VwGH Ra 2018/21/0047

VwGHRa 2018/21/004730.8.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision 1. der A H R, und 2. der A A R, beide in W und beide vertreten durch Mag.a Doris Einwallner, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Schönbrunner Straße 26/3, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes je vom 31. Jänner 2018, G307 2124281-2/2E (ad 1.) und G307 2124278-2/2E (ad 2.), je betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litb;
62012CJ0140 Brey VORAB;
62013CJ0333 Dano VORAB;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
EURallg;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
NAG 2005 §51 Abs1 Z2;
NAG 2005 §55 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24 Abs4;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018210047.L00

 

Spruch:

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerberinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die beiden Revisionswerberinnen - die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der Zweitrevisionswerberin - sind deutsche Staatsangehörige und halten sich zuletzt seit Juli 2012 in Österreich auf. Hier beantragten sie die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung. Die zuständige Niederlassungsbehörde gelangte allerdings zu dem Ergebnis, dass die nicht erwerbstätigen Revisionswerberinnen die Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht erfüllten, und befasste im Hinblick darauf die zuständige Fremdenpolizeibehörde (damals noch die Landespolizeidirektion Wien) hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung.

2 Mit Bescheiden je vom 29. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Revisionswerberinnen in der Folge - nach dem erste Ausweisungsbescheide vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) aufgehoben worden waren - gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet aus, wobei es außerdem gemäß § 70 Abs. 3 FPG jeweils einen einmonatigen Durchsetzungsaufschub erteilte.

3 Mit Erkenntnissen je vom 31. Jänner 2018 wies das BVwG die gegen die genannten Bescheide erhobene Beschwerde der beiden Revisionswerberinnen als unbegründet ab und sprach jeweils aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4 Das BVwG stellte fest, dass sich die Erstrevisionswerberin bereits zwischen 1983 und 2001 durchgehend im Bundesgebiet aufgehalten habe und dass die Zweitrevisionswerberin (demgemäß) in Österreich geboren worden sei. 2002 seien die Revisionswerberinnen nach Deutschland ausgereist, wo sie bis 2012 (Einreise nach Österreich im Juli 2012) gelebt hätten.

5 Die Erstrevisionswerberin beziehe eine (österreichische) Berufsunfähigkeitspension in der Höhe von EUR 271,93, einen Kinderzuschuss von EUR 13,84 und eine Rente aus Deutschland in der Höhe von EUR 165,33. Die mit ihr im gemeinsamen Haushalt lebende Zweitrevisionswerberin erhalte von ihrem Vater monatliche Unterhaltszahlungen in der Höhe von EUR 186,--. Darüber hinaus beziehe die arbeitsunfähige Erstrevisionswerberin, die an Parkinson sowie an einer degenerativen Augenerkrankung leide, Pflegegeld der Stufe 4 in der Höhe von EUR 677,60 sowie - seit 1. August 2012 - eine Ausgleichszulage in der aktuellen Höhe von EUR 602,25.

6 Für die von den Revisionswerberinnen benützte Mietwohnung seien - so das BVwG weiter - monatlich EUR 750,-- aufzubringen. Dass die Erstrevisionswerberin durch die Zweitrevisionswerberin gepflegt werde, könne nicht festgestellt werden.

7 Die Zweitrevisionswerberin, die "bis zuletzt" die Schule besucht habe, verfüge auf Grund ihres österreichischen Vaters über familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet, beide Revisionswerberinnen pflegten zudem soziale Kontakte. Es hätten jedoch keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer tiefgreifenden Integration in Österreich "in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht" festgestellt werden können.

