VwGH 2011/03/0073

VwGH2011/03/007330.6.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Jabloner und die Hofräte Dr. Handstanger, Dr. Lehofer, Mag. Nedwed und Mag. Samm als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Beschwerde der S H und des M H, beide in Z, beide vertreten durch Hohenberg Strauss Buchbauer Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Hartenaugasse 6, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 22. Dezember 2010, Zl BMVIT-220.111/0022- IV/SCH2/2010, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens nach dem Eisenbahnenteignungs-Entschädigungsgesetz (mitbeteiligte Partei:

ÖBB-Infrastruktur AG in Wien, vertreten durch Walch & Zehetbauer Rechtsanwälte OG in 1010 Wien, Biberstraße 11), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §69 Abs1 Z2;
EisbEG 1954 §2 Abs2 Z3;
HlG 1989 §2;
HlG 1989 §6;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs3;
AVG §69 Abs1 Z2;
EisbEG 1954 §2 Abs2 Z3;
HlG 1989 §2;
HlG 1989 §6;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Mit Bescheid des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 26. April 2007 war der (Rechtsvorgängerin der) mitbeteiligten Partei gemäß §§ 35 und 36 des Eisenbahngesetzes 1957 (EisbG) die eisenbahnrechtliche Baubewilligung für die Errichtung der Bahnstrom-Übertragungsanlage Graz-Werndorf, 110 kV-Hochspannungsleitung (Kabel und Freileitung), erteilt worden. Unter Spruchpunkt 1. V. wurde gemäß § 35 Abs 3 EisbG festgestellt, dass der durch die eisenbahnrechtliche Baugenehmigung entstehende Vorteil für die Öffentlichkeit größer sei als der Nachteil, der den Parteien durch die Genehmigung des Bauvorhabens erwächst.

1.2. Mit Schreiben vom 13. Februar 2009 stellte die mitbeteiligte Partei beim Landeshauptmann von Steiermark den Antrag auf Enteignung ua der von diesem Bauvorhaben als Grundeigentümer betroffenen Beschwerdeführer gemäß § 6 des Hochleistungsstreckengesetzes (HlG), und zwar insbesondere hinsichtlich der Einräumung von Dienstbarkeiten, nämlich "Freileitungsüberspannungsraum" und "Masten für permanente elektrische Hochspannungsfreileitung".

Mit Bescheid vom 30. Juli 2009 verfügte der Landeshauptmann von Steiermark gemäß §§ 2 und 6 HlG in Verbindung mit § 2 Abs 2 Z 3 Eisenbahn-Enteignungsentschädigungsgesetz (EisbEG) die Enteignung der Beschwerdeführer zugunsten der mitbeteiligten Partei.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 21. Dezember 2009 wurde der dagegen gerichteten Berufung der Beschwerdeführer nach § 66 Abs 4 AVG nicht Folge gegeben.

Begründend wurde unter anderem ausgeführt, die Enteignungsbehörde sei an den eisenbahnrechtlichen Baugenehmigungsbescheid vom 26. April 2007 mit der darin enthaltenen Feststellung, dass das gegenständliche Eisenbahnprojekt den öffentlichen Interessen diene und die entgegenstehenden Interessen überwiege, gebunden. Daraus folge, dass der Eigentümer der durch den bescheidmäßigen Bau selbst in Anspruch genommenen Liegenschaften im Enteignungsverfahren, wenn der Baugenehmigungsbescheid rechtskräftig geworden sei, nicht mehr einwenden könne, die Inanspruchnahme liege nicht im öffentlichen Interesse bzw sie wäre nicht notwendig, um einem Gebot des allgemeinen Besten zu entsprechen. Über das Vorliegen des allgemeinen Besten (des öffentlichen Interesses an der Verwirklichung des gegenständlichen Bauvorhabens) habe die belangte Behörde vielmehr bereits mit dem eisenbahnrechtlichen Baugenehmigungsbescheid vom 26. April 2007 rechtskräftig abgesprochen. Das sich gegen das gegenständliche eisenbahnrechtliche Bauvorhaben als solches richtende Vorbringen der Beschwerdeführer habe daher keinen Gegenstand des Enteignungsentschädigungsverfahrens mehr darstellen können.

Im Weiteren legte die belangte Behörde dar, dass Bemühungen der mitbeteiligten Partei, eine privatrechtliche Einigung zu erzielen, gescheitert seien. Die Beurteilung von Inhalt, Umfang und Notwendigkeit der Enteignung erfolge ausschließlich im Hinblick auf das eisenbahnrechtlich genehmigte Projekt, wobei die Inanspruchnahme der benötigten Grundflächen durch die beantragten Dienstbarkeiten das gelindeste Mittel darstelle.

1.3. Mit hg Erkenntnis vom 23. Juni 2010, Zl 2007/03/0160, wurde der dem Enteignungsbescheid zu Grunde gelegte Bescheid des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 26. April 2007 betreffend die eisenbahnrechtliche Baubewilligung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1.4. Daraufhin beantragten die Beschwerdeführer mit Schreiben vom 21. Juli 2010 die Wiederaufnahme des Enteignungsverfahrens gemäß § 69 Abs 1 Z 3 AVG: Entscheidende Vorfrage für das Enteignungsverfahren sei der Bescheid des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 26. April 2007 betreffend die eisenbahnrechtliche Baubewilligung gewesen; dieser Bescheid sei nunmehr durch das genannte Erkenntnis aufgehoben worden.

1.5. Mit dem nun angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 22. Dezember 2010 wurde dem Antrag auf Wiederaufnahme gemäß § 69 AVG keine Folge gegeben.

In der Begründung führte die belangte Behörde - nach einer Wiedergabe des Verfahrensgangs und einer Darstellung der wesentlichen gesetzlichen Bestimmungen - Folgendes aus:

Die Entscheidung über die eisenbahnrechtliche Baugenehmigung stelle keine für das Enteignungsverfahren bindende Entscheidung über eine Vorfrage dar, weil die Erteilung einer eisenbahnrechtlichen Baugenehmigung lediglich für eine Eisenbahnanlage vorgesehen sei, eine Enteignung aber bereits dann zulässig sei, wenn sie für den Bau einer Eisenbahn erforderlich sei. Die Zulässigkeit einer Enteignung sei weder davon abhängig, dass bereits eine genehmigte Eisenbahnanlage vorliege, noch davon, dass die betroffene Liegenschaft als Teil einer Eisenbahnanlage zu qualifizieren sei. Hinzu trete, dass im aufhebenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 23. Juni 2010 nicht zum Ausdruck gebracht worden sei, dass die eisenbahnrechtliche Baugenehmigung nicht erteilt werden könne, vielmehr die Aufhebung ausschließlich deshalb erfolgt sei, weil die eisenbahnrechtliche Baugenehmigung in einem Verfahren nach dem UVP-G erteilt hätte werden müssen. Es fehle daher auch deshalb an der für den Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs 1 Z 3 AVG erforderlichen Voraussetzung, dass "in wesentlichen Punkten anders entschieden" worden sei.

Es liege aber auch der Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs 1 Z 2 AVG nicht vor: Zwar sei das wieder aufzunehmende Enteignungsentschädigungsverfahren mit Berufungsbescheid der belangten Behörde vom 21. Dezember 2009 rechtskräftig abgeschlossen worden; die Aufhebung des Baugenehmigungsbescheides könne jedoch nicht als neue Tatsache im Sinne des § 69 Abs 1 Z 2 AVG und damit als Wiederaufnahmegrund qualifiziert werden, weil dies nur für solche Bescheide gelte, die im wiederaufzunehmenden Verfahren Tatbestandswirkung hätten. An dieser Voraussetzung fehle es aber, weil das EisbEG keine Regelung enthalte, die der eisenbahnrechtlichen Baugenehmigung Tatbestandswirkung zuerkennen würde. Richtig sei zwar, dass sowohl bei der Erteilung der eisenbahnrechtlichen Baugenehmigung als auch bei der Enteignung ein "öffentliches Interesse" Entscheidungsvoraussetzung sei. Im Enteignungsverfahren habe die Behörde aber nicht darauf abzustellen, ob ein solches öffentliches Interesse mit einem Baugenehmigungsbescheid (implizit) bejaht wurde, sondern allein darauf, ob eine Enteignung notwendig sei. Der Verwaltungsgerichtshof habe "wiederholt bestätigt, dass für die Entscheidung im Enteignungsverfahren eine rechtskräftige Baugenehmigung nicht Tatbestandsvoraussetzung" sei (Verweis auf die hg Erkenntnisse vom 21. Februar 1975, Zl 419/73, und vom 18. Oktober 1989, Zl 89/03/0181).

Abgesehen von der fehlenden Tatbestandswirkung eines eisenbahnrechtlichen Baugenehmigungsbescheids im Enteignungsverfahren sei darauf hinzuweisen, dass mit der Aufhebung des eisenbahnrechtlichen Baugenehmigungsbescheids nicht das öffentliche Interesse an der Errichtung der gegenständlichen Bahnstromleitung verneint worden sei. Am Vorliegen des öffentlichen Interesses am Vorhaben sei durch die Aufhebung keine Änderung eingetreten. Dies ergebe sich daraus, dass die gegenständliche Bahnstromleitung der Sicherung einer dem Stand der Technik entsprechenden, zukunftssicheren und internationalen Anforderungen genügenden Bahnstromversorgung auf den bereits bestehenden Bereichen der eine Hochleistungsstrecke darstellenden Südbahn diene; das öffentliche Interesse sei insbesondere durch die Erlassung der zweiten und der dritten Hochleistungsstreckenverordnung dokumentiert, weiters in der Hochleistungsstreckenübertragungsverordnung, mit der der mitbeteiligten Partei die gegenständliche Bahnstromleitung zum Bau übertragen worden sei. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass die mitbeteiligte Partei auch nach Aufhebung des eisenbahnrechtlichen Baugenehmigungsbescheids keinen Zweifel daran gelassen habe, den diesem Verfahren zu Grunde liegenden Antrag weiterhin aufrecht erhalten zu wollen. Sie habe zwischenzeitig auch ergänzende Unterlagen nachgereicht und einen Antrag auf Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung samt teilkonzentriertem Genehmigungsverfahren gestellt; dieses Verfahren sei mittlerweile eingeleitet.

Insgesamt ergebe sich daher, dass weder der Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs 1 Z 2 noch der nach Z 3 AVG vorliege.

2. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde und die mitbeteiligte Partei erwogen:

2.1. Gemäß § 69 Abs 1 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und

neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätten (Z 2),

oder der Bescheid gemäß § 38 AVG von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiefür zuständigen Behörde (Gericht) in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde (Z 3).

Gemäß § 69 Abs 3 AVG kann unter den Voraussetzungen des Abs 1 die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden.

2.2. Im Beschwerdefall ist lediglich die Frage zu beantworten, ob der Umstand, dass der Baugenehmigungsbescheid vom 26. April 2007 mit Erkenntnis vom 23. Juni 2010 aufgehoben wurde, ein Grund für die Wiederaufnahme des mit Bescheid vom 21. Dezember 2009 rechtskräftig abgeschlossenen Enteignungsverfahren darstellt (die Einhaltung der Frist des § 69 Abs 2 AVG durch die beschwerdeführenden Parteien ist unstrittig).

2.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach erkannt, dass dann, wenn ein Enteignungsbescheid auf einem eisenbahnrechtlichen Baugenehmigungsbescheid aufbaut und mit diesem in einem unlösbaren Zusammenhang steht (weil der Eigentümer der durch eine rechtskräftig erteilte eisenbahnrechtliche Baugenehmigung betroffenen Liegenschaft im Enteignungsverfahren nicht mehr einwenden kann, die Inanspruchnahme liege nicht im öffentlichen Interesse, und der rechtskräftige Baugenehmigungsbescheid auch die Lage der genehmigten Objekte für das Enteignungsverfahren bindend festlegt), die Aufhebung des Baugenehmigungsbescheides bewirkt, dass die Grundlage für den Enteignungsbescheid weggefallen ist, weshalb dieser - auf Grund einer rechtzeitigen und zulässigen Beschwerde - aufzuheben ist (vgl die hg Erkenntnisse vom 25. August 2010, Zl 2010/03/0038, vom 27. Juni 2007, Zl 2006/03/0176, vom 2. Mai 2007, Zl 2007/03/0033, und vom 5. März 1997, Zl 96/03/0276).

2.4. Eine vergleichbare Konstellation liegt im Beschwerdefall vor:

Im Bescheid vom 21. Dezember 2009, mit dem das Enteignungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde, hat die belangte Behörde explizit ausgeführt, an den eisenbahnrechtlichen Baugenehmigungsbescheid vom 26. April 2007 mit der darin enthaltenen Feststellung, dass das gegenständliche Eisenbahnprojekt dem öffentlichen Interesse dient und die entgegenstehenden Interessen überwiege, gebunden zu sein. Auf Grund dieser Bindung könne der Eigentümer der durch den bescheidmäßigen Bau in Anspruch genommenen Liegenschaft im Enteignungsverfahren nicht mehr einwenden, die Inanspruchnahme liege nicht im öffentlichen Interesse.

Gemäß § 42 Abs 3 VwGG tritt durch die Aufhebung des angefochtenen Bescheides die Rechtssache in die Lage zurück, in der sie sich vor Erlassung des angefochtenen Bescheides befunden hat.

Aus der ex tunc-Wirkung der Aufhebung des genannten Bescheides vom 26. April 2007 folgt, dass der Rechtszustand zwischen der Erlassung des Bescheides und seiner Aufhebung im Nachhinein so zu betrachten ist, als wäre der aufgehobene Bescheid ursprünglich nicht erlassen worden. Allen Maßnahmen, die während der Geltung dieses Bescheides auf dessen Basis gesetzt worden waren, wurde hinterher durch die Aufhebung die Rechtsgrundlage entzogen. Durch die nachträgliche Aufhebung des Bescheides ex tunc liegt in Bezug auf das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren, welches auf dem aufgehobenen Bescheid basiert, eine neue Tatsache im Sinn des § 69 Abs 1 Z 2 AVG vor (Hengstschläger/Leeb, AVG § 69 Rz 31f mit Hinweisen auf die hg Rechtsprechung):

Die Maßnahme, zu deren Durchsetzung im Beschwerdefall die Enteignung beantragt wurde, setzte die Erteilung einer eisenbahnrechtlichen Baugenehmigung voraus. In diesem - nunmehr mit ex tunc-Wirkung aufgehobenen - Baugenehmigungsbescheid allein wurde das öffentliche Interesse am verfahrensgegenständlichen Vorhaben und dessen Überwiegen gegenüber anderslautenden privaten Interessen festgestellt, während im Enteignungsverfahren diesbezüglich - wie dargestellt - von der belangten Behörde auf die Bindung an den Baugenehmigungsbescheid verwiesen wurde.

Da die Enteignung aber nur dann zulässig ist, wenn sie durch das öffentliche Interesse geboten und verhältnismäßig ist, begründet die Aufhebung des Baugenehmigungsbescheides das Hervorkommen einer - wesentlichen - neuen Tatsache und damit den Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs 1 Z 2 AVG.

Daran ändert entgegen der Auffassung der belangten Behörde nichts, dass eine Enteignung unter Umständen - etwa wenn für das umzusetzende Vorhaben eine eisenbahnrechtliche Baugenehmigung nicht erforderlich ist - auch ohne Vorliegen einer solchen eisenbahnrechtlichen Baugenehmigung erfolgen kann.

Gegenteiliges kann auch nicht den von der belangten Behörde zitierten hg Erkenntnissen vom 21. Februar 1975, Zl 419/73, und vom 18. Oktober 1989, Zl 89/03/0181, entnommen werden.

2.5. Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl II Nr 455.

Wien, am 30. Juni 2011

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