VwGH 2010/21/0219

VwGH2010/21/021929.2.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerden 1. des N, und 2. des M, beide vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10, gegen die Bescheide der Bundesministerin für Inneres je vom 7. Mai 2010, 1.) Zl. 314.955/5- III/4/09 (hg. Zl. 2010/21/0219) und 2.) Zl. 314.955/4-III/4/09 (hg. Zl. 2010/21/0220), jeweils betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2;
NAG 2005 §21 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2;
NAG 2005 §21 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer, serbischer Staatsangehöriger, auf Erteilung von "Niederlassungsbewilligungen - beschränkt" gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Begründend führte die belangte Behörde in beiden Bescheiden im Wesentlichen gleichlautend aus, dass die Beschwerdeführer beabsichtigten, Aufenthaltstitel von ihrem Vater abzuleiten, der durch eine österreichische Staatsbürgerin adoptiert worden sei und über einen Aufenthaltstitel "Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt" verfüge. Die Beschwerdeführer seien im Sommer 2004 mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder illegal nach Österreich eingereist, um den Vater bzw. Ehemann zu besuchen, und bisher nicht wieder ausgereist.

Am 3. September 2004 hätten die Beschwerdeführer erstmalig je einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt. Die Anträge seien aus formellen Gründen im Instanzenzug zurückgewiesen worden; eine dagegen erhobene Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof sei erfolglos geblieben.

Mit Schreiben der Fremdenpolizeibehörde vom 19. September 2006 sei der gesetzliche Vertreter der Beschwerdeführer auf deren illegalen Aufenthalt hingewiesen und aufgefordert worden, binnen zwei Wochen die Ausreise zu veranlassen. Dieser Aufforderung sei offensichtlich nicht nachgekommen worden.

Die Mutter der Beschwerdeführer sowie deren älterer Bruder seien aufgrund ihrer noch nicht abgeschlossenen Asylverfahren derzeit zum Aufenthalt in Österreich berechtigt. Sollte das Asylverfahrens der Mutter rechtskräftig negativ beschieden und eine Ausweisung rechtskräftig ausgesprochen werden, werde eine gemeinsame Ausweisung und Abschiebung der Beschwerdeführer und ihrer Mutter in Erwägung gezogen. Dies sei einer Stellungnahme der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 5. Jänner 2009 zu entnehmen.

Gemäß § 21 Abs. 1 NAG hätten die Beschwerdeführer die gegenständlichen Anträge bei der örtlich für sie zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einbringen und die Entscheidung darüber im Ausland abwarten müssen, da sie keine der für die Inlandsantragstellung genannten Voraussetzungen des § 21 Abs. 2 NAG erfüllten. Die Beschwerdeführer hätten sich zweifelsfrei zum Zeitpunkt der Antragstellung sowie zum Zeitpunkt der Entscheidung darüber nicht rechtmäßig im Inland aufgehalten, weshalb § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung der gegenständlichen Anträge entgegenstehe. Durch das Verhalten des bereits über einen längeren Zeitraum andauernden illegalen Aufenthaltes zeigten die Beschwerdeführer, dass sie nicht gewillt seien, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten, was eine negative Beispielswirkung für andere Fremde darstelle. Angesichts der Heranziehung des § 21 NAG erübrige sich aber ein weiteres Eingehen auf diesen Umstand im Hinblick auf den Versagungsgrund des § 11 Abs. 2 Z 1 NAG.

Am 24. Juni 2009 hätten die Beschwerdeführer Anträge gemäß § 21 Abs. 3 NAG auf Zulassung der Inlandsantragstellung eingebracht. Zur Begründung hätten sie auf das laufende Schuljahr und darauf verwiesen, dass es ihnen nicht zugemutet werden könne, in ihr Heimatland zurückzukehren. Eine Trennung der Familie würde in das Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK eingreifen.

Dazu führte die belangte Behörde aus, dass zwar durch den Aufenthalt des Vaters der Beschwerdeführer, der über einen gültigen Aufenthaltstitel für das österreichische Bundesgebiet verfüge, und den Aufenthalt der Mutter sowie der drei Kinder, die "nur zum Teil in Österreich geduldet" seien, unbestritten private und auch familiäre Interessen bestünden. Jedoch habe es den Anschein, als ob die gesamte Familie versucht hätte, die fremdenpolizeilichen Bestimmungen zu umgehen. Zu dieser Annahme komme es bereits bei der Erlangung des Aufenthaltsrechts des Vaters der Beschwerdeführer, da es äußerst merkwürdig erscheine, dass sich ein erwachsener Mann aus Serbien im Alter von 38 Jahren, der bereits verheiratet sei und Kinder habe, von einer Österreicherin adoptieren lasse. Nach erfolgter Adoption und erlangter Aufenthaltsbewilligung seien "plötzlich" die Beschwerdeführer, ihre Mutter und ihr Bruder dem Vater nach Österreich gefolgt. Da die Einreise und der bisherige Aufenthalt der Beschwerdeführer illegal gewesen seien, sei das öffentliche Interesse an der Einhaltung der für die Einreise und den Aufenthalt von Fremden getroffenen Regelungen, dem aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert zukomme, gravierend beeinträchtigt. Demgegenüber träten die persönlichen Interessen der Beschwerdeführer in den Hintergrund, würden doch die familiären Interessen dadurch relativiert, dass sich "die meisten Familienmitglieder" ebenfalls unberechtigt in Österreich aufhielten. In Anbetracht des insgesamt mehr als fünfjährigen, ausschließlich illegalen Aufenthalts der Beschwerdeführer in Österreich, wobei deren gesetzlicher Vertreter vor etwa drei Jahren aufgefordert worden sei, die Ausreise zu veranlassen, scheine dem Schutz des Privat- und Familienlebens "nach § 66 Abs. 1 FPG (Art. 8 Abs. 2 EMRK)" weniger Bedeutung zuzukommen als dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der für die Einreise und den Aufenthalt von Fremden getroffenen Regelungen. Dies sei auch der Stellungnahme der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 5. Jänner 2009 zu entnehmen. Die Beschwerdeführer hätten somit über ihren unsicheren Aufenthalt im Bundesgebiet sehr wohl Bescheid gewusst.