8 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, dass die Zweitrevisionswerberin zwar monatliche Unterhaltszahlungen ihres Vaters in Höhe von EUR 186,-- erhalte, sonst aber als "mittel- und einkommenslos" anzusehen sei. Auch ihre Mutter, die Erstrevisionswerberin, verfüge nicht über ausreichende Mittel, um ihren Unterhalt und jenen der Zweitrevisionswerberin, ausgehend von dem anzulegenden gesetzlichen Maßstab, zu sichern; die der Erstrevisionswerberin zuerkannte Ausgleichszulage sei nämlich nicht zu berücksichtigen, auch das Pflegegeld könnte nur dann als freies Einkommen angerechnet werden, wenn es nicht zur Abdeckung der von Dritten erbrachten Betreuungsleistungen und/oder Deckung besonderer Aufwandskosten verwendet werde; in Ermangelung eines Vorbringens der Erstrevisionswerberin, das von ihr bezogene Pflegegeld nicht in diesem Sinne zu verwenden, sei allerdings davon auszugehen, dass sie das Pflegegeld zur Besorgung der genannten besonderen Aufwendungen heranziehen müsse und dass es ihr somit nicht "als freies Einkommen" zur Deckung des allgemeinen Unterhalts zur Verfügung stehe. Insgesamt ergebe sich daher für die beiden Revisionswerberinnen ein berücksichtigungswürdiges Einkommen in einer Gesamthöhe von EUR 637,10, was in Anbetracht der zu leistenden Aufwendungen für die Wohnung bei Gegenüberstellung mit den maßgeblichen Richtsätzen des ASVG zu dem Ergebnis führe, dass "keinesfalls festgestellt werden" könne, dass die Revisionswerberinnen über die gesetzlich geforderten hinreichenden finanziellen Mittel zur Deckung ihres Lebensunterhaltes verfügten. Das sei selbst dann der Fall, wenn das der Erstrevisionswerberin zuerkannte Pflegegeld als Einkommensbestandteil berücksichtigt werde, weil aufgrund der Erkrankung der Erstrevisionswerberin von insgesamt erhöhten Unterhaltskosten auszugehen sei. Insgesamt könne somit unter Beachtung der individuellen Situation der Revisionswerberinnen nicht vom Vorhandensein ausreichender finanzieller Mittel ausgegangen werden, was dadurch bestätigt werde, dass die Erstrevisionswerberin bereits kurz nach ihrer Einreise ins Bundesgebiet um Zuerkennung der Ausgleichszulage angesucht und diese auch zugesprochen bekommen habe; insofern liege der Schluss nahe, dass sie - auch unter Berücksichtigung ihrer Obsorge gegenüber der nach wie vor beschäftigungslosen Zweitrevisionswerberin - auf Sozialhilfeleistungen der Republik Österreich angewiesen sei. Sowohl die Erstrevisionswerberin als auch die nicht über eigene hinreichende finanzielle Mittel verfügende Zweitrevisionswerberin hielten sich daher unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.

9 In Bezug auf die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG führte das BVwG aus, dass bei beiden Revisionswerberinnen auf Grund sozialer Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet vom Vorliegen eines berücksichtigungswürdigen Privatlebens auszugehen sei. Die Zweitrevisionswerberin weise auch familiäre Bindungen auf, doch seien diese mangels näheren Kontaktes zu ihrem Vater relativiert. Eine Relativierung der persönlichen Interessen der beiden Revisionswerberinnen an einem Verbleib in Österreich ergebe sich im Übrigen aus deren Wissen um ihren unsicheren Aufenthalt im Bundesgebiet.

10 Was "Integrationssachverhalte in der Vergangenheit" anlange, so seien diese angesichts der "beinahe durchgehend 10 Jahre" andauernden Abwesenheit von Österreich kaum mehr maßgeblich. Angesichts dessen würden die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung der beiden Revisionswerberinnen deren persönliche Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen, zumal auch davon auszugehen sei, dass einer Wiedereingliederung in Deutschland keine großen Probleme entgegen stünden. Auch sei zu bedenken, dass die beiden Revisionswerberinnen im Rahmen ihrer unionsrechtlichen Personenfreizügigkeit sowie der Nutzung moderner Kommunikationsmittel ihre sozialen und familiären Kontakte im Bundesgebiet weiterhin pflegen könnten.

11 Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine, habe - so das BVwG abschließend - gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 Abs. 4 VwGVG von der beantragten Beschwerdeverhandlung abgesehen werden können.

 

12 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

13 Schon in den Zulassungsausführungen der Revision weisen die Revisionswerberinnen zutreffend darauf hin, dass das BVwG in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung der in der Beschwerde beantragten Verhandlung abgesehen hat. Die Revision ist daher zulässig und berechtigt.

14 Die beiden Revisionswerberinnen sind deutsche Staatsangehörige und damit EWR-Bürgerinnen. Da sie in Österreich nicht erwerbstätig sind, käme ihnen ein Aufenthaltsrecht in Österreich nur zu, wenn sie die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 2 NAG erfüllten, wenn sie also für sich und ihre Familienangehörigen (das wäre fallbezogen die jeweils andere Revisionswerberin) über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügten, sodass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen.

15 Dass die Erstrevisionswerberin Ausgleichszulage bezieht, steht allerdings vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union dem Bestand eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht zwingend entgegen. Demnach ist nämlich bei der Beurteilung, ob ein Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 lit. b der Freizügigkeitsrichtlinie - in Österreich umgesetzt durch § 51 Abs. 1 Z 2 NAG - in Anspruch nehmen zu können, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen, ohne die beantragten Sozialleistungen zu berücksichtigen, was notwendig impliziert, dass die Beantragung von Sozialleistungen und allenfalls ein Bezug derselben nicht schon per se bedeutet, dass keine ausreichenden Existenzmittel vorliegen (VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0132, Rn. 10, mit Verweis auf EuGH 11.11.2014, Dano, C-333/13 , Rn. 80, und EuGH 19.9.2013, Brey, C-140/12 , Rn. 63 ff).

16 Der Anforderung, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation der Revisionswerberinnen vorzunehmen, hat das BVwG zwar dem Grunde nach entsprochen. In diesem Sinn hat es insbesondere auf die Erkrankungen der Erstrevisionswerberin und den darauf zurückzuführenden Erhalt von Pflegegeld Bezug genommen, ist aber einerseits davon ausgegangen, dass dieses zur Finanzierung von Betreuungsleistungen herangezogen werde und andererseits, dass die notwendigen Unterhaltskosten "insgesamt höher anzusetzen sind als im Allgemeinen".

17 Diese Überlegungen zur Verwendung des Pflegegeldes und zu einem erhöhten Unterhaltsbedarf der Erstrevisionswerberin waren vom BFA noch nicht angestellt worden; dieses hatte das Pflegegeld ohne Weiteres den der Erstrevisionswerberin zur Verfügung stehenden Mitteln zugezählt. Auch die Revisionswerberinnen selbst haben sich zur Verwendung des Pflegegeldes und zu einem allfälligen erhöhten Unterhaltsbedarf der Erstrevisionswerberin nicht geäußert. Wenngleich die diesbezüglich angestellten Erwägungen des BVwG für sich betrachtet nicht unplausibel sind, so durfte es diesbezüglich daher nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen und wäre somit zunächst unter diesem Gesichtspunkt zur Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung verpflichtet gewesen.

18 Ob den angesprochenen Fragen freilich überhaupt Relevanz zukommt, muss hier nicht näher untersucht werden. Denn das BVwG wäre jedenfalls, auch wenn die Revisionswerberinnen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten und Sozialhilfe unangemessen in Anspruch nähmen, unter dem Blickwinkel der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG iVm § 66 Abs. 2 FPG zur Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung verpflichtet gewesen. Vom Verwaltungsgerichtshof wurde nämlich schon wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukomme, und zwar insbesondere auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG könne bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft (vgl. aus jüngerer Zeit etwa VwGH 15.3.2018, Ra 2017/21/0147, Rn. 13, mwN).

19 Ein solcher eindeutiger Fall lag hier schon im Hinblick auf den vom BVwG festgestellten mehrjährigen Schulbesuch der Zweitrevisionswerberin, dessen nähere Natur und künftige Dauer im Übrigen hätten ermittelt werden müssen, nicht vor. Auch von der konkreten Pflegebedürftigkeit der Erstrevisionswerberin hätte sich das BVwG im gegebenen Zusammenhang ein näheres Bild machen müssen.

20 Zusammenfassend ergibt sich damit, dass das BVwG der ihm obliegenden Verhandlungspflicht nicht entsprochen hat. Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

21 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auch auf dessen § 52 Abs. 1, in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. August 2018

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