Normen
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art68 Abs1 lita;
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art68 Abs1 litb;
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art68 Abs2;
32009R0987 Koordinierung Soziale Sicherheit DV Art59;
VwGG §42 Abs2 Z1;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 15. April 2014 wies das Finanzamt den Antrag des slowakischen Mitbeteiligten auf Gewährung einer Differenzzahlung für seine drei in der Slowakei wohnhaften Kinder für den Monat Jänner 2014 ab. Der Mitbeteiligte sei laut Auskunft der Österreichischen Sozialversicherung erst ab Februar 2014 in Österreich beschäftigt gewesen.
2 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Mitbeteiligte vor, seine slowakische Ehefrau habe ihre Beschäftigung in Österreich bereits am 30. Jänner 2014 aufgenommen. In der Slowakei habe sie für den Zeitraum 1. Jänner 2014 bis 31. Jänner 2014 für die drei Kinder eine Familienleistung iHv 70,56 EUR erhalten. Daher stehe ihm für den Monat Jänner 2014 ein Anspruch auf "Ausgleichszahlung" zu.
3 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 14. Mai 2014 wies das Finanzamt die Beschwerde des Mitbeteiligten ab. Nach Art. 59 der VO Nr. 987/2009 bleibe für den Fall, dass sich während eines Kalendermonats die Zuständigkeit für die Auszahlung von Familienleistungen ändere, derjenige Mitgliedstaat zuständig, der zu Beginn des Kalendermonats zuständig gewesen sei.
4 Der Mitbeteiligte beantragte die Vorlage der Beschwerde an das Bundesfinanzgericht.
5 Im Rahmen der Beantwortung eines Vorhalts des Bundesfinanzgerichts gab der Mitbeteiligte bekannt, dass er vom 7. Dezember 2013 bis zum 2. Februar 2014 in der Slowakei als arbeitslos gemeldet gewesen sei.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 27. Juli 2015 gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge. Diesem stehe ein, von seiner Ehefrau abgeleiteter, Anspruch auf Differenzzahlung für den Monat Jänner 2014 zu. Die Ehefrau des Mitbeteiligten sei vor ihrer Beschäftigung in Österreich in der Slowakei Studentin und nicht erwerbstätig gewesen. Die Slowakei habe ihr für den gesamten Monat Jänner 2014 eine Familienleistung ausbezahlt. Da nach § 53 FLAG EU-Bürger gleich wie österreichische Staatsbürger zu behandeln seien, sei die Ehefrau auch nach innerstaatlichem Recht für den gesamten Monat Jänner 2014 anspruchsberechtigt. Es liege somit kein Fall der Änderung der Zuständigkeit nach Art. 59 der VO Nr. 987/2009 vor, sondern ein Fall der Konkurrenz. Würden Leistungen in verschiedenen Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen gewährt, stünden an erster Stelle die durch eine Beschäftigung ausgelösten Ansprüche. Ziel der unionsrechtlichen Regelungen sei es, immer dem höchsten Anspruch zum Durchbruch zu verhelfen. Da die österreichische Familienbeihilfe über jener der Slowakei liege, sei Österreich zur Leistung einer Differenzzahlung für den Monat Jänner 2014 verpflichtet.
7 Die Revision erklärte das Bundesfinanzgericht für nicht zulässig, weil es sich nicht um eine Rechtsfrage handle, die einer Klärung durch den Verwaltungsgerichtshof bedürfe.
8 Gegen dieses Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts richtet sich die Amtsrevision des Finanzamts, in der zur Zulässigkeit vorgebracht wird, strittig sei die Anwendung des Art. 59 der VO Nr. 987/2009 . Entgegen der Ansicht des Bundesfinanzgerichts liege kein Fall der Konkurrenz vor, sondern eine Änderung der Zuständigkeit nach Art. 59 der VO Nr. 987/2009 , sodass kein Anspruch auf Differenzzahlung bestehe.
9 Der (unvertretene) Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig und begründet.
11 Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU Nr. L 166 vom 30. April 2004 in der durch ABl.EU Nr. L 200 vom 7. Juni 2004 berichtigten Fassung (im Folgenden: VO Nr. 883/2004 ), lautet:
"Artikel 68
Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen
(1) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:
a) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus
unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge:
an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.
b) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus
denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach
den folgenden subsidiären Kriterien:
i) bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine
selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der
Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit
ausgeübt wird, und subsidiär gegebenenfalls die nach den
widerstreitenden Rechtsvorschriften zu gewährende höchste
Leistung. Im letztgenannten Fall werden die Kosten für die
Leistungen nach in der Durchführungsverordnung festgelegten
Kriterien aufgeteilt;
ii) (...);
iii) bei Ansprüchen, die durch den Wohnort ausgelöst
werden: der Wohnort der Kinder.
(2) Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird.
(3) (...)"
12 Art. 59 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU Nr. L 284 vom 30. Oktober 2009 (im Folgenden: VO Nr. 987/2009 ), lautet:
"Artikel 59
Regelungen für den Fall, in dem sich die anzuwendenden Rechtsvorschriften und/oder die Zuständigkeit für die Gewährung von Familienleistungen ändern
(1) Ändern sich zwischen den Mitgliedstaaten während eines Kalendermonats die Rechtsvorschriften und/oder die Zuständigkeit für die Gewährung von Familienleistungen, so setzt der Träger, der die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gezahlt hat, nach denen die Leistungen zu Beginn dieses Monats gewährt wurden, unabhängig von den in den Rechtsvorschriften dieser Mitgliedstaaten für die Gewährung von Familienleistungen vorgesehenen Zahlungsfristen die Zahlungen bis zum Ende des laufenden Monats fort.
