VwGH Ra 2017/01/0052

VwGHRa 2017/01/005220.6.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching und Mag. Brandl sowie die Hofrätin Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des M M in W, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25. August 2016, Zl. I406 2106207- 1/4E, betreffend Säumnisbeschwerde in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §22 Abs1 idF 2016/I/024;
AVG §73 Abs1;
AVG §73 Abs2;
B-VG Art130 Abs1 Z3 idF 2012/I/051;
B-VG Art130 Abs1 Z3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §16 Abs1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist tunesischer Staatsangehöriger und stellte am 7. November 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2 Mit Schreiben vom 11. Dezember 2014, laut vorgelegtem Verwaltungsakt am selben Tag beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) per Fax eingebracht, erhob der Revisionswerber Säumnisbeschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG.

3 Mit Schreiben vom 13. April 2015, beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eingelangt am 16. April 2015, übermittelte das BFA die Säumnisbeschwerde samt Verwaltungsakt zur Entscheidung an das BVwG.

4 Mit dem angefochtenen Beschluss vom 25. August 2016 wies das BVwG die Säumnisbeschwerde als unzulässig zurück (Spruchpunkt A) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

5 Begründend führte es zusammengefasst aus, die Säumnisbeschwerde vom 11. Dezember 2014 sei im Zeitpunkt ihrer Erhebung "wegen des Ablaufes der Wartefrist des § 8 Abs. 1 VwGVG zulässig" gewesen. Am 1. Juni 2016 sei jedoch § 22 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016 in Kraft getreten, dem zufolge über den Antrag auf internationalen Schutz abweichend von § 73 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG) längstens binnen 15 Monaten zu entscheiden sei. Das BVwG habe im Allgemeinen das im Zeitpunkt seiner Entscheidung geltende Recht anzuwenden; eine "stichtagsbzw. zeitraumbezogene Entscheidung" sei im gegenständlichen Fall nicht zu treffen gewesen. Erweise sich daher die vorliegende Säumnisbeschwerde "ex post betrachtet" als verfrüht erhoben, habe dies ihre Unzulässigkeit zur Folge, auch wenn sie im Zeitpunkt ihrer Erhebung zunächst noch zulässig gewesen sei. Für dieses Ergebnis spreche, dass die Verwaltungsbehörde bis zur Erhebung der Säumnisbeschwerde nicht die volle 15-Monats-Frist zur Verfügung gehabt habe, was der "erklärten Absicht des Gesetzgebers" nicht entspreche. Die Säumnisbeschwerde sei daher als unzulässig zurückzuweisen gewesen.

6 Die gegen diesen Beschluss erhobene Revision macht in ihrer Zulässigkeitsbegründung zum Vorliegen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung ua. geltend, das BVwG sei durch die Anwendung einer nachträglich geänderten Rechtslage auf die Prüfung der Zulässigkeit der Säumnisbeschwerde maßgeblich von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach die Zulässigkeit eines Devolutionsantrages ausschließlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt dessen Einbringung zu beurteilen sei. Durch die zulässige Erhebung der Säumnisbeschwerde aufgrund des Ablaufes der Entscheidungsfrist von 6 Monaten sowie dem Verstreichen weiterer 3 Monate nach § 16 Abs. 1 VwGVG sei die Pflicht zur Entscheidung auf das BVwG übergegangen; dieses sei verpflichtet gewesen, über den Antrag des Revisionswerbers inhaltlich abzusprechen.

 

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

8 Eingangs ist festzuhalten, dass Verfahrensgegenstand das vorliegende Säumnisbeschwerdeverfahren ist. Im gegenständlichen Revisionsfall ist zu prüfen, ob die Zurückweisung der Säumnisbeschwerde durch das BVwG als unzulässig zu Recht erfolgte. Eine inhaltliche Prüfung des durch den Revisionswerber gestellten Antrages auf internationalen Schutz ist nicht Prozessgegenstand.

9 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt. 10 Zur maßgeblichen Rechtslage:

11 Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG lautet:

"(1) Die Verwaltungsgerichte erkennen über Beschwerden

(...)

3. wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch eine

Verwaltungsbehörde

(...)"

