VwGH 2010/10/0053

VwGH2010/10/005328.2.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Mizner und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Beschwerde des M P in Innsbruck, vertreten durch Mag. Annamaria Rudel, Rechtsanwältin in 6020 Innsbruck, Maximilianstraße 2/3, gegen den Bescheid der Tiroler Landesregierung vom 19. Oktober 2009, Zl. Va-456- 41295/1/1, betreffend Grundsicherung, zu Recht erkannt:

Normen

GrundsicherungG Tir 2006 §1 Abs2;
GrundsicherungG Tir 2006 §2 Abs1;
GrundsicherungG Tir 2006 §2 Abs2;
GrundsicherungV Tir 2006 §8 Abs1 litf;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Tirol hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde wurde dem Beschwerdeführer in Bestätigung der erstinstanzlichen Entscheidung für den Zeitraum vom 16. Juli 2009 bis 7. August 2009 eine einmalige Unterstützung für Hilfe zum Lebensunterhalt in der Höhe von EUR 288,25 gewährt. Begründend führte die belangte Behörde nach Darstellung des Verfahrensganges und der angewendeten Rechtsvorschriften aus, der Beschwerdeführer sei am 14. Juli 2009 aus der Haft entlassen worden und habe dabei ein "Haftentlassungsgeld" in Höhe von EUR 272,97 erhalten. Am 16. Juli 2009 habe er bei der erstinstanzlichen Behörde einen Antrag auf Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes bis zum 7. August 2009 (voraussichtlicher Bezug des Arbeitslosengeldes) gestellt. Aufgrund des Antrages des Beschwerdeführers umfasse der sich ergebende Leistungszeitraum 22 Tage. Demnach ergebe sich auf Basis des Richtsatzes für Alleinstehende in der Höhe von EUR 459,90 abzüglich EUR 52,97 (Haftentlassungsgeld abzüglich des Freibetrages gemäß § 8 Abs. 1 lit. f TGSV in der Höhe von EUR 220,-

-) aliquotiert auf 22 Tage der im erstinstanzlichen Bescheid zuerkannte Betrag von EUR 288,25.

In seiner Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid habe der Beschwerdeführer Anspruch auf Unterstützung für Hilfe zum Lebensunterhalt in der Höhe von EUR 308,95 geltend gemacht, weil er Grundsicherung seit dem 14. Juli 2009, also für einen Zeitraum von 24 Tagen beantragt habe. Das "Haftentlassenengeld" habe er in den ersten Tagen nach seiner Entlassung verwendet, der darauf angerechnete Freibetrag sei nicht dazu da, den Lebensunterhalt bis zur Beantragung von Grundsicherung zu sichern.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde - unter Hinweis auf die hg. Judikatur - aus, bei der Grundsicherung handle es sich um eine antragsgebundene Leistung, weswegen grundsätzlich Leistungen nicht rückwirkend gewährt werden könnten. Bei der Hilfegewährung nach dem Tiroler Grundsicherungsgesetz sei situationsbezogen auf die aktuelle Notlage abzustellen; die Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit scheide aus, es sei denn, dass Umstände der Vergangenheit eine aktuelle oder unmittelbar drohende Notlage bedingten.

Das "Haftentlassungsgeld" diene gemäß § 54 Abs. 2 und 5 StVG grundsätzlich auch der Vorsorge für den Unterhalt in der ersten Zeit nach der Entlassung. Der Beschwerdeführer habe seinen eigenen Angaben zufolge die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel in den ersten Tagen nach der Haftentlassung verwendet, wobei zwischen der Haftentlassung und der Antragstellung lediglich zwei Tage gelegen seien. Die Deckung des Lebensunterhaltes für diesen Zeitraum könne somit jedenfalls als gegeben angesehen werden und bedingten diese Umstände der Vergangenheit keine aktuelle oder unmittelbar drohende Notlage.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die maßgeblichen Bestimmungen des Tiroler Grundsicherungsgesetzes, LGBl. Nr. 20/2006 idF. LGBl. Nr. 71/2008 (TGSG), lauteten:

"§ 1

Allgemeines

(1) Die Grundsicherung ist die öffentliche Hilfe zur Führung eines menschenwürdigen Lebens.

