VwGH 88/02/0202

VwGH88/02/020222.2.1989

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Seiler und die Hofräte Dr. Stoll und Dr. Sittenthaler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde des SE in B, vertreten durch Dr. Thomas Fried, Rechtsanwalt in Wien I, Gonzagagasse 11/2/22, gegen den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 4. Oktober 1988, Zl. I/7-St-E-8776, betreffend Bestrafung wegen Übertretung der Straßenverkehrsordnung 1960, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §45 Abs2;
StVO 1960 §5 Abs1;
VwGG §41 Abs1;
AVG §45 Abs2;
StVO 1960 §5 Abs1;
VwGG §41 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Niederösterreich hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 9.750,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 4. Oktober 1988 wurde der Beschwerdeführer für schuldig befunden, am 23. August 1987 um 5.35 Uhr einen dem Kennzeichen nach bestimmten Pkw an einem näher bezeichneten Ort gelenkt zu haben, obwohl er sich in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand befunden habe, und dadurch eine Verwaltungsübertretung nach § 5 Abs. 1 StVO begangen zu haben. Es wurde eine Geldstrafe (Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt; weiters wurden Kosten gemäß § 5 Abs. 9 StVO vorgeschrieben.

In der Begründung stützte sich die belangte Behörde im wesentlichen auf ein Gutachten des ihr beigegebenen medizinischen Amtssachverständigen vom 27. April 1988, welcher im Anschluß an die "Befundaufnahme" angemerkt habe, auch unter Zugrundelegung des festgestellten Blutalkoholspiegels (0,6 %o) - eine Rückrechnung habe der Sachverständige im vorliegenden Fall als nicht zulässig bezeichnet - ließe sich bezogen auf den Zeitpunkt des Lenkens ein Erreichen bzw. Überschreiten der 0,8 %o-Grenze nicht unter Beweis stellen. Im gegebenen Zusammenhang sei jedoch nach Ansicht des Sachverständigen - auch wenn diese Grenze nicht überschritten worden sei - zu berücksichtigen, daß der Beschwerdeführer eine durchwachte Nacht hinter sich gehabt habe, was gleichbedeutend mit einer mehr oder minder großen Übermüdung sei. Auf Grund durchgeführter experimenteller wissenschaftlicher Untersuchungen könne nachgewiesen werden, daß die Abnahme der Gesamtaufmerksamkeit und die Verlängerung der Reaktionszeit nach durchwachter Nacht etwa denjenigen Leistungsminderungen entsprächen, die man im Mittel bei annähernd 0,8 %o (Blutalkoholgehalt), also gerade im Bereich des Gefahrengrenzwertes feststellen könne. So müßten selbst mit aller Vorsicht gezogene Schlußfolgerungen zu dem Ergebnis führen, daß Alkohol und Übermüdung (langdauernder Schlafentzug) entscheidenden Einfluß auf die Fahrtüchtigkeit hätten und zwar schon bei niedrigen Blutalkoholkonzentrationen. Es könne deshalb kein Zweifel bestehen, daß lang andauernder Schlafentzug als zusätzlicher, Fahruntüchtigkeit begründender Faktor angesprochen werden müsse, auch wenn die Blutalkoholkonzentration unterhalb der 0,8 %o-Grenze liege. Der Amtssachverständige habe auf Grund der "erhobenen Befundlage" zusammenfassend den Schluß gezogen, daß der Beschwerdeführer zur Tatzeit, bedingt durch die kombinatorische Wirkung des Alkoholkonsums und des Schlafentzuges im Ausmaß von einer Nacht (alkohol- und übermüdungsbedingt) mit Sicherheit nicht mehr verkehrstüchtig gewesen sei.

