VwGH Ro 2018/18/0008

VwGHRo 2018/18/000813.12.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. August 2018, Zl. W236 1315211- 4/3E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: A A), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art18;
12010P/TXT Grundrechte Charta Art19 Abs2;
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;
32013L0032 IntSchutz-RL Art31 Abs8;
32013L0032 IntSchutz-RL Art46 Abs5;
32013L0032 IntSchutz-RL Art46 Abs6;
32013L0032 IntSchutz-RL Art46 Abs8;
62016CJ0181 Gnandi VORAB;
62018CO0269 C u.a. VORAB;
BFA-VG 2014 §16 Abs4;
BFA-VG 2014 §18 Abs1;
BFA-VG 2014 §18 Abs5 idF 2017/I/145;
BFA-VG 2014 §18 Abs5;
EURallg;
MRK Art2;
MRK Art3;
MRK Art8;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RO2018180008.J00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte am 8. Mai 2017 den gegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 17. Juli 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß §§ 57 und 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkte I. bis III.) Gleichzeitig erließ es gegen ihn ein unbefristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt IV.), aberkannte einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung (Spruchpunkt V.) und sprach aus, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.).

3 Die Entscheidung betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung stützte das BFA im Wesentlichen darauf, dass im Falle des Mitbeteiligten schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen würden, dass er aufgrund seines - näher festgestellten - strafrechtswidrigen Verhaltens eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle.

4 Aufgrund der gegen den gesamten Bescheid erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten erließ das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) das gegenständliche Teilerkenntnis in Bezug auf Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides (Aberkennung der aufschiebenden Wirkung), gab der Beschwerde insoweit Folge und hob Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides ersatzlos auf. Die Revision erklärte das BVwG für zulässig.

5 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde könne vor dem Hintergrund des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16 , keinen Bestand haben. Der EuGH erachte zwar die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig mit der (ablehnenden) Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz als zulässig, halte aber auch deutlich fest, dass zufolge der Verfahrensrichtlinie (in Beachtung auch der maßgeblichen Bestimmungen in der Neufassung durch die Richtlinie 2013/32 - Hinweis auf Rn. 10 bis 12 des Urteils) in Verbindung mit der Rückführungsrichtlinie der Aufenthalt eines Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz abgewiesen wurde, illegal werden könne. Im Falle der Erhebung eines Rechtsmittels gegen eine mit der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz verbundene Rückkehrentscheidung seien alle Wirkungen dieser Rückkehrentscheidung auszusetzen. Diese Aussagen des angeführten Urteils seien klar und deutlich bzw. keiner weiteren Auslegung bedürftig. Im Unterschied dazu sehe § 18 Abs. 1 BFA-VG die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung vor, um die Rückkehrentscheidung schon während des anhängigen Beschwerdeverfahrens effektuieren zu können. Genau diese Wirkungen einer Rückkehrentscheidung seien aber im Falle der Erhebung einer Beschwerde bis zu deren rechtskräftiger Erledigung nach den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie im Lichte der verbindlichen Auslegung des EuGH ausgeschlossen. Die fallbezogen herangezogene Bestimmung des § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG sei daher unangewendet zu lassen. An dieser Beurteilung ändere im Übrigen auch § 18 Abs. 5 BFA-VG nichts, weil nach den Ausführungen des EuGH die Wirkungen einer Rückkehrentscheidung bereits kraft Gesetzes jedenfalls bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsmittelverfahrens aufgeschoben sein müssten.

6 Die Zulässigkeit der Revision begründete das BVwG damit, dass eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darin liege, ob der die aufschiebende Wirkung aberkennende Spruchpunkt im angefochtenen Bescheid aufzuheben sei oder mit eingeschränkter normativer Wirkung bestehen bleiben könne. Nach Auffassung des BVwG seien aufgrund des Urteils des EuGH Gnandi sämtliche - unmittelbaren - normativen Wirkungen einer Aberkennung der aufschiebenden Wirkung ausgeschlossen bzw. unanwendbar, weshalb eine ersatzlose Aufhebung des entsprechenden Spruchpunktes vorzunehmen gewesen sei.

7 Gegen dieses Teilerkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die im Wesentlichen geltend macht, dass die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde nach § 18 Abs. 1 BFA-VG mit dem Unionsrecht vereinbar sei. In seiner rechtlichen Beurteilung übersehe das BVwG, dass sich das Urteil des EuGH Gnandi lediglich mit dem "Normalfall" der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz beschäftige, aber jene Fälle, in denen gemäß Art. 46 Abs. 5, 6 und 8 der Richtlinie 2013/32 (Verfahrensrichtlinie) Ausnahmen vom Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates während des Rechtsmittelverfahrens gemacht werden könnten, nicht berücksichtige. Demnach seien die Ausführungen im Urteil Gnandi nicht auf den gegenständlichen Fall übertragbar. Zudem habe der EuGH in seiner nachfolgenden Entscheidung vom 5. Juli 2018, C., J. und S., C-269/18 P PU, auf besagte Ausnahmeregelungen der Verfahrensrichtlinie Bezug genommen. Er habe diesbezüglich ausgeführt, dass die Wirkungen einer Rückkehrentscheidung für die Dauer der Prüfung des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates ausgesetzt seien. Im Umkehrschluss bedeute dies, dass nach diesem Zeitpunkt die vollen Wirkungen auch der Rückkehrentscheidung trotz eines anhängigen Asyl-Beschwerdeverfahrens eintreten dürften. Ausdrückliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dieser Frage fehle. Auch liege keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dazu vor, ob die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 18 Abs. 1 BFA-VG auch nach Inkrafttreten des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2017 (FrÄG 2017) weiterhin mit Beschwerde angefochten werden könne oder lediglich eine amtswegige Prüfung durch das Gericht gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG stattzufinden habe.

8 Der Mitbeteiligte erstattete zu dieser Amtsrevision keine Revisionsbeantwortung.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig und begründet.

10 Die maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen des nationalen

Rechts lauten (auszugsweise):

11 1. Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz,

BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 24/2017 (VwGVG):

"Aufschiebende Wirkung

§ 13. (1) Eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat aufschiebende Wirkung."

12 2. BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 140/2017 (zu § 16) bzw. idF BGBl. I Nr. 145/2017 (zu § 18):

"Beschwerdefrist und Wirkung von Beschwerden

§ 16. (...)

(4) Kommt einer Beschwerde gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen oder abgewiesen wurde, oder mit der eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG erlassen wurde, die aufschiebende Wirkung nicht zu, ist diese durchsetzbar. Mit der Durchführung der mit einer solchen Entscheidung verbundenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder der die bereits bestehende Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung ist bis zum Ende der Rechtsmittelfrist, wird ein Rechtsmittel ergriffen bis zum Ablauf des siebenten Tages ab Einlangen der Beschwerdevorlage, zuzuwarten. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Bundesamt unverzüglich vom Einlangen der Beschwerdevorlage und von der Gewährung der aufschiebenden Wirkung in Kenntnis zu setzen."

"Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde

§ 18. (1) Einer Beschwerde gegen eine abweisende Entscheidung

über einen Antrag auf internationalen Schutz kann das Bundesamt

die aufschiebende Wirkung aberkennen, wenn

1. (...)

2. schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass

der Asylwerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder

Ordnung darstellt,

3. (bis) 7. (...)

(...) Hat das Bundesamt die aufschiebende Wirkung aberkannt, gilt dies als Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen eine mit der abweisenden Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz verbundenen Rückkehrentscheidung.

(...)

(5) Das Bundesverwaltungsgericht hat der Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung vom Bundesamt aberkannt wurde, binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde von Amts wegen die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. In der Beschwerde gegen den in der Hauptsache ergangenen Bescheid sind die Gründe, auf die sich die Behauptung des Vorliegens einer realen Gefahr oder einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit gemäß Satz 1 stützt, genau zu bezeichnen. § 38 VwGG gilt. (...)"

13 Die für den Revisionsfall maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung), ABl. vom 29. Juni 2013, L 180/60 (Verfahrensrichtlinie) lauten (auszugsweise):

"Artikel 31

Prüfungsverfahren

(...)

(8) Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass das Prüfungsverfahren im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Artikel 43 durchgeführt wird, wenn

  1. a) (bis) i) (...)
  2. j) es schwerwiegende Gründe für die Annahme gibt, dass der

    Antragsteller eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung des Mitgliedstaats darstellt oder er aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung nach nationalem Recht zwangsausgewiesen wurde. (...)

    Artikel 46

    Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf

    (...)

(5) Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf.

(6) Im Fall einer Entscheidung,

a) einen Antrag (...) nach Prüfung gemäß Artikel 31 Absatz 8 als unbegründet zu betrachten, (...) ist das Gericht befugt, entweder auf Antrag des Antragstellers oder von Amts wegen darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, wenn die Entscheidung zur Folge hat, das Recht des Antragstellers auf Verbleib in dem Mitgliedstaat zu beenden und wenn in diesen Fällen das Recht auf Verbleib in dem betreffenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im nationalen Recht nicht vorgesehen ist. (...)

(8) Die Mitgliedstaaten gestatten dem Antragsteller, bis zur Entscheidung in dem Verfahren nach den Absätzen 6 und 7 darüber, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, im Hoheitsgebiet zu verbleiben. (...)"

14 Vorauszuschicken ist, dass der gegenständliche Fall dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) unterfällt, weil der Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz am 8. Mai 2017 gestellt worden ist, also jedenfalls nach jenem Zeitpunkt, den die Übergangsbestimmung von Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie als spätest möglich ansieht. Auf die im Vorabentscheidungsersuchen C-297/17 aufgeworfene und vom EuGH noch nicht entschiedene Rechtsfrage, ob diese Richtlinie nach der Übergangsbestimmung des Art. 52 Abs. 1 auch für Fälle anwendbar sein kann, bei denen der Antrag auf internationalen Schutz vor dem 20. Juli 2015 gestellt worden ist, braucht daher im gegebenen Zusammenhang nicht eingegangen zu werden.

15 Die Verfahrensrichtlinie eröffnet den Mitgliedstaaten unter anderem die Möglichkeit, in den in Art. 31 Abs. 8 lit. a bis j abschließend genannten Fällen - abweichend vom Regelfall - ein beschleunigtes Prüfungsverfahren durchzuführen. Für diese Fälle erlaubt die Richtlinie eine Ausnahme von dem in Art. 46 Abs. 5 vorgesehenen Grundsatz, dass der Antragsteller bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgerecht ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im Hoheitsgebiet verbleiben darf. Dies ergibt sich implizit aus Art. 46 Abs. 6 der Verfahrensrichtlinie, der für diesen Fall ausdrücklich vorsieht, dass ein Gericht befugt ist, entweder auf Antrag des Antragstellers oder von amtswegen darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, wenn das Recht auf Verbleib in dem betreffenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im nationalen Recht nicht vorgesehen ist. Diese Regelung kann nur so verstanden werden, dass die Entscheidung des Gerichtes auch dahin lauten kann, dass der Antragsteller schon vor Abschluss des Verfahrens über seinen Rechtsbehelf nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf.

16 Der EuGH hat sich mit den gegenständlich relevanten Rechtsfragen in jüngerer Vergangenheit in zwei unterschiedlichen Fallkonstellationen beschäftigt:

17 In seinem Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C- 181/16 , behandelte der EuGH einen Fall, in dem ein togolesischer Staatsangehöriger im Jahr 2011 bei den belgischen Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, der abgelehnt worden war. Noch vor Rechtskraft dieser Entscheidung wurde der Antragsteller angewiesen, das belgische Staatsgebiet zu verlassen. Dieser dem Urteil des EuGH entnehmbare Sachverhalt bietet keinen Anhaltspunkt dafür, dass im dort entschiedenen Fall ein beschleunigtes Asylverfahren durchgeführt worden oder der Antrag als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden wäre; beides sind besondere Verfahrenskonstellationen, die sowohl in der Richtlinie 2005/85 (Verfahrensrichtlinie in der Stammfassung) als auch in der Richtlinie 2013/32 (Verfahrensrichtlinie in der Neufassung) - wenn auch zum Teil mit unterschiedlichen Regelungsinhalten - vorgesehen waren bzw. sind. Insoweit ist davon auszugehen, dass im Urteil Gnandi der Regelfall eines Asylverfahrens entschieden wurde, nicht aber ein Fall, in dem diese besonderen Verfahrenskonstellationen eine Rolle spielten. Es lässt sich - entgegen den Ausführungen des BVwG - auch nicht erkennen, dass der EuGH im Urteil Gnandi die Bestimmungen der Richtlinie 2013/32 , insbesondere deren Art. 46 Abs. 6, überhaupt in den Blick genommen hätte, was in Anbetracht der in der Rechtssache Gnandi offenkundig noch maßgeblichen Richtlinie 2005/85 , die eine vergleichbare Regelung nicht enthielt, auch folgerichtig erscheint.

18 Der EuGH führte im Urteil Gnandi aus, dass die Richtlinie 2008/115 (Rückführungsrichtlinie) in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85 und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 GRC es nicht verbietet, gleich nach Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung und somit vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des internationalen Schutzes eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Es müsse aber insbesondere gewährleistet sein, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des internationalen Schutzes ausgesetzt würden.

19 In seinem Beschluss vom 5. Juli 2018, C., J., und S., C-269/18 P PU, beschäftigte sich der EuGH ausdrücklich mit Art. 46 Abs. 6 und 8 der Richtlinie 2013/32 und setzte diese Norm zum Urteil Gnandi in Bezug. Der EuGH hatte dabei die Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung eines Asylwerbers zwecks Abschiebung zu beurteilen, dessen Antrag unter Bezugnahme auf einen Ausnahmetatbestand des Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden war. Der EuGH wiederholte die grundsätzlichen Aussagen im Urteil Gnandi, wonach gegen den Betroffenen grundsätzlich ab der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Rückkehrentscheidung erlassen werden könne. Gleichwohl sei hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen hätten, dass bei jeder Rückkehrentscheidung die in Kapitel III der Richtlinie 2008/115 genannten Verfahrensgarantien und die übrigen einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des einzelstaatlichen Rechts beachtet würden. Eine solche Pflicht sei in Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie ausdrücklich für den Fall vorgesehen, dass die Rückkehrentscheidung zusammen mit der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde ergehe. In diesem Zusammenhang hätten die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz seine volle Wirksamkeit entfalte, so dass während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt werde, bis zur Entscheidung über ihn unter anderem alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen seien (Rn. 48 bis 50 unter Hinweis auf das Urteil Gnandi in dessen Rn. 59 bis 61).

20 Wie der EuGH im Beschluss C., J. und S., weiter ausführte, gelte das Gleiche für einen Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag auf internationalen Schutz im Einklang mit Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sei. Allerdings habe dieser Betroffene nach Art. 46 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 kein volles Bleiberecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates bis zur Entscheidung über seinen Rechtsbehelf. Im Einklang mit den Anforderungen von Art. 46 Abs. 6 letzter Unterabsatz der Richtlinie müsse er jedoch ein Gericht anrufen können, das darüber zu entscheiden habe, ob er in diesem Hoheitsgebiet verbleiben könne, bis in der Sache über seinen Rechtsbehelf entschieden werde. Art. 46 Abs. 8 der Richtlinie sehe vor, dass der betreffende Mitgliedstaat dem Betroffenen bis zur Entscheidung über sein Bleiberecht in diesem Verfahren gestatten müsse, in seinem Hoheitsgebiet zu verbleiben. Aus alledem ergebe sich, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sei, während der Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen den ablehnenden Bescheid nicht nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft genommen werden dürfe. Sei ein solcher Rechtsbehelf eingelegt worden, dürfe der Betroffene nicht mehr auf der Grundlage dieses Artikels in Haft genommen werden, solange er gemäß Art. 46 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verbleiben dürfe (Rn. 52 bis 54).

21 Der Verwaltungsgerichtshof verkennt nicht, dass der zitierte Beschluss des EuGH C., J. und S. primär die Rechtsfrage betraf, ob und ab welchem Zeitpunkt der Antragsteller unter Bedachtnahme auf Art. 46 Abs. 6 und 8 der Verfahrensrichtlinie inhaftiert werden darf, während es im gegenständlichen Fall darum geht, ob der Antragsteller schon vor der abschließenden gerichtlichen Entscheidung über seinen Rechtsbehelf gegen die Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz außer Landes gebracht werden darf. Es wird auch nicht übersehen, dass das Urteil des EuGH einen Fall betraf, in dem der Antrag des Asylwerbers als "offensichtlich unbegründet" im Sinne des Art. 32 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie abgewiesen worden war, während dies im vorliegenden Fall - mangels entsprechender Regelung im nationalen österreichischen Recht - nicht geschehen ist, sondern sich das BFA auf die Möglichkeit einer Aberkennung der aufschiebenden Wirkung nach § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG gestützt hat.

22 Dennoch stellen die Ausführungen des EuGH im oben genannten Beschluss die Rechtslage in solcher Weise klar, dass eine neuerliche Befassung des EuGH mit einem Vorabentscheidungsersuchen nicht geboten erscheint. Der EuGH hat es nämlich in der besonderen Verfahrenskonstellation eines Asylverfahrens, in dem die Voraussetzungen des Art. 46 Abs. 6 und 8 der Verfahrensrichtlinie erfüllt sind, offenkundig für zulässig erachtet, den weiteren Verbleib des Betroffenen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nur solange zu gestatten, bis das Gericht die Rechtmäßigkeit der sofortigen Aufenthaltsbeendigung überprüft hat.

23 Sofern diese gerichtliche Entscheidung darauf Bedacht nimmt, dass die Voraussetzungen des Art. 46 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 31 Abs. 8 der Verfahrensrichtlinie erfüllt sind, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 18, 19 Abs. 2 GRC eingehalten wird und dass die durch Art. 47 GRC garantierten Verfahrensrechte des Betroffenen nicht verletzt werden, wird dadurch den rechtlichen Leitlinien, wie sie sich aus der zitierten Rechtsprechung des EuGH ergeben, entsprochen.

24 Der österreichische Gesetzgeber hat zwar keine Abweisung von Asylanträgen als offensichtlich unbegründet gemäß Art. 32 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie vorgesehen, aber von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, in den in Art. 31 Abs. 8 der Verfahrensrichtlinie genannten Fällen ein beschleunigtes Prüfungsverfahren durchzuführen (§ 27a AsylG 2005). Er hat in § 18 Abs. 1 BFA-VG für die dort genannten Tatbestände (wovon jedenfalls der im gegenständlichen Verfahren relevante Tatbestand des § 18 Abs. 1 Z 2 in Art. 31 Abs. 8 lit. j der Verfahrensrichtlinie Deckung findet) vorgesehen, dass das BFA einer Beschwerde gegen den Bescheid die aufschiebende Wirkung aberkennen kann. Gleichzeitig wurde angeordnet, dass mit der Durchführung der mit einer solchen Entscheidung verbundenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw. der Rückkehrentscheidung bis zum Ende der Rechtsmittelfrist und im Falle der Erhebung eines Rechtsmittels bis zum Ablauf des siebenten Tages ab Vorlage der Beschwerde an das BVwG zugewartet werden muss (§ 16 Abs. 4 BFA-VG).

25 Korrespondierend dazu sieht § 18 Abs. 5 BFA-VG vor, dass binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde von Amts wegen die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen ist, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

26 Dieser Rechtsschutz erweist sich auch im Lichte der dargestellten Rechtsprechung des EuGH als unionsrechtskonform, wenn die Bedingungen, wie sie in Rz 23 dieses Erkenntnisses formuliert worden sind, eingehalten werden. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn die Regelungen der §§ 16 Abs. 4 und 18 Abs. 5 BFA-VG im Sinne der unionsrechtlichen Vorgaben ausgelegt werden:

27 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits erkannt, dass belastendes nationales Recht, das in einer konkreten Konstellation im Widerspruch zu unmittelbar anwendbarem Unionsrecht steht, für diese Konstellation verdrängt wird. Nationales Recht bleibt insoweit unangewendet, als ein Verstoß gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht gegeben ist. Die Verdrängungswirkung des Unionsrechts hat zur Folge, dass die nationale gesetzliche Regelung in jener Gestalt anwendbar bleibt, in der sie nicht mehr im Widerspruch zum Unionsrecht steht. Die Verdrängung erreicht dabei bloß jenes Ausmaß, das gerade noch hinreicht, um einen unionsrechtskonformen Zustand herbeizuführen (vgl. etwa VwGH 25.10.2011, 2011/15/0070, mwN).

28 Ausgehend davon gebietet es das Unionsrecht, § 18 Abs. 5 BFA-VG so auszulegen, dass damit eine Überprüfung im Sinne der in Rz 23 dieses Erkenntnisses genannten Voraussetzungen gewährleistet wird. Dies erfordert, dass das BVwG bei seiner Entscheidung über den Verbleib des Antragstellers im Hoheitsgebiet nach Aberkennung der aufschiebenden Wirkung durch das BFA zunächst klärt, ob eine besondere Verfahrenskonstellation vorliegt, in der unter Bedachtnahme auf Art. 31 Abs. 8 der Verfahrensrichtlinie eine Beendigung des Verbleibs des Antragstellers vor der Entscheidung über seine Beschwerde in der Hauptsache gerechtfertigt ist.

29 Diese gerichtliche Überprüfung entspricht im Wesentlichen jener, die auch bei Entscheidung über die Beschwerde des Asylwerbers gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung durch das BFA gemäß § 18 Abs. 1 BFA-VG vorgenommen werden muss. Der Verwaltungsgerichtshof hat § 18 Abs. 5 BFA-VG in der Fassung vor dem FrÄG 2017 dahingehend ausgelegt, dass damit eine Verpflichtung für das BVwG geschaffen worden ist, über die Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung nach § 18 Abs. 1 BFA-VG binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde zu entscheiden (vgl. grundlegend VwGH 13.9.2016, Fr 2016/01/0014, insbesondere Rz 25). Um einen unionsrechtskonformen Zustand der nationalen Rechtslage herzustellen, hält der Verwaltungsgerichtshof diese Rechtsprechung ungeachtet der erfolgten Änderungen im Gesetzestext auch für die novellierte Fassung des § 18 Abs. 5 BFA-VG durch das FrÄG 2017 aufrecht.

30 Klarzustellen ist, dass die Entscheidung des BVwG über die Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung nach den Vorgaben des § 18 Abs. 5 BFA-VG auch im Blick haben muss, ob anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dadurch wird auch dem Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 18, 19 Abs. 2 GRC entsprochen.

31 Nach den unionsrechtlichen Vorgaben müssen die Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung überdies gesetzlich solange ausgesetzt sein, solange der Betroffene gemäß Art. 46 Abs. 8 der Verfahrensrichtlinie im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates verbleiben darf. Im Zusammenhalt mit Art. 46 Abs. 6 der Verfahrensrichtlinie hat das zur Folge, dass die Aussetzung der Rechtswirkungen jedenfalls bis zur Entscheidung des Gerichtes, ob der Antragsteller (zumindest) während des Rechtsmittelverfahrens im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates verbleiben darf, vorgesehen sein muss. Dem wird im österreichischen Recht grundsätzlich - und zwar jedenfalls im Zusammenhang mit der Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme - durch die siebentägige Wartepflicht nach § 16 Abs. 4 BFA-VG entsprochen. Ist bei Ablauf der Frist gemäß § 16 Abs. 4 BFA-VG aber noch keine gerichtliche Entscheidung über die aufschiebende Wirkung ergangen, muss zur Erzielung eines unionsrechtskonformen Zustandes davon ausgegangen werden, dass sich die gesetzlich angeordnete Wartepflicht bis zur tatsächlichen Entscheidung des Gerichtes über die Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung (im oben dargestellten Sinne) verlängert und die Wirkungen der Rückkehrentscheidung jedenfalls bis dahin ausgesetzt sind.

32 Mit dieser Maßgabe entsprechen die nationalen österreichischen Regelungen den Anforderungen des Unionsrechts. Die Rechtsansicht des BVwG, die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung nach § 18 Abs. 1 BFA-VG sei generell unionsrechtswidrig, erweist sich demgegenüber als rechtlich unzutreffend.

33 Das angefochtene (Teil‑)Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Wien, am 13. Dezember 2018

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