(2) Die Grundsicherung ist nach diesem Gesetz Personen zu gewähren, die sich in einer Notlage befinden.

(3) In einer Notlage im Sinn dieses Gesetzes befindet sich, wer

a) den Lebensunterhalt für sich nicht oder nicht in ausreichendem Ausmaß aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann und ihn auch nicht von Dritten erhält oder

b) außergewöhnliche Schwierigkeiten in seinen persönlichen, familiären oder sozialen Verhältnissen - im Folgenden besondere Lebenslage genannt - nicht oder nicht in ausreichendem Ausmaß selbst oder mit Hilfe Dritter bewältigen kann.

(4) Bei der Beurteilung der Notlage im Sinn des Abs. 3 sind Hilfeleistungen, die nach anderen landesrechtlichen oder bundesrechtlichen Vorschriften in Anspruch genommen werden können, zu berücksichtigen.

§ 2

Grundsätze für die Gewährung der Grundsicherung

(1) Die Grundsicherung ist auf Antrag oder, wenn den für die Gewährung der Grundsicherung zuständigen Organe Umstände bekannt werden, die eine Hilfeleistung erfordern, auch von Amts wegen zu gewähren.

(2) Die Grundsicherung ist auch bei drohender Notlage zu gewähren, wenn der Eintritt der Notlage dadurch abgewendet werden kann.

(5) Die Gewährung der Grundsicherung hat die Bereitschaft des Hilfesuchenden, nach seinen Möglichkeiten in angemessener und zumutbarer Weise zur Abwendung, Bewältigung oder Beseitigung der Notlage beizutragen, zur Voraussetzung. Als ein solcher Beitrag gelten insbesondere:

  1. a)
  2. b) der Einsatz der eigenen Mittel (§ 3 Abs. 4)

    § 3

    Formen und Ausmaß der Grundsicherung

(1) Die Grundsicherung wird in Form von Geldleistungen oder Sachleistungen gewährt.

(2) Das Ausmaß der Grundsicherung ist im Einzelfall unter Berücksichtigung eines zumutbaren Einsatzes der eigenen Kräfte und Mittel nach Maßgabe der Abs. 3 und 4 zu bestimmen.

(4) Vor der Gewährung der Grundsicherung hat der Hilfesuchende seine eigenen Mittel, zu denen sein gesamtes Einkommen und Vermögen gehören, einzusetzen. …

(6) Die Landesregierung hat durch Verordnung nähere Bestimmungen über Arten, Formen und Ausmaß der Grundsicherung zu erlassen. Hierbei sind unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten in Tirol für die Bemessung des Lebensunterhaltes Richtsätze festzusetzen. Weiters hat die Landesregierung durch Verordnung näher zu bestimmen, inwieweit das Einkommen und das Vermögen des Hilfesuchenden unter Bedachtnahme auf den Zweck der Grundsicherung sowie darauf, dass für den Hilfesuchenden und seine Familienangehörigen keine besondere Härte entsteht, für die Bemessung des Ausmaßes der Grundsicherung sowie für den Ersatz der für ihn aufgewendeten Kosten nicht zu berücksichtigen sind.

§ 5

Arten der Grundsicherung

Die Grundsicherung umfasst:

a) die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes, …"

Die maßgeblichen Bestimmungen der Tiroler

Grundsicherungsverordnung, LGBl. Nr. 28/2006 idF.

LGBl. Nr. 121/2009 (TGSV), lauteten:

"§ 1

Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes

Die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes umfasst Maßnahmen zur Deckung des Aufwandes für:

a) Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege, Instandhaltung der Bekleidung, Kleinhausrat, Reinigung, Bildung und Erholung in einem für den Hilfesuchenden angemessenen Ausmaß, Benützung von Verkehrsmitteln und sonstige kleinere Bedürfnisse des täglichen Lebens,

  1. b) Unterkunft …,
  2. c) Bekleidung.

    § 5

    Bemessung des Lebensunterhaltes

(1) Soweit die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form von Geldleistungen gegeben wird, sind unter Anrechnung der nach § 3 des Tiroler Grundsicherungsgesetzes einzusetzenden eigenen Kräfte und Mittel zu gewähren:

a) zur Deckung des Aufwandes im Sinn des § 1 lit. a monatliche Leistungen bis zu folgenden Höchstbeträgen (Richtsätze):

  1. 1. für Alleinstehende ….. 459,90 Euro
  2. 2. für Hauptunterstützte ….. 393,50 Euro
  3. 3. für Mitunterstützte ohne Anspruch auf Familienbeihilfe ….. 273,70 Euro

    4. für sonstige Mitunterstützte sowie für Bezieher der erhöhten Familienbeihilfe ….. 152,90 Euro.

    Alleinstehende sind Personen, die mit keinen unterhaltsberechtigten oder unterhaltsverpflichteten Angehörigen und mit keinem Lebensgefährten in Lebensgemeinschaft leben. …

    § 8

    Einsatz der eigenen Mittel

(1) Bei der Bestimmung des Ausmaßes der Grundsicherung im Sinn des § 3 Abs. 2 des Tiroler Grundsicherungsgesetzes sind, ungeachtet anderer landesrechtlicher Vorschriften, außer Ansatz zu lassen:

f) von einem Haftentlassenengeld im Sinn des § 54 Abs. 5 des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, zuletzt geändert durch das Gesetz BGBl. I. Nr. 136/2004, ein Betrag von 220,- Euro."

§ 54 des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, idF. BGBl. I Nr. 52/2009 (StVG), lautet (auszugsweise):

"§ 54. (1) Die Arbeitsvergütung ist dem Strafgefangenen monatlich im nachhinein nach Abzug des Vollzugskostenbeitrages (§ 32 Abs. 2 erster Fall und Abs. 3) sowie des auf ihn entfallenden Anteils am Arbeitslosenversicherungsbeitrag je zur Hälfte als Hausgeld und als Rücklage gutzuschreiben. …

(2) … Die Rücklage dient unbeschadet des § 54a der Vorsorge für den Unterhalt in der ersten Zeit nach der Entlassung.

(5) Bei der Entlassung sind dem Strafgefangenen als Hausgeld und als Rücklage gutgeschriebene Beträge auszuzahlen. …

…"

Die Beschwerde bringt ua. vor, der Freibetrag habe zur Abdeckung von Bedürfnissen des Beschwerdeführers gedient, die über den normalen Bedarf hinaus gegangen seien.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde im Ergebnis zum Erfolg:

Zunächst ist festzuhalten, dass bei der Hilfegewährung nach dem TGSG - ausgehend von dessen § 1 Abs. 2 iVm § 2 Abs. 1 und 2 - grundsätzlich situationsbezogen auf eine aktuelle bzw. drohende Notlage abzustellen ist, weshalb die Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit, insbesondere für Aufwendungen zur Bestreitung des eigenen Unterhalts, von vornherein ausscheidet (vgl. Pfeil, Österreichisches Sozialhilferecht, S. 401 und die dort referierte hg. Rechtsprechung). Schon deshalb kommt im Beschwerdefall die rückwirkende Gewährung von Grundsicherung nicht in Betracht.

Der Beschwerdeführer hat jedoch bereits im Verwaltungsverfahren vorgebracht, den den Freibetrag gemäß § 8 Abs. 1 lit. f TGSV übersteigenden Teil des Haftentlassenengeldes in der Höhe von EUR 52,97 in den beiden Tagen vor der Antragstellung verbraucht zu haben. Dieses Vorbringen ist dahin gehend zu verstehen, dass sich der Beschwerdeführer jedenfalls auch gegen die Berücksichtigung dieses Betrages bei der Bemessung der Grundsicherung gewendet hat.

Ohne auf dieses Vorbringen näher einzugehen, ist die belangte Behörde davon ausgegangen, dass dem Beschwerdeführer in dem für die Beurteilung einer aktuellen Notlage maßgeblichen Zeitpunkt (der Antragstellung) noch das gesamte Haftentlassenengeld zur Verfügung stand.

Indem sich die belangte Behörde mit dem genannten Vorbringen nicht auseinandergesetzt hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit einem relevanten Verfahrensmangel behaftet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II. Nr. 455.

Wien, am 28. Februar 2013

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