung unterzogen. Der beigezogene Sachverständige stellte fest, dass der Revisionswerber an Epilepsie leide, sich in regelmäßiger nervenärztlicher Behandlung befinde und auf ein Antiepileptikum eingestellt sei, wobei er unter dieser Behandlung seit fünf Jahren anfallsfrei sei.
3 Mit Erkenntnis vom 23. April 2015 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde, Asyl- und subsidiären Schutz betreffend, als unbegründet ab. Gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 wurde allerdings "das Verfahren" zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.
4 Das BFA sprach sodann mit Bescheid vom 24. Oktober 2015 aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Unter einem erließ es gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Russische Föderation/Tschetschenien zulässig sei, und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Rückkehr mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung fest.
5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 10. Jänner 2019 als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende - nach Ablehnung der Behandlung und Abtretung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (Beschluss vom 13. März 2019, E 598/2019) fristgerecht eingebrachte - außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, erwogen hat:
7 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG)
.
8 In Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 fehlt es an einem entsprechenden Vorbringen. Lediglich bei Darlegung der Revisionsgründe wird diese Bestimmung - allerdings ihre Voraussetzungen verkennend - kurz angesprochen. Soweit sich die Revision auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 bezieht, war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat - als unzulässig zurückzuweisen.
9 Im Übrigen erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt, weil das BVwG - wie vom Revisionswerber zutreffend geltend gemacht wird - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG bei einem zehn Jahre übersteigenden Inlandsaufenthalt abgewichen ist.
10 Das BVwG erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung. Wird durch eine solche Maßnahme in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist ihre Erlassung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dabei geht der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch noch nach so langem Inlandsaufenthalt für verhältnismäßig angesehen (siehe etwa VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 7 und 9 mwN, oder VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251, Rn. 11 und 12). Eine "ausgeprägte und verfestigte entscheidungserhebliche individuelle Integration", wie sie das BVwG in Bezug auf den Revisionswerber nicht festzustellen vermochte, wird von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei einem so langen Aufenthalt hingegen nicht gefordert (vgl. nochmals VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 12).
11 Dass der unbescholtene Revisionswerber in Österreich überhaupt nicht integriert sei, lässt sich schon auf Grund der vom BVwG getroffenen Feststellungen nicht sagen. Denn demnach hat er diverse Deutsch- und Alphabetisierungskurse besucht und verfügt über Grundkenntnisse der deutschen Sprache (wozu anzumerken ist, dass er eine ihm in der Beschwerdeverhandlung auf Deutsch gestellte Frage gemäß der über diese Verhandlung aufgenommenen Niederschrift sinnvoll auf Deutsch beantworten konnte). Weiter hat er nach den Feststellungen des BVwG Kontakt zu österreichischen Freunden sowie zu einem Bruder und zu einer Schwester, denen jeweils Asyl zuerkannt worden ist. Dass sich der Revisionswerber nicht in Vereinen engagiert, entspricht zwar seiner Angabe in der Beschwerdeverhandlung. Dass er allerdings zumindest in der Vergangenheit bei einem österreichischen Ringerverein aktiv war, ergibt sich aus von ihm vorgelegten Bestätigungen dieses Vereins. 12 Maßgeblich ist dann noch, dass der Revisionswerber wegen seiner Epilepsieerkrankung in laufender Behandlung steht. Wenn eine derartige Behandlung einschließlich der erforderlichen Medikamentation für den Revisionswerber auch in Tschetschenien zugänglich sein mag, so ergibt sich dennoch durch die jahrelang in Österreich durchgeführte Behandlung eine Verstärkung des Interesses an einem weiteren Verbleib.
13 Es ist zwar auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Derartige Gegebenheiten, die trotz des mehr als zehnjährigen Aufenthalts des Revisionswerbers eine Aufenthaltsbeendigung noch gerechtfertigt erscheinen ließen (siehe dazu die beispielshafte Aufzählung in VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 13), hat das BVwG aber jedenfalls argumentativ nicht ins Treffen geführt. Zwar stellte es bei Wiedergabe des Verfahrensganges dar, dass das gegenständliche Beschwerdeverfahren - im Hinblick darauf, dass der Revisionswerber zunächst ab 4. April 2017 nicht mehr im Bundesgebiet gemeldet war -
2017 eingestellt und erst wieder 2018 fortgesetzt worden sei. Dass die insgesamt sechsmonatige Meldeunterbrechung des Revisionswerbers - wozu dieser in der Beschwerdeverhandlung angab,
er habe "von April ungefähr bis Oktober ... bei verschiedenen
Freunden, bei meiner Schwester, etc. in Österreich ohne Anmeldung" gelebt - für eine maßgebliche Verlängerung des Beschwerdeverfahrens und insbesondere für die zehn Jahre übersteigende Dauer seines Inlandsaufenthaltes verantwortlich sei, hat das BVwG aber in keiner Weise ausgeführt. Vielmehr nahm es dann im Rahmen seiner Überlegungen zur Interessenabwägung auf den genannten Umstand überhaupt keinen Bezug.
14 Im Übrigen ist noch anzumerken, dass das BVwG auf die in Rn. 10 dargestellte Judikaturlinie betreffend einen zehn Jahre übersteigenden Inlandsaufenthalt überhaupt nicht eingegangen ist. Damit steht im Zusammenhang, dass es auch dem Tatbestand des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG ("Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist") - ungeachtet dessen, dass schon die rein asylrechtliche Entscheidung mehr als sieben Jahre gedauert hat - keine erkennbare Bedeutung zugemessen hat.
15 Auch deshalb ist das angefochtene Erkenntnis, soweit es nicht über die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 abspricht, mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es in diesem Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
16 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere auf § 50 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. August 2019
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