12 § 73 AVG lautet:

"Entscheidungspflicht

§ 73. (1) Die Behörden sind verpflichtet, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, über Anträge von Parteien (§ 8) und Berufungen ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen. Sofern sich in verbundenen Verfahren (§ 39 Abs. 2a) aus den anzuwendenden Rechtsvorschriften unterschiedliche Entscheidungsfristen ergeben, ist die zuletzt ablaufende maßgeblich.

(2) Wird ein Bescheid, gegen den Berufung erhoben werden kann, nicht innerhalb der Entscheidungsfrist erlassen, so geht auf schriftlichen Antrag der Partei die Zuständigkeit zur Entscheidung auf die Berufungsbehörde über (Devolutionsantrag). Der Devolutionsantrag ist bei der Berufungsbehörde einzubringen. Er ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.

(...)"

13 § 22 Abs. 1 AsylG 2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016

(in Kraft getreten am 1. Juni 2016) lautet:

"§ 22 (1) Abweichend von § 73 Abs. 1 AVG ist über einen Antrag auf internationalen Schutz längstens binnen 15 Monaten zu entscheiden.

(...)"

14 § 8 Abs. 1 und § 16 VwGVG lauten:

"Frist zur Erhebung der Säumnisbeschwerde

§ 8. (1) Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) kann erst erhoben werden, wenn die Behörde die Sache nicht innerhalb von sechs Monaten, wenn gesetzlich eine kürzere oder längere Entscheidungsfrist vorgesehen ist, innerhalb dieser entschieden hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Sachentscheidung bei der Stelle eingelangt ist, bei der er einzubringen war. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.

(...)

Nachholung des Bescheides

§ 16. (1) Im Verfahren über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG kann die Behörde innerhalb einer Frist von bis zu drei Monaten den Bescheid erlassen. Wird der Bescheid erlassen oder wurde er vor Einleitung des Verfahrens erlassen, ist das Verfahren einzustellen.

(2) Holt die Behörde den Bescheid nicht nach, hat sie dem Verwaltungsgericht die Beschwerde unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens vorzulegen."

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Rechtslage nach Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 im Zusammenhang mit der Frage des Zuständigkeitsüberganges von der Behörde auf das Verwaltungsgericht nach Erhebung einer Säumnisbeschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG bereits Folgendes ausgesprochen:

16 Die Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) dient - neben dem in § 73 Abs. 2 AVG in jenen Fällen, in denen auch nach Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Rechtsstufe (noch ausnahmsweise) Berufung erhoben werden kann, vorgesehenen Devolutionsantrag - dem Rechtsschutz wegen Säumnis der Behörden. Zweck dieses Rechtsbehelfes ist es, demjenigen, der durch die Untätigkeit einer Behörde beschwert ist, ein rechtliches Instrument zur Verfügung zu stellen, um eine Entscheidung in seiner Sache zu erlangen. Anders als in § 73 Abs. 2 AVG hat der Gesetzgeber, um diesen Zweck zu erreichen, im VwGVG nicht festgelegt, dass schon mit der Antragstellung die Zuständigkeit, die fragliche Sache zu erledigen, auf das angerufene Verwaltungsgericht übergeht. Vielmehr räumt § 16 Abs. 1 VwGVG der Verwaltungsbehörde von Gesetzes wegen die Möglichkeit ein, innerhalb einer Frist von drei Monaten den Bescheid zu erlassen, ohne dass es erforderlich wäre, dass ihr dafür vom Verwaltungsgericht ausdrücklich eine Frist eingeräumt werden müsste. Wird der Bescheid erlassen oder wurde er vor Einleitung des Verfahrens erlassen, ist das Verfahren über die Säumnisbeschwerde gemäß § 16 Abs. 1 zweiter Satz VwGVG einzustellen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Mai 2015, Ra 2015/19/0075, mwN).

