VwGH 88/05/0111

VwGH88/05/011120.9.1988

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Draxler und die Hofräte DDr. Hauer, Dr. Würth, Dr. Degischer und Dr. Domittner als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hollinger, über die Beschwerde des Dipl.‑Ing. FG in W, vertreten durch Dr. Christian Dorda und Dr. Walter Brugger, Rechtsanwälte in Wien I, Freyung 7, gegen den Bescheid der Bauoberbehörde für Wien vom 3. März 1988, Zl. MDR‑B XVIII‑18/87, betreffend Anrainereinwendungen gegen ein Bauvorhaben (mitbeteiligte Partei: RL in W, vertreten durch Dr. Wolfgang Broesigke, Rechtsanwalt in Wien VI, Gumpendorferstraße 14/22), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §8
BauO Wr §134 Abs3
BauO Wr §5 Abs6 lite
BauO Wr §5 Abs6 litf
BauO Wr §84
BauRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1988:1988050111.X00

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat der Bundeshauptstadt Wien Aufwendungen in der Höhe von S 2.760,‑ ‑ und den Mitbeteiligten Aufwendungen in der Höhe von S 9.630,‑ ‑ binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Bauoberbehörde für Wien vom 3. März 1988 wurde der mitbeteiligten Partei dieses verwaltungsgerichtlichen Verfahrens unter Berufung auf § 70 der Bauordnung für Wien unter Vorschreibung mehrerer Auflagen die Bewilligung erteilt, auf der Liegenschaft Wien, L‑gasse 78, ein viergeschoßiges Geschäftshaus zu errichten, welches sich im Keller- und Erdgeschoß über die ganze Liegenschaft erstrecken soll. Im Keller sollen sich eine Tiefgarage mit sieben Stellplätzen sowie ein Lagerraum, im Erdgeschoß straßenseitig ein Geschäftslokal und hofseitig ein Lagerraum befinden. Der erste, zweite und dritte Stock sollen je Geschoß einen Lagerraum enthalten. Die u. a. vom Beschwerdeführer erhobene Einwendung, wonach die hintere Baufluchtlinie durch den ebenerdigen Lagerumbau überschritten werde, wurde als unbegründet abgewiesen.

Die Berufungsbehörde führte dazu in der Begründung ihres Bescheides aus, aus dem Bebauungsplan ergebe sich für die in Rede stehende Liegenschaft gemischtes Baugebiet, Bauklasse III und geschlossene Bauweise. Dahinter (nämlich hinter der vom Beschwerdeführer erwähnten „inneren Baufluchtlinie“) seien Bauklasse I und geschlossene Bauweise vorgesehen. Das Vorbringen des Beschwerdeführers, daß die hinter der inneren Baufluchtlinie gelegene Grundfläche nicht bebaut werden dürfe, treffe demnach nicht zu. Die Bebauung dieser Fläche sei vielmehr in der Bauklasse I mit Gebäuden mit maximal 5,5 m Höhe zulässig. Diese zulässige Gebäudehöhe werde vom Bauprojekt eingehalten.

Über die gegen diesen Bescheid eingebrachte Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung von Gegenschriften durch die belangte Behörde und die mitbeteiligte Partei erwogen:

Der Beschwerdeführer erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid in seinem subjektiven Recht auf Einhaltung der inneren Baufluchtlinie gemäß § 5 Abs. 6 lit. e der Bauordnung für Wien verletzt und begründet dies damit, daß es sich bei Baufluchtlinien im Sinne dieser Bestimmung - lege non distinguente auch bei inneren Baufluchtlinien ‑ um Grenzen handle, über die mit einem Gebäude oder Gebäudeteil mit Ausnahme der gemäß § 84 zulässigen Vorbauten nicht vorgerückt werden dürfe. Bis zum Jahr 1976 habe der Grundsatz gegolten, daß Baufluchtlinien als Vertikale in ewige Höhe und Tiefe zu denken seien. Dieser Grundsatz sei in der Bauordnungsnovelle 1976 in zweifacher Hinsicht durchbrochen worden. Zum einen dürfe nach der Regelung des § 84 Abs. 3 der Bauordnung für Wien mit unterirdischen Gebäuden über die Baufluchtlinie hinaus bis zu den Bauplatzgrenzen vorgerückt werden. Zum anderen werde der erwähnte Grundsatz durch die Möglichkeit durchbrochen, daß nach § 4 Abs. 3 und § 5 Abs. 7 der Bauordnung für Wien für unterschiedliche übereinanderliegende Räume verschiedene Widmungen und damit verschiedene Bebauungsbestimmungen festgelegt werden könnten. Durch die Auffassung der belangten Behörde würde der oben angeführte Grundsatz eine dritte Einschränkung erfahren. Danach wäre die Baufluchtlinie schon dann eingehalten, wenn sie innerhalb des Höhenunterschiedes zwischen den Bauklassen nicht oder nur unter den Voraussetzungen des § 84 überschritten würde. Diese Auslegung finde im Wortlaut der entsprechenden Bestimmungen der Bauordnung für Wien keine Deckung. Vor dem Jahre 1986 sei im Bebauungsplan Plandokument 5851 für das gesamte in Frage stehende Grundstück Bauklasse III eingetragen gewesen. Der Bebauungsplan sei mit Gemeinderatsbeschluß vom 28. Februar 1986 unter Pr. Zl. 542/86 unter anderem dahingehend geändert worden, daß „die innere Baufluchtlinie“ eingezogen und im Bereich dahinter die Bauhöhe auf Bauklasse I gesenkt worden sei. In den Anträgen zu dieser Änderung sei dies als eine Maßnahme zur Freihaltung der Hinterhöfe bezeichnet worden. Indem sich das Erdgeschoß des geplanten Gebäudes über den gesamten Baugrund erstrecke, ohne daß für den hinter der „inneren Baufluchtlinie“ liegenden Teilbereich der Bauklasse I die Voraussetzungen des § 84 Abs. 1 oder 2 der Bauordnung für Wien erfüllt seien, werde die „innere Baufluchtlinie“ verletzt. Der Bescheid widerspreche somit § 5 Abs. 6 lit. e in Verbindung mit § 84 der Bauordnung für Wien und sei inhaltlich rechtswidrig.

Gemäß § 5 Abs. 6 lit. e der Bauordnung für Wien gelten als Baufluchtlinien jene Grenzen, über die mit einem Gebäude oder Gebäudeteil mit Ausnahme der gemäß § 84 zulässigen Vorbauten nicht vorgerückt werden darf. Aus der lit. f dieser Gesetzesstelle ergibt sich, daß die Grenzen zwischen verschiedenen Widmungsgebieten oder zwischen Grundflächen desselben Widmungsgebietes mit unterschiedlichen Bebauungs- oder Nutzungsbestimmungen, soweit diese Grenzen nicht mit einer anderen Fluchtlinie zusammenfallen, als Grenzlinien zu bezeichnen sind.

Entsprechend der dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegten Bekanntgabe der Bebauungsbestimmungen vom 18. März 1986, deren weitere Gültigkeit gemäß § 11 der Bauordnung für Wien mit Bescheid vom 15. Oktober 1987 bestätigt worden ist, liegen die zur Verbauung vorgesehenen Grundstücke Nr. 290/28 und 290/29 im gemischten Baugebiet, wobei die geschlossene Bebauung vorgeschrieben ist. Für das Grundstück Nr. 290/29 gilt die Bauklasse III mit einer maximalen Gebäudehöhe von 13 m und für das Grundstück Nr. 290/28 die Bauklasse I mit einer maximalen Gebäudehöhe von 5,5 m. Daraus folgt, daß auch das letztgenannte Grundstück bis zu einer Höhe von 5,5 m bebaut werden darf, sodaß jene mit der Grenze der beiden Grundstücke übereinstimmende Linie, die in dem dem Bescheid über die Bekanntgabe der Bebauungsbestimmungen zugrunde liegenden Plan als „BFL“ bezeichnet worden ist, insoweit nicht als Baufluchtlinie im Sinne der vorstehend wiedergegebenen Definition angesehen werden kann, sondern bis zu der für dieses Grundstück maximal zulässigen Gebäudehöhe von 5,5 m die Bedeutung einer ‑ die beiden Bauklassen trennenden - Grenzlinie im Sinne des § 5 Abs. 6 lit. f leg. cit. hat. Als Baufluchtlinie ist diese Linie daher nur hinsichtlich des auf dem Grundstück Nr. 290/29 vorgesehenen Gebäudeteiles zu qualifizieren, soweit dieser die für das andere Grundstück zugelassene erwähnte Gebäudehöhe von 5,5 m überragt. Nur in diesem Bereich darf mit dem Gebäude oder einem Teil desselben mit Ausnahme der gemäß § 84 zulässigen Vorbauten nicht vorgerückt werden, wovon jedoch entsprechend den vorliegenden Plänen nicht ausgegangen werden kann.

Der Beschwerdeführer ist daher durch den angefochtenen Bescheid nicht in seinem aus § 134 Abs. 3 in Verbindung mit § 5 Abs. 6 lit. e der Bauordnung für Wien abzuleitenden subjektiv‑öffentlichen Recht auf Einhaltung der (inneren) Baufluchtlinie verletzt worden, weshalb die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 2 Z. 1 und 2 sowie Abs. 3 Z. 1 und 2 VwGG in Verbindung mit den Bestimmungen der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985.

Wien, am 20. September 1988

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