Zu der Angabe in der Begründung des Antrages gemäß § 21 Abs. 3 NAG, dass der Vater der Beschwerdeführer legal in Österreich aufhältig sei und eine Trennung der Familie in das Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK eingreifen würde, wies die belangte Behörde darauf hin, dass der Vater derjenige gewesen sei, der sich von der Familie getrennt habe, als er sich in Österreich habe adoptieren lassen. Ein gewisses Maß an Integration gestand die belangte Behörde den Beschwerdeführern aufgrund ihres Schulbesuchs in Österreich zu, dieser basiere jedoch lediglich auf einem illegalen Aufenthalt. Auch die Anträge auf Zulassung der Inlandsantragstellung führten auf Grund einer Gesamtbeurteilung des Falles, insbesondere in Bezug auf das Privat- und Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK, zu keiner "Änderung des Sachverhaltes".

Nach Wiedergabe von Rechtssätzen aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte folgerte die belangte Behörde, dass eine Verletzung des Art. 8 EMRK auf Grund der gesamten Aktenlage nicht gegeben sei. Vielmehr sei die gewählte Vorgangsweise eine Umgehung der Einwanderungsbestimmungen. Ein rechtskonformes Verhalten durch Ausreise und Antragstellung bei der zuständigen österreichischen Berufsvertretungsbehörde im Ausland wäre durchaus zumutbar gewesen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Bescheide gerichteten Beschwerden, die auf Grund ihres persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden wurden, nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Die Beschwerdeführer bestreiten nicht, dass sie noch nie über einen Aufenthaltstitel für Österreich verfügt haben. Die Auffassung der belangten Behörde, es handle sich bei den gegenständlichen, auf Familienzusammenführung mit dem Vater gerichteten Anträgen um Erstanträge, auf die § 21 Abs. 1 NAG Anwendung finde, begegnet somit keinen Bedenken. Dem in dieser Bestimmung verankerten Grundsatz der Auslandsantragstellung folgend hätten die Beschwerdeführer daher die Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln im Ausland stellen und die Entscheidung darüber im Ausland abwarten müssen.

Aus § 21 Abs. 3 Z 2 NAG ergibt sich aber, dass die Inlandsantragstellung auf begründeten Antrag dann zugelassen werden kann, wenn - ausnahmsweise, nämlich für den Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise des Fremden - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht. Liegen die Voraussetzungen dieser Bestimmung vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") in § 21 Abs. 3 NAG die Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 2009, Zl. 2009/22/0270).

Unter diesem Gesichtspunkt machen die Beschwerdeführer - wie schon in der Begründung des Antrages nach § 21 Abs. 3 NAG - insbesondere geltend, dass ihnen die Rückkehr in ihr Herkunftsland, wo ihr 82jähriger, nicht mehr gesunder Großvater der einzige Verwandte sei, nicht zumutbar sei.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerden zum Erfolg. Die belangte Behörde hat festgestellt, dass der Vater der minderjährigen Beschwerdeführer (sie waren zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung zwölf und fünfzehn Jahre alt) über eine gültige Niederlassungsbewilligung und ihre Mutter und ihr volljähriger Bruder über vorläufige asylrechtliche Aufenthaltsberechtigungen in Österreich verfügten; demnach trifft es (bezogen auf den Bescheiderlassungszeitpunkt) nicht zu, dass sich "die meisten Familienmitglieder" der Beschwerdeführer unrechtmäßig in Österreich aufhalten. Damit, ob es etwa dem Vater der Beschwerdeführer (dennoch) zugemutet werden könnte, sie zu begleiten, oder aber ob es ihnen zumutbar wäre, ohne einen Elternteil in ihr Herkunftsland auszureisen, hat sich die belangte Behörde überhaupt nicht auseinandergesetzt. Indem sie hauptsächlich darauf abgestellt hat, dass die Einreise und der bisherige Aufenthalt der Beschwerdeführer illegal waren, ist sie deren familiärer Situation in keiner Weise gerecht geworden. Dass die Adoption des Vaters der Beschwerdeführer angeblich rechtsmissbräuchlich erfolgt sei, durfte diesen überhaupt nicht zum Vorwurf gemacht werden.

Die von der belangten Behörde durchgeführte Interessenabwägung und die dazu getroffenen Feststellungen erweisen sich somit insgesamt als unvollständig. Da sie bei Vermeidung dieser Mängel zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können, waren die angefochtenen Bescheide gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 29. Februar 2012

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte