Normen
ASVG §67 Abs4
ASVG §67 Abs4 idF vor 1986/111
ASVG §83
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1989:1988080109.X00
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird insoweit wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben, als mit ihm die Beschwerdeführerin verpflichtet wurde, Verzugszinsen vom Betrag von S 46.329,65 zu bezahlen. Im übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 10.110,‑ ‑ binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Kostenmehrbegehren für Bundesstempel wird abgewiesen.
Begründung
Mit Bescheid vom 21. Mai 1987 sprach die mitbeteiligte Wiener Gebietskrankenkasse aus, daß die Beschwerdeführerin als Betriebsnachfolgerin der IU, Kinder‑Boutique, in Wien, W‑straße 130, gemäß § 67 Abs. 4 und § 83 ASVG verpflichtet sei, der mitbeteiligten Partei rückständige Sozialversicherungsbeiträge samt Nebengebühren im Betrag von S 46.329,65 zuzüglich Verzugszinsen seit 1. November 1985, berechnet von S 46.329,65 zu bezahlen.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Einspruch, in dem sie im wesentlichen vorbrachte, nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes komme es in erster Linie auf den Erwerb jener Betriebsmittel an, die die wesentliche Grundlage des Betriebes des Betriebsvorgängers gebildet hätten. Es gehe also nicht so sehr um das faktische Fortführen bzw. um die Betriebsidentität (die im vorliegenden Fall ebenfalls nicht gegeben sei), sondern bloß darum, ob die Erwerberin die wesentlichen Betriebsmittel ihrer Vorgängerin übernommen habe. Hiezu enthalte der angefochtene Bescheid allerdings nahezu keine Feststellungen. Nach den bisherigen Beweisergebnissen sei davon auszugehen, daß die Beschwerdeführerin mit Ausnahme einer einzigen Dienstnehmerin überhaupt kein Betriebsmittel derivativ erworben habe. Das Mietrecht an dem gegenständlichen Geschäftslokal habe die Beschwerdeführerin etwa nicht von der Vorgängerin, sondern von der Hausinhabung selbst erworben. Die Geschäftseinrichtung sei weder Gegenstand der zwischen den Vertragsteilen getroffenen Vereinbarung gewesen, noch seien etwa die ‑ im übrigen völlig veralteten und devastierten Regale ‑ von der Beschwerdeführerin tatsächlich übernommen worden. Die Beschwerdeführerin habe vielmehr die IU betreffende Pflicht der Räumung des Geschäftslokals erfüllt, worin allerdings keineswegs auf eine Übernahme der Geschäftseinrichtung geschlossen werden könne. Die Geschäftsbezeichnung „S“ sei ebenfalls nicht übernommen worden. Der Kundenkreis der IU, der sich im übrigen im Zeitpunkt der Betriebsaufgabe bereits gänzlich verlaufen habe, habe durch die Beschwerdeführerin nicht übernommen werden können, da IU ein Kinderschuhgeschäft betrieben habe, während die Beschwerdeführerin in dieser Lokalität ein Kindermoden‑Oberbekleidungsgeschäft betreibe.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Einspruch als unbegründet abgewiesen. In der Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, ET habe die wesentlichen Betriebsmittel des Betriebes der IU in W, W‑straße 130, auf Grund eines Veräußerungsgeschäftes erworben. Dies ergebe sich aus den mit IU, ET und GB aufgenommenen Niederschriften. Hiebei habe IU angegeben, daß sie ihr Geschäft (Verkauf von Kinderbekleidung und Kinderschuhen) bis 31. Juli 1985 geführt habe. Das Geschäft habe aus zwei Verkaufsräumen und einem Lagerraum bestanden. Sie habe mit ET in der Übereinkunft vom 4. Juni 1985 ausgemacht, daß sie die von ihr getätigten Investitionen mit einem Betrag von S 900.000,‑ ‑ + 20 % MWSt ablöse. Dieser Betrag sollte nicht nur die Geschäftseinrichtung abdecken, sondern auch die Übernahme des bereits seit 20 Jahren eingeführten Unternehmens „S“. Sie habe die Übereinkunft als Verkauf ihres Unternehmens betrachtet. Alle Räume seien zum Zeitpunkt, als sie das Geschäft übergeben habe, voll eingerichtet gewesen. Im Lagerraum hätten sich Stellagen befunden, der Verkaufsraum sei mit Holz getäfelt gewesen, es habe eine Sitzgarnitur (Polstermöbel) darin gestanden, an den Wänden hätten sich Stellagen für die Ware befunden. Im zweiten Verkaufsraum seien Hocker und Stellagen sowie kindergerechte kleine Sitzmöbel gestanden. Die im Geschäft befindlichen Gegenstände, die unverändert an ET übergeben worden seien, seien wesentliche Betriebsmittel gewesen. Zum Zeitpunkt des Verkaufes habe IU zwar finanzielle Schwierigkeiten gehabt, diese seien jedoch keineswegs derart gewesen, daß man sagen könne, daß das Geschäft im desolaten Zustand gewesen sei. Der Geschäftsumfang sei ab dem Zeitpunkt, als sie wußte, daß sie das Geschäft verkaufen würde, nur mehr eingeschränkt gewesen, das heißt sie habe nicht mehr viele neue Waren angeschafft, sie habe deshalb aber nicht weniger Kunden gehabt.
GB, welche vom 1. September 1971 bis 31. August 1985 bei IU und im September und Oktober 1985 bei ET beschäftigt gewesen sei, habe angegeben, daß der Geschäftsgang bei IU bis 1985 recht gut gewesen sei und erst als diese den Verkauf des Geschäftes geplant habe, schlechter geworden sei. In den letzten Monaten vor Geschäftsaufgabe sei hauptsächlich Ware abverkauft worden. Bis zum Schluß hätte die Firma einen festen Kundenstock gehabt. Das Geschäft der IU sei zum Zeitpunkt der Übergabe keineswegs renovierungsbedürftig gewesen, man hätte ohne weiteres in diesem Geschäft weiter eine Kinderboutique betreiben können.
Die Beschwerdeführerin habe zum Sachverhalt im wesentlichen angegeben, daß sie in der W‑straße ein Kindermodengeschäft besessen habe und sich vergrößern habe wollen. Sie habe mit IU eine Übereinkunft getroffen, daß sie das Geschäft mit den von ihr getätigten Investitionen um eine Ablöse von S 900.000,‑ ‑ übernehmen wolle. Der Mietvertrag sei nicht mit IU, sondern mit der Hausverwaltung abgeschlossen worden.
Zu den Einspruchsangaben, das Mietrecht sei infolge eines mit der Hausinhaberin abgeschlossenen Mietvertrages erworben worden und die Geschäftsbezeichnung „S“ sei nicht übernommen worden, wurde ausgeführt, daß für den Betriebserwerb nicht erforderlich sei, daß alle zum Betrieb gehörigen Betriebsmittel erworben würden. Zu den Einwendungen betreffend den Kundenkreis wurde darauf hingewiesen, daß nach Angaben der GB nach September 1985 auch ein Großteil der Kunden von IU bei der Beschwerdeführerin einkaufte.
Gegen diesen Bescheid richtet sich vorliegende Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wird.
Die belangte Behörde legt die Verwaltungsakten vor und erstattete, ebenso wie die mitbeteiligte Partei, eine Gegenschrift.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Unbestritten ist, daß IU in Wien, W‑straße 130 ein Kindermodengeschäft betrieb. Weiters ist unbestritten, daß die Beschwerdeführerin mit Vereinbarung vom 4. Juni 1985 die von IU getätigten Investitionen zu einem Kaufpreis von S 900.000,‑ ‑, zuzüglich 20 % MWSt erworben hat. Übernommen wurden Stellagen, Rolleitern und ein Verkaufspult, an Investitionen war eine Holzvertäfelung, ein Ölofen und Elektroinstallationen vorhanden. Der Mietvertrag wurde mit der Hausinhabung abgeschlossen, ein Warenlager wurde nicht übernommen.
Mit dem Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 30. November 1983, Slg. Nr. 11.241, hat sich der Verwaltungsgerichtshof mit dem Begriff der Betriebsnachfolge des § 67 Abs. 4 ASVG auseinandergesetzt. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis ausgesprochen:
Als „Betriebsnachfolger“ ist jene Person zu verstehen, die den Betrieb oder einen organisatorisch selbständigen Teilbetrieb des Betriebsvorgängers (Beitragsschuldners) auf Grund eines Veräußerungsgeschäftes (von Veräußerungsgeschäften) mit ihm erworben hat; die bloße Bestandnahme eines Betriebes (eines Teilbetriebes) begründet daher keine Haftung nach dieser Gesetzesstelle. Zum Betriebserwerb ist es allerdings nicht erforderlich, daß alle zum Betrieb gehörigen Betriebsmittel erworben werden; es genügt vielmehr der Erwerb jener Betriebsmittel, die die (nach Betriebsart und Betriebsgegenstand) wesentliche Grundlage des Betriebes des Betriebsvorgängers gebildet haben und den Erwerber mit ihrem Erwerb in die Lage versetzen, den Betrieb fortzuführen. .....
..... Es ist auch nicht entscheidend, ob der Betrieb tatsächlich fortgeführt wird, und ob im Falle der Fortführung der Betriebsgegenstand und die Betriebsart gleich bleibt.
Zum „Betriebsbegriff“ wird in diesem Erkenntnis ausgeführt, daß ein lebender bzw. lebensfähiger (aktivierbarer oder reaktivierbarer) Betrieb (Unternehmen) erworben werden muß, das heißt eine organisierte Erwerbsgelegenheit als Objekt im Rechtsverkehr, in der die durch die Betriebsart und den Betriebsgegenstand bestimmten personellen, sachlichen und ideellen Werte (Betriebsmittel) zusammengefaßt sind. Der Erwerb bloßer (nicht zur Organisationseinheit Betrieb aktivierbarer oder reaktivierbarer) Betriebsmittel genügt nicht.
Unter Berücksichtigung dieser Judikatur kann der belangten Behörde nicht mit Erfolg entgegengetreten werden, wenn sie den Erwerb und die Übernahme des Inventars wie Stellagen, Rolleitern, Verkaufspult und Sitzgarnitur des Betriebes der IU, die, ebenso wie die Beschwerdeführerin, im gegenständlichen Standort ein Kindermodengeschäft führte, im Wege eines Veräußerungsgeschäftes als den Erwerb der nach Betriebsart und Betriebsgegenstand wesentlichen Betriebsmittel qualifizierte.
Der Einwand in der Beschwerde, die belangte Behörde spreche von „wesentlichen Betriebsmitteln“, erläutere aber nicht, welche der Betriebsmittel sie meine, geht ins Leere, geht doch aus dem angefochtenen Bescheid hervor, welche Betriebsmittel veräußert wurden. Da es nach dem zitierten Erkenntnis nicht erforderlich ist, daß alle zum Betrieb gehörigen Betriebsmittel erworben werden, schadet auch der Umstand nicht, daß der Mietvertrag unmittelbar mit der Hausinhabung abgeschlossen wurde. Im Sinne des Erkenntnisses vom 30. November 1983 ist es auch unerheblich, ob die Etablissementbezeichnung und die Gewerbeberechtigung übernommen wurden, da auch ohne Übernahme der Etablissementbezeichnung und der, einer anderen Person erteilten, Gewerbeberechtigung der Erwerber in die Lage versetzt ist, den Betrieb mit den vorhanden Betriebsmitteln fortzuführen. Daß der Kundenkreis übernommen wurde, geht aus der Aussage der GB hervor.