17 Nach ungenütztem Ablauf dieser Dreimonatsfrist geht die Zuständigkeit jedoch auf das Verwaltungsgericht über. Nach Vorlage der Beschwerde hat das Verwaltungsgericht zu prüfen, ob die Behörde tatsächlich säumig ist. Ist die Behörde zwar objektiv gesehen säumig, ist dies aber nicht auf ihr überwiegendes Verschulden zurückzuführen, hat das Verwaltungsgericht die Beschwerde abzuweisen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 25. November 2015, Ra 2015/08/0102, mwN).

18 Für den vorliegenden Fall bedeutet dies Folgendes:

19 Das BFA hat die am 11. Dezember 2014 durch den Revisionswerber erhobene Säumnisbeschwerde mit Schreiben vom 13. April 2015, eingelangt am 16. April 2015, zur Entscheidung an das BVwG übermittelt. Zu diesem Zeitpunkt war die in § 16 Abs. 1 VwGVG für die Verwaltungsbehörde normierte Frist von 3 Monaten zur Nachholung des Bescheides bereits verstrichen, sodass die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Säumnisbeschwerde zum Zeitpunkt deren Vorlage an das BVwG bereits auf dieses übergegangen war; eine Zuständigkeit des BFA zur Entscheidung über die Säumnisbeschwerde bestand damit nicht mehr.

20 Wenn das BVwG nunmehr die Zurückweisung der Säumnisbeschwerde als unzulässig in dem - mehr als 16 Monate nach deren Vorlage an das Verwaltungsgericht erlassenen - angefochtenen Beschluss vom 25. August 2016 mit der (erst) am 1. Juni 2016 in Kraft getretenen Regelung des § 22 Abs. 1 AsylG 2005 begründet (welche abweichend von der zuvor allgemein geltenden 6-Monats-Frist des § 73 Abs. 1 AVG eine Entscheidungsfrist der Asylbehörde über einen Antrag auf internationalen Schutz von 15 Monaten vorsieht) übersieht es, dass der Gesetzgeber eine rückwirkende Anwendbarkeit des § 22 Abs. 1 AsylG 2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016 nicht vorgesehen hat, weshalb die damit eingeführte Fünfzehnmonatsfrist nicht auf bereits vor dem 1. Juni 2016 eingebrachte Säumnisbeschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG anwendbar ist (vgl. hiezu auch das hg. Erkenntnis vom 14. September 2016, Ra 2016/18/0127, Rz 9).

21 Die vom BVwG zur Begründung des angefochtenen Beschlusses ins Treffen geführte hg. Entscheidung vom 28. Jänner 2003, 2002/14/0141, ist insofern nicht einschlägig, als im vorliegenden Fall, anders als beim dortigen Sachverhalt, das BFA nicht durch eine Rechtslagenänderung seiner funktionellen Zuständigkeit enthoben und stattdessen eine andere Verwaltungsbehörde zur Entscheidung zuständig gemacht wurde, sodass die einmal bestandene Entscheidungspflicht der Behörde durch eine geänderte Zuständigkeitsbestimmung weggefallen wäre, sondern sich durch § 22 Abs. 1 AsylG 2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016 - wie ausgeführt ohne Rückwirkung ab 1. Juni 2016 - lediglich die Entscheidungsfrist derselben zuständigen Verwaltungsbehörde von 6 Monaten auf 15 Monate verlängert hat.

22 Indem nach der unbestrittenen Feststellung des BVwG im angefochtenen Beschluss die vorliegende Säumnisbeschwerde zum Zeitpunkt ihrer Erhebung infolge des Ablaufes der damals geltenden Entscheidungsfrist von 6 Monaten zulässig und nach Ablauf der 3- monatigen Nachholfrist des § 16 Abs. 1 VwGVG die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Säumnisbeschwerde von der Verwaltungsbehörde auf das Verwaltungsgericht übergegangen war, hätte das Verwaltungsgericht daher zu prüfen gehabt, ob die durch die Verwaltungsbehörde bewirkte Verzögerung auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen war, und hätte in der Folge eine inhaltliche Entscheidung über die Säumnisbeschwerde zu treffen gehabt.

23 Die mit dem angefochtenen Beschluss erfolgte Zurückweisung der Säumnisbeschwerde als unzulässig erweist sich damit als rechtswidrig. Der Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

24 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 in der Fassung BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am 20. Juni 2017

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte