VwGH Ra 2018/18/0548

VwGHRa 2018/18/054819.6.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Mauer-Kober und den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über 1. die Revision von H A, vertreten durch Mag. Martina Musel, Rechtsanwältin in 4020 Linz, Landstraße 49, 2. die Revision von M M, vertreten durch Mag. Dr. Johannes Mühllechner, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Altstadt 2/1, 3. die Revision von J M, vertreten durch Mag. Dr. Gernot Müller, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/9, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 5. November 2018, Zlen. I. W224 2170266-1/9E, II. W224 2170269-1/8E, III. W224 2170267-1/6E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3
AVG §58
AVG §60
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §29
32011L0095 Status-RL Art9 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018180548.L00

 

Spruch:

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Teil einer Familie. Die Erstrevisionswerberin und der 1988 geborene Zweitrevisionswerber sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen Drittrevisionswerberin. Sie sind alle Staatsangehörige Syriens und stellten am 22. September 2015 Anträge auf internationalen Schutz. Als Fluchtvorbringen brachte die Erstrevisionswerberin vor, sie sei Kurdin und Sunnitin. Sie habe große Angst gehabt, weil ihr Ehemann von seinen Nachbarn und dem Regime bedroht worden sei und daraufhin in den Libanon ausgereist sei. Sie sei zunächst zurück geblieben, weil sie ein Kind geboren habe, und sei dann zu ihrem Mann in den Libanon gereist. Sie habe auch Angst um ihre Tochter wegen der Bombardierungen. Da ihre Aufenthaltstitel im Libanon nicht verlängert worden seien, hätte die Familie schließlich den Libanon wieder verlassen müssen. Der Zweitrevisionswerber gab an, er sei Kurde und Sunnit und habe als Mechaniker gearbeitet. Von 2007 bis 2009 sei er beim Militär gewesen. Als er einen Bus zur Reparatur übernommen habe, sei die Polizei aufgrund ihrer Suche nach dem Fahrer des Busses (dem Onkel eines Mitglieds in der Freien Syrischen Armee) misstrauisch geworden und sei oft zu ihm gekommen. Die Nachbarn hätten daraufhin gemeint, der Zweitrevisionswerber sei ein Informant der Polizei, und hätten ihn deshalb bedroht. Er sei daher in den Libanon ausgereist. Die Polizei sei danach zu seinen Eltern gekommen und habe gesagt, dass er als Reservist zum Militär gehen müsse.

2 Mit Bescheiden vom 22. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien in Bezug auf den Status von Asylberechtigten ab, erkannte ihnen den Status von subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.

3 Mit den in Revision gezogenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Abweisung des Status von Asylberechtigten gerichteten Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig. Begründend führte es aus, das Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien sei aus näher angeführten Gründen nicht glaubhaft. 4 In den vorliegenden Revisionen wird zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend gemacht, die Beweiswürdigung des BVwG sei in sich widersprüchlich. Das BVwG habe sich nicht ausreichend mit dem Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien und mit seinen Länderfeststellungen auseinandergesetzt. Aus letzteren würde sich ergeben, dass die revisionswerbenden Parteien mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits aufgrund einer unterstellten oppositionellen Gesinnung als Sunniten und Kurden einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt seien. Das "Regime" leide zudem an einem Mangel an Soldaten, weshalb dem Zweitrevisionswerber schon bei der Einreise nach Syrien die Zwangsrekrutierung drohe. Diese Gefährdung schlage auch auf die Erstrevisionswerberin als Angehörige durch.

5 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

 

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat - nach Verbindung der Rechtssachen zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revisionen sind zulässig; sie sind auch begründet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Erkenntnisses geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 14.2.2019, Ra 2018/18/0442, mwN).

9 Diesen Anforderungen werden die angefochtenen Erkenntnisse nicht gerecht.

10 Unter Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der hg. Rechtsprechung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie) (vgl. VwGH 14.2.2019, Ra 2018/18/0442, mwN).

11 Unter der Überschrift "Zur Lage in Syrien wird festgestellt" hat das BVwG auszugsweise wörtlich festgestellt (Hervorhebungen hinzugefügt):

"2. Risikoprofile

Werden Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis gemäß bestehenden Asylverfahren oder Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft geprüft, so ist UNHCR der Ansicht, dass Personen mit einem oder mehreren der unten beschriebenen Risikoprofilen wahrscheinlich internationalen Schutz im Sinne der GFK benötigen, sofern keine Ausschlussklauseln anwendbar sind (siehe Absatz 39). Bei Familienangehörigen und Personen, die auf sonstige Weise Menschen mit den nachfolgend aufgeführten Risikoprofilen nahestehen, ist es je nach den Umständen des Einzelfalls ebenfalls wahrscheinlich, dass sie internationalen Flüchtlingsschutz benötigen. Sofern relevant, sollte besonderes Augenmerk auf jegliche Verfolgung gelegt werden, der Asylsuchende in der Vergangenheit möglicherweise ausgesetzt waren.

Personen, die eine oppositionelle Einstellung haben oder denen eine solche unterstellt wird: Die Regierung wendet für die Definition von oppositioneller Einstellung sehr breite Kriterien an: So kann jede Form von Kritik, Opposition oder mangelnde Loyalität der Regierung gegenüber, in welcher Art auch immer ausgedrückt, zu ernsthaften Konsequenzen für die Person führen. Viele Protestierende, Aktivisten/Aktivistinnen, Wehrdienstverweigerer, Deserteure, partizipative (Bürger-) Journalisten/Journalistinnen (‚citizen journalists'), Ärzte/Ärztinnen und Personen, die humanitäre Hilfe leisten, und denen eine oppositionelle Haltung unterstellt wurde, wurden willkürlich verhaftet, gefoltert, misshandelt und standrechtlich hingerichtet. (...)

Die echte oder unterstellte regierungsgegnerische Einstellung einer Person wird häufig auch Personen in ihrem Umfeld zugeordnet, wie Familienangehörigen, Nachbarn oder Kollegen/Kolleginnen. Familienangehörige von Aktivisten/Aktivistinnen, Mitgliedern von Oppositionsparteien, Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern wurden Ziel von willkürlichen Verhaftungen, Folter, Misshandlungen, auch sexueller Gewalt und standrechtlicher Exekution. In Fällen, in denen eine gesuchte Person, der eine oppositionelle Haltung unterstellt wird, nicht gefunden werden kann, werden Familienangehörige verhaftet und misshandelt, um zu erfahren, wo die Person ist, damit sie sich stellt, oder um ihre Handlungen zu bestrafen. Weibliche Familienangehörige werden Berichten zu Folge auch zum Tausch bei Gefangenenaustauschen mit regierungsgegnerischen bewaffneten Gruppen verwendet. Nachbarn, Freunde und Kollegen waren ebenfalls Ziele solcher Praktiken.

Die nachstehend aufgeführten Risikoprofile sind nicht unbedingt abschließend und können sich überschneiden. (...)

 Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder politischer Oppositionsparteien; Aufständische, Aktivisten und sonstige Personen, die als Sympathisanten der Opposition angesehen werden; Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen bzw. Personen, die als Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen angesehen werden; Wehrdienstverweigerer und Deserteure der Streitkräfte;' (...)

 Mitglieder religiöser Gruppen, einschließlich Sunniten, Alawiten, Ismailis, Zwölfer-Schiiten, Drusen, Christen und Jesiden. (...)

 Angehörige ethnischer Minderheiten, einschließlich Kurden, Turkmenen, Assyrer, Tscherkessen und Armenier. (...)

4. Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen (...)

4.1. Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst (...) Das Höchstalter für den Militärdienst betrug zuvor 42

Jahre, wurde jedoch inzwischen erhöht, wobei es hierzu keine offizielle Regelung und daher auch kein offizielles Höchstalter mehr gibt (FIS 23.8.2016).

Reservisten können je nach Gebiet und Fall auch im Alter von 50 bis 60 Jahren zum aktiven Dienst einberufen werden. Sie werden mittels Brief, den die Polizei persönlich zustellt, oder an Checkpoints rekrutiert (FIS 23.8.2016). Bei der Einberufung von Reservisten ist das Alter weniger entscheidend als der Beruf oder die Ausbildung einer Person, sowie Rang und Position während des bereits abgeleisteten Militärdienstes oder die Einheit, in der gedient wurde (DIS 26.2.2016). (...)

4.4. Wehrdienstverweigerung / Desertion

(...) Auch Familien von Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern haben mit Konsequenzen zu rechnen. Eine Familie könnte von der Regierung unter Druck gesetzt werden, wenn der Deserteur dadurch vielleicht gefunden werden kann. Familienmitglieder (auch weibliche) können festgenommen werden, um den Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Manchmal wird ein Bruder oder der Vater eines Deserteurs ersatzweise zur Armee rekrutiert (FIS 23.8.2016). (...)"

12 Fallbezogen hielt es das BVwG insbesondere für nicht glaubhaft, dass ein Einberufungsbefehl an den Zweitrevisionswerber (durch Vorsprache der syrischen Polizei bei seinen Angehörigen) während dessen Aufenthalts im Libanon ergangen sei. Beweiswürdigend hat es sich dabei darauf gestützt, dass dem Zweitrevisionswerber bei Interesse der syrischen Behörden an seiner Einberufung von Vornherein kein Reisepass ausgestellt worden wäre. Zudem sei es nicht glaubhaft, dass "just kurz nach der letzten legalen Ausreise eine Einberufung als Reservist" hätte erfolgen sollen. Eine asylrelevante Verfolgung der revisionswerbenden Parteien aus einer drohenden Einberufung sei somit nicht erkennbar. Darüber hinaus führte das BVwG aus: "Auch findet sich in den in das Verfahren eingeführten Berichten kein Hinweis, dass Kurden und/oder Sunniten alleine auf Grund ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit in Syrien Verfolgung zu erleiden bzw. zu befürchten haben."

13 Diese Begründung trägt die Abweisung des Asylantrags der revisionswerbenden Parteien nicht. Ob und wann an den Zweitrevisionswerber als Reservist ein Einberufungsbefehl ergangen ist, kann im Revisionsfall nämlich dahin gestellt bleiben. Entscheidend für die Frage eines möglichen Asylanspruchs ist vielmehr, ob dem 1988 geborenen Zweitrevisionswerber bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat angesichts des in den Länderfeststellungen ausgewiesenen erhöhten Rekrutierungsdrucks der syrischen Armee und der besonderen Gefährdung von einreisenden Männern im wehrfähigen Alter mit maßgebender Wahrscheinlichkeit eine Einziehung zum Wehrdienst droht und inwiefern ihm (insbesondere als Kurden und Sunniten) sowie seinen Angehörigen in diesem Zusammenhang eine asylrelevante Verfolgung durch die syrischen Behörden droht. Diesbezügliche Ausführungen fehlen im Erkenntnis.

14 Aktenwidrig ist überdies - worauf die revisionswerbenden Parteien zu Recht hinweisen - die Aussage des BVwG, dass - unabhängig von einer möglichen Einberufung des Zweitrevisionswerbers als Reservist - Kurden und Sunniten keinem besonderen Risikoprofil in Syrien unterlägen. Wie aus den oben wiedergegebenen Auszügen der vom BVwG selbst getroffenen Länderfeststellungen ersichtlich, zeigen diese vielmehr, dass sich für Kurden und Sunniten aus ihrer Volksgruppenzugehörigkeit im Einzelfall sehr wohl ein besonderes Verfolgungsrisiko aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung ergeben kann. 15 Da das BVwG hinsichtlich der revisionswerbenden Parteien sohin eine nähere Auseinandersetzung mit den von ihm selbst festgestellten, im Revisionsfall einschlägigen Risikoprofilen schuldig geblieben ist, waren die angefochtenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. Juni 2019

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