Normen
AVG §64 Abs1;
BFA-VG 2014 §18 Abs5;
GewO 1994 §78 Abs1;
VwGVG 2014 §13 Abs1;
VwGVG 2014 §13 Abs3;
VwGVG 2014 §22 Abs1;
VwRallg;
Spruch:
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Die Revisionswerber haben dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 553,20 sowie der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 jeweils binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Vorgeschichte
2 Mit Bescheid vom 18. Oktober 2016 erteilte der Magistrat der Stadt Wien (belangte Behörde) der mitbeteiligten Partei gemäß § 81 Abs. 1 GewO 1994 die gewerbebehördliche Genehmigung zur Änderung der Betriebsanlage an einem näher bezeichneten Standort in W unter Vorschreibung von näher bezeichneten Auflagen.
3 Gegen diesen Bescheid erhoben die Revisionswerber Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht).
4 Unter einem wurde mit der Beschwerde der Antrag gestellt, die Inanspruchnahme des Rechts der mitbeteiligten Partei zum Betrieb der geänderten Betriebsanlage vor Eintritt der Rechtskraft des Genehmigungsbescheides auszuschließen. Begründet wurde dieser Antrag damit, dass auf Grund der - unzureichend beurteilten - Lärmbelästigungen der Betrieb der Anlage geeignet sei, die Gesundheit der Revisionswerber zu gefährden.
Angefochtener Beschluss
5 Mit dem angefochtenen Beschluss wurden die Anträge der Revisionswerber auf Ausschluss der Inanspruchnahme des Rechts der mitbeteiligten Partei zum Betrieb der geänderten Betriebsanlage vor Eintritt der Rechtskraft des Genehmigungsbescheides gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG als unzulässig zurückgewiesen (I.) und eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß § 25a Abs. 1 VwGG für zulässig erklärt (II.).
6 Begründend führte das Verwaltungsgericht nach Wiedergabe des oben angeführten Verfahrensganges in rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen aus, § 78 Abs. 1 erster Satz GewO 1994 normiere eine Abweichung von § 13 Abs. 1 VwGVG und gehe als speziellere Norm vor. § 78 Abs. 1 GewO 1994 derogiere § 13 Abs. 1 VwGVG nicht nur in inhaltlicher, sondern (im Hinblick auf die derzeit geltende Fassung BGBl. I Nr. 85/2013) auch in zeitlicher Hinsicht.
7 Während gemäß (dem hinsichtlich der aufschiebenden Wirkung vergleichbaren) § 13 Abs. 3 und § 22 Abs. 1 VwGVG die Behörde die aufschiebende Wirkung auf Antrag zuzuerkennen hat, hat die erkennende Behörde gemäß § 78 Abs. 1 GewO 1994 von Amts wegen die "Rechtswohltat" des ersten Satzes dieser Bestimmung auszuschließen.
8 Der Gesetzgeber sehe, wenn er es für nötig halte, anstelle oder neben der amtswegigen Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels einen diesbezüglichen Antrag des Rechtsmittelwerbers ausdrücklich vor. In § 78 Abs. 1 GewO 1994 sei eine solche Antragstellung jedoch nicht normiert. Vielmehr habe die zur Entscheidung berufene Behörde, sohin das Verwaltungsgericht, von Amts wegen tätig zu werden.
9 Daher gehe das Verwaltungsgericht davon aus, dass nach dem Willen des Gesetzgebers § 78 Abs. 1 GewO 1994 keine Antragslegitimierung der beschwerdeführenden Partei bestehen solle.
10 Darüber hinaus sei weder im § 356 Abs. 3 GewO 1994 noch im Abs. 4 dieser Bestimmung eine Parteistellung der Nachbarn in einem Verfahren zum Ausschluss der "Rechtswohltat" des ersten Satzes des § 78 Abs. 1 GewO 1994 normiert.
11 Wenn der Gesetzgeber eine solche Parteistellung bzw. Antragslegitimation vor Augen gehabt hätte, hätte er diese auch normiert.
12 Aus diesem Grunde seien die Anträge der Revisionswerber als unzulässig zurückzuweisen gewesen.
13 Das Verwaltungsgericht habe sich auch von Amts wegen nicht dazu veranlasst gesehen, die Rechtswirkungen des § 78 Abs. 1 erster Satz GewO 1994 auszuschließen:
14 Gegenstand des Betriebsanlagengenehmigungsverfahrens sei die Änderung eines Einzelhandelslokales auf Grund der Neuübernahme durch die Revisionswerberin. Im Zuge dieser Neuübernahme komme es zu einer Modernisierung der Filiale. Die Genehmigung für die projektierte Änderung sei nach Durchführung eines umfangreichen Ermittlungsverfahrens seitens der belangten Behörde unter Vorschreibung von 16 Auflagen erteilt worden. Mit dem Vorbringen in ihren Anträgen vermögen die Revisionswerber eine besondere Situation des Einzelfalles konkret nicht darzutun. Basierend auf den nicht von vornherein als unschlüssig zu erkennenden Sachverständigengutachten erscheine eine Lebens- oder Gesundheitsgefährdung der Revisionswerber nicht plausibel.