Die Ausführungen des Amtssachverständigen - so die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides weiter - stünden mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, die dahingehend laute, daß eine Alkoholbeeinträchtigung unabhängig vom Blutalkoholgehalt dann vorliege, wenn sich eine Person infolge Alkoholgenusses in einem fahruntüchtigen Zustand befinde, im Einklang. Daß sich der Beschwerdeführer alkoholbedingt, wenn auch in Verbindung mit sich aus einer nahezu durchwachten Nacht ergebenden Ermüdungserscheinungen, in einer solchen körperlichen und geistigen Verfassung befunden habe, in der er nicht in der Lage gewesen sei, ein Fahrzeug zu beherrschen und die beim Lenken zu beachtenden Rechtsvorschriften zu befolgen, liege angesichts der schlüssigen Darstellung des Amtssachverständigen auf der Hand. Auch ohne Vorliegen eines Blutalkoholgehaltes von mindestens 0,8 %o sei in Anbetracht des Umstandes, daß die Fahruntüchtigkeit in beträchtlichem Ausmaß auf die Einwirkung von Alkohol zurückzuführen sei, die Vorschrift des § 5 Abs. 1 StVO als verletzt anzusehen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Der Beschwerdeführer bringt im wesentlichen vor, den auf das erwähnte Amtssachverständigengutachten gestützten Ausführungen der belangten Behörde sei entgegenzuhalten, daß sicherlich keine wissenschaftliche Erkenntnis dahingehend lauten könne, daß "jedermann" nach durchwachter Nacht automatisch ermüdet sein müsse. Auf Grund seines Berufes als Casinoangestellter müsse der Beschwerdeführer ca. vier- bis fünfmal wöchentlich während der ganzen Nacht durcharbeiten, während er nach bzw. vor diesen Nächten jeweils während des Tages schlafe. Bei ihm lägen also gänzlich andere Lebensumstände vor, als beim "Durchschnittsbürger", da sich der Schlafbedarf auf Grund des Berufes, den der Beschwerdeführer schon seit mehreren Jahren ausübe, meistens nur tagsüber befriedigen lasse. Aus dem gesamten Akteninhalt sei kein Indiz für eine Übermüdung des Beschwerdeführers zum Tatzeitpunkt zu erkennen, abgesehen von der reinen Vermutung, daß "man" um 5.35 Uhr nach durchwachter Nacht müde zu sein habe. Es hätte von Amts wegen geprüft werden müssen (einen solchen Antrag habe der Beschwerdeführer nicht stellen können, da ihm nicht vorgehalten worden sei, daß er übermüdet gewesen wäre), wann bzw. wie lange der Beschwerdeführer vor dem gegenständlichen Vorfall zuletzt geschlafen habe, dies umso mehr, da aktenkundig sei, daß er als Casinoangestellter (Croupier) tätig sei. Daneben hätten überhaupt seine Schlafgewohnheiten im oben aufgezeigten Sinn geprüft werden müssen, da ohne Bekanntsein dieser Umstände nicht der Schluß hätte gezogen werden dürfen, daß der Beschwerdeführer nach nahezu durchwachter Nacht ermüdet gewesen und daher nicht in der Lage gewesen sei, ein Fahrzeug zu beherrschen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Tatbestand des § 5 Abs. 1 StVO nicht nur bei Feststellung eines Blutalkoholgehaltes von 0,8 %o und darüber, sondern auch - ohne Rücksicht auf die Höhe des Blutalkoholspiegels bei Vorliegen einer derartigen Beeinträchtigung durch Alkohol als erfüllt anzusehen, bei der der Lenker auf Grund seiner körperlichen und geistigen Verfassung ein Fahrzeug nicht mehr zu beherrschen und die zu beachtenden Rechtsvorschriften nicht zu befolgen vermag. Eine Person, die ein Fahrzeug in Betrieb nimmt, obwohl sie vorher Alkohol getrunken hat, verantwortet daher den Tatbestand nach § 5 Abs. 1 StVO 1960 selbst dann, wenn ihre Fahruntüchtigkeit unabhängig von der Menge des genossenen Alkohols auf Grund irgendwelcher zusätzlicher anderer Komponenten (wie z.B. Ermüdung) eingetreten ist (vgl. für viele das hg. Erkenntnis vom 23. März 1988, Zl. 85/18/0290).

Der Gerichtshof ist allerdings im vorliegenden Beschwerdefall der Ansicht, daß die belangte Behörde einen solchen Sachverhalt nicht in einem mängelfreien Verfahren festgestellt hat:

Es trifft zwar nicht zu, daß dem Beschwerdeführer die ihm angelastete "Übermüdung" nicht vorgehalten worden wäre, da ihm laut Niederschrift vom 13. Juni 1988 der "gesamte Akteninhalt", und somit auch das erwähnte Gutachten vom 27. April 1988 zur Kenntnis gebracht wurde. Ebenso ist dem Beschwerdeführer nicht beizupflichten, daß seine spezielle Tätigkeit als "Croupier" aktenkundig sei, da insoweit nur von "Casinoangestellter" die Rede ist. Damit ist allerdings für die belangte Behörde nichts gewonnen, weil sie nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes den Schuldspruch auf ein mangelhaftes Sachverständigengutachten gestützt hat: Dieses Gutachten läßt nämlich in Hinsicht auf den ihm zugrundeliegenden Befund Feststellungen vermissen, weshalb im konkreten Fall von einem "langdauernden Schlafentzug", der zur Übermüdung geführt habe, auszugehen sei. Der Amtssachverständige hat sich insoweit offenbar (lediglich) auf die Angabe des Beschwerdeführers anläßlich seiner Einvernahme am 22. September 1987 gestützt, wonach er "die ganze Nacht hindurch im Casino gearbeitet" habe. Dies allein ließ jedoch nicht den Schluß zu, daß von einem "langdauernden" Schlafentzug auszugehen sei, zumal sich aus dem Formblatt über die am 23. August 1987 um

5.35 Uhr vorgenommene klinische Untersuchung des Beschwerdeführers keine Anhaltspunkte in dieser Richtung ergeben. Vielmehr ist in diesem Formblatt beim Vordruck "Benehmen" das Wort "beherrscht" angekreuzt, nicht jedoch das Wort "schläfrig". Weiters ergibt sich aus diesem Formblatt durch die alleinige Unterstreichung des Wortes "Alkohol" (und nicht etwa auch der Worte "Übermüdung" oder "Schläfrigkeit und merkbare Alkoholisierung"), daß der die Untersuchung vornehmende Amtsarzt die Fahruntüchtigkeit allein auf Alkohol zurückgeführt hat.

Entgegen der Ansicht der belangten Behörde unterliegt die Erörterung dieser Umstände nicht dem Neuerungsverbot im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, da dieses nur dann zum Tragen kommt, wenn der von der Behörde als erwiesen angenommene Sachverhalt in einem mängelfreien Verfahren ermittelt worden ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 12. Oktober 1987, Zl. 87/10/0116), was hier in Hinsicht auf die als erwiesen angenommene "Ermüdung" des Beschwerdeführers nicht zutrifft.

Der angefochtene Bescheid war aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985.

Wien, am 22. Februar 1989

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