(2) Er unterrichtet den Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder die anderen betroffenen Mitgliedstaaten von dem Zeitpunkt, zu dem er die Zahlung dieser Familienleistungen einstellt. Ab diesem Zeitpunkt übernehmen der andere betroffene Mitgliedstaat oder die anderen betroffenen Mitgliedstaaten die Zahlung der Leistungen."
13 In der Amtsrevision wird nicht bestritten, dass dem Mitbeteiligten grundsätzlich ein, von seiner Ehefrau abgeleiteter, Anspruch auf Familienbeihilfe zustehen könnte. Strittig ist nur, ob dem Mitbeteiligten aufgrund der Beschäftigung seiner Ehefrau in Österreich ab dem 30. Jänner 2014 bereits für den Monat Jänner 2014 ein Anspruch auf Familienbeihilfe in Österreich in Form einer Differenzzahlung zusteht.
14 Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob durch die Aufnahme der Beschäftigung mit 30. Jänner 2014 durch die Ehefrau des Mitbeteiligten ein Zuständigkeitswechsel zwischen der Slowakei und Österreich hinsichtlich der Gewährung von Familienleistungen stattgefunden hat. In einem solchen Fall wäre nach Art. 59 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 die Slowakei verpflichtet, die Familienleistungen bis zum Ende des Monats fortzusetzen. Österreich wäre nach Art. 59 Abs. 2 der VO Nr. 987/2009 erst ab dem Zeitpunkt der Einstellung der Familienleistungen durch die Slowakei zur Erbringung dieser Leistungen verpflichtet.
15 Eine Änderung der Zuständigkeit im Sinne des Art. 59 der VO Nr. 987/2009 wäre im konkreten Fall gegeben, wenn durch die Aufnahme der Berufstätigkeit der Ehegattin mit 30. Jänner 2014 Österreich nach den Prioritätsregeln des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 primär für die Gewährung der Familienleistungen zuständig werden würde.
16 Nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 gehen die durch eine Beschäftigung ausgelösten Ansprüche den durch den Wohnort ausgelösten Ansprüchen vor. Werden Leistungen in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten aufgrund der Beschäftigung gewährt, haben nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b der VO Nr. 883/2004 die Ansprüche gegen den Mitgliedstaat Vorrang, an dem sich auch der Wohnort der Kinder befindet.
17 Nach den Feststellungen des Bundesfinanzgerichts waren die Kinder des Mitbeteiligten im Monat Jänner 2014 in der Slowakei wohnhaft. Die Ehefrau des Mitbeteiligten war vor der Aufnahme ihrer Beschäftigung in Österreich Studentin und nicht erwerbstätig. Beruht der Anspruch der Ehefrau des Mitbeteiligten für den Monat Jänner 2014 in der Slowakei darauf, dass sie und ihre Kinder ihren Wohnsitz in der Slowakei hatten, liegt mit der Aufnahme der Beschäftigung in Österreich mit 30. Jänner 2014 ein Zuständigkeitswechsel vor. Ab diesem Zeitpunkt wäre primär Österreich für die Familienleistungen zuständig. Hier würde die spezielle Regelung des Art. 59 der VO Nr. 987/2009 greifen, sodass erst ab Februar 2014 ein Anspruch auf Familienbeihilfe in Österreich bestehen könnte.
18 Etwas anderes würde jedoch gelten, wenn der Mitbeteiligte aufgrund seiner Arbeitslosigkeit im Monat Jänner 2014 in der Slowakei Arbeitslosengeld bezogen hätte. In diesem Fall wäre die Arbeitslosigkeit einer Beschäftigung gleichzuhalten (vgl. den Beschluss Nr. F1 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 12. Juni 2009 zur Auslegung des Artikels 68 der VO Nr. Nr. 883/2004, 2010/C 106/04, ABl.EU C 106/11 , vom 24. April 2010). Da nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b der VO Nr. 883/2004 bei einer Beschäftigung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten primär der Mitgliedstaat für die Gewährung der Familienleistungen zuständig ist, in dem die Kinder wohnhaft sind, wäre durch die Aufnahme einer Beschäftigung der Ehefrau des Mitbeteiligten mit 30. Jänner 2014 noch keine Änderung der Zuständigkeit im Sinne des Art. 59 der VO Nr. 987/2009 erfolgt. Vielmehr wäre im Monat Jänner 2014 weiterhin die Slowakei primär für die Gewährung der Familienleistungen zuständig gewesen. Jedoch bestünde durch die Aufnahme der Beschäftigung durch die Ehefrau des Mitbeteiligten nach Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 für den Monat Jänner 2014 auch in Österreich ein Anspruch auf Familienbeihilfe im Umfang der Differenzzahlung.
19 Da das Bundesfinanzgericht dies verkannt und keine Feststellungen zum Bezug von Arbeitslosengeld durch den Mitbeteiligten für den Monat Jänner 2014 getroffen hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 12. September 2017
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)