Normen
DO Wr 1994 §94 Abs2;
MRK Art6 Abs1;
MRK Art6;
VwGG §13 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018090156.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die Stadt Wien hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.346,40 Euro binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der im Jahr 1968 geborene Revisionswerber steht in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zur Stadt Wien.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 1. Juni 2018 wurde die Suspendierung des Revisionswerbers gemäß § 94 Abs. 2 der (Wiener) Dienstordnung (DO 1994) ausgesprochen, weil der Revisionswerber unter Verdacht stehe, gegen das Verbot, sich Geschenke, die mit der dienstlichen Tätigkeit im Zusammenhang stehen, zuwenden zu lassen, verstoßen zu haben, indem er sich als Werkmeister von A (Anonymisierungen durch den Verwaltungsgerichtshof) im Jänner 2013 einen Einkaufsgutschein für ein näher bezeichnetes Shoppingcenter im Wert von 200,-- Euro für das erste Quartal des Jahres 2013 habe zuwenden lassen, um sich dadurch unrechtmäßig zu bereichern. Der Revisionswerber habe es dadurch unterlassen, die ihm übertragenen Geschäfte unter Beachtung der bestehenden Rechtsvorschriften mit Sorgfalt, Fleiß und Unparteilichkeit zu besorgen, sowie dem Gebot, im Dienst alles zu vermeiden, was die Achtung und das Vertrauen, die seiner Stellung entgegengebracht werden, untergraben könnte, zuwidergehandelt. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für nicht zulässig erklärt.
3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision. Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht machte von der im Vorverfahren eingeräumten Möglichkeit der Erstattung einer Revisionsbeantwortung keinen Gebrauch.
4 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
5 Gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nach § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
7 Soweit der Revisionswerber in seinem Vorbringen zur Zulässigkeit der Revision das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung rügt, erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch berechtigt:
8 Das Verwaltungsgericht kann gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG ungeachtet eines Parteiantrags von der Durchführung einer Verhandlung absehen, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) entgegenstehen.
9 Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher durchzuführen, wenn es um "civil rights" oder "strafrechtliche Anklagen" im Sinne des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Bei einem rechtswidrigen Unterlassen der nach Art. 6 EMRK erforderlichen mündlichen Verhandlung ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. VwGH 22.2.2018, Ra 2017/09/0053; 20.10.2015, Ra 2015/09/0051).
10 Bei der Suspendierung handelt es sich nur um eine einen Teil des Disziplinarverfahrens darstellende, bloß vorläufige, auf die Dauer des Disziplinarverfahrens beschränkte Maßnahme, mit der nicht abschließend über eine "Streitigkeit" über ein Recht entschieden wird. Ob die Suspendierung dauernde Rechtsfolgen nach sich zieht, hängt vom Ausgang der Disziplinarsache ab. Daher hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung die Ansicht vertreten, dass die Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK im Verfahren über die Suspendierung nicht zur Anwendung gelangen (vgl. VwGH 23.4.2009, 2007/09/0296). Diese Ansicht kann jedoch vor dem Hintergrund neuerer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nicht aufrechterhalten werden (vgl. EGMR 23.5.2017, Paluda/Slovakia, 33392/12; darin hat sich der EGMR mit der Suspendierung eines slowakischen Richters befasst, diese im Lichte des Art. 6 Abs. 1 EMRK geprüft und ist letzten Endes zum Ergebnis gekommen, dass durch die Besetzung des entscheidenden Richterrates und im diesbezüglichen Verfahren durch die Unterlassung einer Einvernahme des betroffenen Richters Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde; vgl. zur Anwendung von Art. 6 EMRK in Disziplinarverfahren auch VfSlg. 18.927/2009 und EGMR 30.9.2008, Melek Sima Yilmaz/Türkei, 37.829/05). Demnach ist dem Disziplinarbeschuldigten auch im Suspendierungsverfahren grundsätzlich ein Recht darauf zuzuerkennen, dass seine Angelegenheit in einer mündlichen Verhandlung vor dem in der Sache entscheidenden Gericht erörtert wird. Einer Beschlussfassung im Sinne des § 13 Abs. 1 Z 1 VwGG bedarf es hiezu nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits ausgesprochen, dass die Beschlussfassung in einem verstärkten Senat gemäß § 13 Abs. 1 VwGG nicht erforderlich ist, wenn eine bestimmte von der bisherigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abweichende verfassungskonforme Auslegung erforderlich ist (vgl. 23.1.1998, 98/02/0011, VwSlg. 14.827A und 24.8.2011, 2010/06/0002, VwSlg. 18.189A).
11 Das Verwaltungsgericht hätte sohin nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Da das Verwaltungsgericht dies verkannt hat, hat es das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb dieses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben war, ohne dass auf das weitere Vorbringen einzugehen war.
12 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 13. Dezember 2018
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