15 Die ordentliche Revision sei zulässig, da Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehle, ob beschwerdeführende Nachbarn hinsichtlich der Suspendierung der "Rechtswohltat" des § 78 Abs. 1 GewO 1994 antragslegitimiert seien oder nicht. Dieser Frage komme über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung zu.
16 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende ordentliche Revision, die vom Verwaltungsgericht gemäß § 30a Abs. 6 VwGG mit der Revisionsbeantwortung der belangten Behörde und der mitbeteiligten Partei unter Anschluss der Akten des Verfahrens vorgelegt wurde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
17 Das Verwaltungsgericht hat die ordentliche Revision zugelassen, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehle, ob beschwerdeführende Nachbarn einer gewerblichen Betriebsanlage hinsichtlich des Ausschlusses der Inanspruchnahme des Rechtes des Anlagenbetreibers nach § 78 Abs. 1 GewO 1994 antragslegitimiert sind.
18 Die Revisionswerber teilen diese Auffassung des Verwaltungsgerichtes, weil die Rechtsfrage der Antragslegitimation der Nachbarn nach § 78 Abs. 1 GewO 1994 bisher nicht gelöst worden sei.
19 Die Revision ist zulässig. Sie ist jedoch nicht berechtigt.
Rechtslage
20 § 78 Abs. 1 Gewerbeordnung 1994 (GewO 1994), BGBl. Nr. 194
in der Fassung BGBl. I Nr. 85/2013, lautet:
"§ 78. (1) Anlagen oder Teile von Anlagen dürfen vor
Eintritt der Rechtskraft des Genehmigungsbescheides errichtet und betrieben werden, wenn dessen Auflagen bei der Errichtung und beim Betrieb der Anlage eingehalten werden. Dieses Recht endet mit der Erlassung des Erkenntnisses über die Beschwerde gegen den Genehmigungsbescheid, spätestens jedoch drei Jahre nach der Zustellung des Genehmigungsbescheides an den Genehmigungswerber. Die zur Entscheidung berufene Behörde hat die Inanspruchnahme dieses Rechtes auszuschließen, wenn der Begründung der Beschwerde zu entnehmen ist, daß auf Grund der besonderen Situation des Einzelfalles trotz Einhaltung der Auflagen des angefochtenen Bescheides eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit zu erwarten ist."
Kein Antrag auf Ausschluss des Rechts nach § 78 Abs. 1 GewO 1994
21 § 78 Abs. 1 GewO 1994 wurde durch den Gesetzgeber "als Überbrückungshilfe für den Genehmigungswerber bei längerer Verfahrensdauer" geschaffen (so die Erläuterungen zu § 78 Abs. 1 GewO 1994 in der Fassung BGBl. I Nr. 63/1997 in RV 575 BlgNR 20. GP , 11).
22 Mit der Novelle BGBl. I Nr. 85/2013 wurde § 78 Abs. 1 GewO 1994 legistisch an die Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 angepasst und unter anderem auf die Bezeichnung des Rechtsmittels der Beschwerde umgestellt (vgl. die Erläuterungen in RV 2197 BlgNR 24. GP , 3).
23 § 78 Abs. 1 GewO 1994 trifft damit zum Schutze wirtschaftlicher Interessen des Genehmigungswerbers eine abweichende Regelung zu § 13 Abs. 1 VwGVG in dem Sinne, dass der Beschwerde gegen die Betriebsanlagengenehmigung grundsätzliche keine aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. Pöschl, System der Gewerbeordnung (2016), Rz. 570; vgl. zur Verdrängung des § 64 Abs. 1 AVG vor der Einführung der zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit das hg. Erkenntnis vom 14. November 2013, 2011/17/0132).
24 Im Unterschied zu § 13 Abs. 3 und § 22 Abs. 1 VwGVG sieht § 78 Abs. 1 GewO 1994 einen Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nicht vor.
25 Ein derartiges Fehlen eines ausdrücklich geregelten Antrages hatte der Verwaltungsgerichtshof im Zusammenhang mit § 18 Abs. 5 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) zu beurteilen. Nach dieser Bestimmung hat das Bundesverwaltungsgericht in bestimmten Fällen die - von der Behörde aberkannte - aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, jedoch ist kein entsprechendes Antragsrecht des Beschwerdeführers normiert. Im Beschluss vom 13. September 2016, Fr 2016/01/0014, hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass in diesem Fall ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und somit ein eigenes Provisorialverfahren betreffend eine Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gesetzlich nicht vorgesehen ist.
26 Diese Überlegungen können auf § 78 Abs. 1 GewO 1994 übertragen werden: Auch hier sieht der Wortlaut des Gesetzes einen Antrag und somit ein eigenes Provisorialverfahren nicht vor. Vielmehr hat die zur Entscheidung berufene Behörde die Inanspruchnahme des Rechtes des Genehmigungsinhabers nach § 78 Abs. 1 erster Satz GewO 1994 von Amts wegen auszuschließen, wenn der Begründung der Beschwerde zu entnehmen ist, dass die in § 78 Abs. 1 dritter Satz GewO 1994 enthaltenen Voraussetzungen gegeben sind.
27 Diese Auslegung deckt sich mit dem Willen des Gesetzgebers: In der Regierungsvorlage war in § 78 Abs. 1 GewO 1994 noch ein Antrag auf Zuerkennung von aufschiebender Wirkung enthalten. Begründet wurde dies wie folgt:
"Zur Vermeidung einer Gefährdung oder einer unzumutbaren Belästigung der Nachbarn soll auch diesen die Beantragung der aufschiebenden Wirkung zuerkannt werden" (vgl. RV 575 BlgNR XX. GP , 11).
Beschlossen wurde § 78 Abs. 1 GewO 1994 jedoch ohne dieses Antragsrecht, was im Bericht des Wirtschaftsausschusses wie folgt begründet wurde:
"Der Ausschuss geht davon aus, daß die Genehmigungsbehörde den hinreichenden Schutz der Nachbarn erforderlichenfalls durch die Vorschreibung entsprechender Auflagen gewährleistet" (vgl. AB 761 BlgNR XX. GP , 9).
Somit wurde vom Gesetzgeber kein Antrag der Nachbarn vorgesehen. 28 Letztlich kann in diesem Sinne auch der Wortfolge "wenn
der Begründung der Beschwerde zu entnehmen ist" in § 78 Abs. 1 dritter Satz GewO 1994 entnommen werden, dass Beurteilungsgrundlage die Begründung der Beschwerde und nicht ein eigener Antrag ist.
29 Sieht das Gesetz solcherart eine Entscheidung von Amts wegen vor, kann ein Antrag der beschwerdeführenden Nachbarn nicht anders als eine bloße Anregung verstanden werden (vgl. in diesem Sinne den hg. Beschluss vom 24. Mai 2016, Ra 2016/07/0038).
30 Den Nachbarn einer gewerblichen Betriebsanlage ist es somit möglich - wie in § 78 Abs. 1 dritter Satz GewO 1994 ausdrücklich angeführt - in der Begründung der Beschwerde vorzubringen, dass auf Grund der besonderen Situation des Einzelfalles trotz Einhaltung der Auflagen des angefochtenen Bescheides eine Gefährdung ihres Lebens oder ihrer Gesundheit zu erwarten ist.
31 In diesem Sinn wird den Nachbarn die Möglichkeit einer aufschiebenden Wirkung durch § 78 Abs. 1 GewO 1994 nicht schlechthin vorenthalten und werden sie auch nicht einseitig mit den Folgen der potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung über die Genehmigung belastet (vgl. das zu § 78 Abs. 1 GewO 1994 in der Fassung BGBl. I Nr. 63/1997, ergangene Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. März 2002, G 319/01, VfSlg. 16.460, mit dem die eine Ausnahme zugunsten des Arbeitsinspektorates bewirkenden Wortfolgen dieser Bestimmung aufgehoben wurde).
32 Ein darüber hinausgehendes Antragsrecht bzw. subjektivöffentliches Recht auf Ausschluss der Inanspruchnahme dieses Rechtes ist § 78 Abs. 1 GewO 1994 nicht zu entnehmen.
33 Aus diesem Grund hat das Verwaltungsgericht als vorliegend gemäß § 78 Abs. 1 GewO 1994 "zur Entscheidung berufene Behörde" die Anträge der Revisionswerber zu Recht zurückgewiesen (vgl. zur Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes nach § 78 Abs. 1 GewO 1994 Pöschl, aaO, Rz. 570, und Ennöckl/Raschauer/Wessely, Kommentar zur Gewerbeordnung 1994 (2015), Rz. 14 zu § 78 GewO 1994; der Auffassung von Gruber/Paliege-Barfuß, Die Gewerbeordnung7, 13. Erg.-Lfg. (2016), Anm. 7 zu § 78 GewO 1994, wonach alleine die Gewerbebehörde zuständig ist, ist entgegen zu halten, dass § 78 Abs. 1 GewO 1994 mit der Novelle BGBl. I Nr. 85/2013 lediglich legistisch an die Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 angepasst werden sollte und zuvor die Berufungsbehörde (der Unabhängige Verwaltungssenat) - an deren Stelle das Landesverwaltungsgericht getreten ist - zuständig war: vgl. Grabler/Stolzlechner/Wendl, Kommentar zur GewO3 (2011), Rz. 6 zu § 78).
Ergebnis
34 Die Revision war aus diesen Erwägungen gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Aufwandersatz
35 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. August 2017
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