Mit Erkenntnis vom 27. September 1988, Zl. 86/08/0074, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, daß für die Betriebsnachfolgehaftung nicht maßgebend ist, ob der Vorgänger auf Dauer in der Lage war, mit den Betriebsmitteln, die auf den Nachfolger übergingen, ohne nennenswerte Investitionen Gewinne zu erzielen oder zumindest Verluste zu vermeiden; ausschlaggebend sei vielmehr, ob vom Nachfolger eine organisierte Erwerbsgelegenheit als Objekt im Rechtsverkehr erworben wurde, die als solche geeignet war, unabhängig von den im Zeitpunkt des Erwerbes gegebenen Gewinnchancen oder Verlustgefahren, wirtschaftlich werthafte Leistungen auf dem für sie in Betracht kommenden Markt zu erbringen. Mit den übernommenen Einrichtungsgegenständen, die für den Betrieb eines Kindermodengeschäftes zweifellos geeignet waren, war die Beschwerdeführerin aber durchaus in die Lage gesetzt, wirtschaftlich werthafte Leistungen zu erbringen. Daß das Warenlager nicht übergeben wurde, besagt hiebei nichts, liegt es doch in der Natur der Sache, daß speziell modische Kinderbekleidung immer wieder neu angeschafft werden muß.
Das Vorbringen, es stehe fest, daß die Beschwerdeführerin das Geschäftslokal erst ab 1. September 1985 übernommen habe, weil davor noch IU Mieterin des Geschäftslokales gewesen sei, wurde erstmals in der Beschwerde erhoben, es ist daher eine gemäß § 41 Abs. 1 VwGG unbeachtliche Neuerung.
Aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 13. Mai 1976, Zl. 2134/75, geht hervor, daß sich die Betriebsnachfolgehaftung nach § 67 Abs. 4 ASVG nicht nur auf die Beiträge als solche, sondern im Sinne des § 83 ASVG auch auf die Nebengebühren (Verzugszinsen, Mahngebühren und Verwaltungskostenersätze bei zwangsweiser Eintreibung) erstreckt. Das Beschwerdevorbringen, der Betriebsnachfolger hafte nur für Beitragsrückstände, nicht aber für Verzugszinsen, Mahngebühren und Verwaltungsauslagen geht daher ins Leere.
Zutreffend ist allerdings das Beschwerdevorbringen, der angefochtene Bescheid sei in Ansehung der Differenz zwischen der Vorschreibung von S 46.329,65 und S 42.292,87 insofern mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit behaftet, als im Betrag von S 46.329,65 bereits Verzugszinsen enthalten seien. Im Spruch des Bescheides der mitbeteiligten Partei und der belangten Behörde ist nämlich die Berechnungsbasis für die Verzugszinsen mit S 46.329,65 angegeben. Auch wenn diese Angabe ‑ laut Gegenschrift der mitbeteiligten Partei ‑ auf einem Irrtum beruht und die mitbeteiligte Partei selbstverständlich nur Verzugszinsen vom Kapital der Beiträge, somit von S 42.292,87 verlange, ist der angefochtene Bescheid in bezug auf die Berechnungsbasis für die Verzugszinsen rechtswidrig, zumal eine Berichtigung bisher nicht erfolgt ist. Bei dieser Sachlage erübrigt sich ein Eingehen auf das Beschwerdevorbringen, wonach es der Beschwerdeführerin nicht möglich sei, hinsichtlich der Höhe der Verzugszinsen das Ausmaß ihrer Zahlungspflicht zu erkennen. Der angefochtene Bescheid war somit hinsichtlich der Verpflichtung zur Entrichtung der Verzugszinsen wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben; im übrigen war die Beschwerde aus den oben dargelegten Gründen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989. Im Hinblick auf die bestehende sachliche Abgabenfreiheit nach § 110 Abs. 1 ASVG sind Stempelgebühren nicht zu entrichten, das diesbezügliche Kostenbegehren war daher abzuweisen.
Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlich sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.
Wien, am 26. September 1989
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