Normen
AVG §56;
AVG §66 Abs4;
Behinderten PflegebeihilfeG Tir 1965 §33 idF 1976/064;
RehabilitationsG Tir 1983 §20 Abs2;
SHG Tir 1973 §9 Abs1;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1985:1984110087.X00
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird, insoweit die Beschwerdeführerin zur Leistung eines Kostenbeitrages für die Zeit vom 1. Jänner 1983 bis 31. Dezember 1983 verpflichtet wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Tirol hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 9.550,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem Bescheid der Tiroler Landesregierung vom 22. Februar 1984 wurden gemäß § 20 Abs. 1 lit. c Tiroler Rehabilitationsgesetz, LGBl. Nr. 58/1983, der von der Beschwerdeführerin ab dem 1. Jänner 1983 zu leistende Beitrag zu den Kosten ihrer Unterbringung in der Tagesheimstätte der Lebenshilfe in Lienz mit S 1.000,-- monatlich festgesetzt und diesbezüglich weiters gemäß § 59 Abs. 2 AVG 1950 (sowohl hinsichtlich der vor dem 29. Februar 1984 als auch hinsichtlich der in der Zukunft liegenden Zeiträume) Leistungsfristen bestimmt.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes erhobene Beschwerde, jedoch ausdrücklich nur insoweit, als die Beschwerdeführerin "zu Kostenbeitragszahlungen auch für die Zeit vom 1.1.1983 bis 31.12.1983 verpflichtet wurde".
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und in ihrer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die belangte Behörde hat als Rechtsgrundlage für die mit dem angefochtenen Bescheid an die Beschwerdeführerin erfolgte Vorschreibung eines Kostenbeitrages ab 1. Jänner 1983 die Bestimmung des § 20 Abs. 1 lit. c des Tiroler Rehabilitationsgesetzes (TRG) herangezogen. Die Beschwerdeführerin erachtet sich in dem ihr "gemäß § 35 des Tiroler Rehabilitationsgesetzes zustehenden Recht, daß Sachverhalte, die in die Zeit vor dem 1.1.1984 zurückreichen, nicht nach diesem Gesetz beurteilt und entschieden werden dürfen", verletzt. In diesem Sinne macht sie geltend, daß das Tiroler Rehabilitationsgesetz erst mit 1. Jänner 1984 in Kraft getreten sei und mit Rücksicht darauf, daß dieses Gesetz "nicht mit rückwirkender Kraft ausgestattet" sei, "sich daher die Rechtsfolgen, die einen Sachverhalt aus der Zeit vor dem 1.1.1984 anknüpfen oder auf sie einwirken, nicht nach dem Tiroler Rehabilitationsgesetz, sondern nach dem Behinderten- und Pflegebeihilfengesetz, LGBl. Nr. 12/1965, in der zuletzt geltenden Fassung bestimmen". Dieser Rechtsauffassung ist die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift unter Hinweis auf den Wortlaut des ersten Satzes des § 35 Abs. 1 des Tiroler Rehabilitationsgesetzes, welcher "nicht mehr als den zusätzlichen Befehl für die Vollziehung enthält, ab dem genannten Zeitpunkt nur noch auf Grund dieses Gesetzes zu entscheiden, welcher Verpflichtung die belangte Behörde nachgekommen ist", entgegengetreten.
§ 35 Abs. 1 des Tiroler Rehabilitationsgesetzes lautet:
"Dieses Gesetz tritt mit 1. Jänner 1984 in Kraft. Gleichzeitig treten das Tiroler Behinderten- und Pflegebeihilfengesetz, LGBl. Nr. 12/1965, in der Fassung der Gesetze LGBl. Nr. 5/1967, 64/1976 und 34/1981 sowie die Tiroler Pflegeordnung, LGBl. Nr. 40/1953, außer Kraft."
Im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 4. Mai 1977, Slg. Nr. 9315/A, hielt der Verwaltungsgerichtshof im Hinblick auf die Relativität der Unterscheidung zwischen konstitutiven und deklarativen Bescheiden die bis dahin vertretene Rechtsanschauung, im Zusammenhang mit der Frage der zeitlichen Anwendbarkeit von Rechtsnormen sei bei konstitutiven Bescheiden die Rechtslage im Zeitpunkt der Erlassung des letztinstanzlichen Bescheides und bei deklarativen Bescheiden die Rechtslage im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Bescheides maßgebend, in dieser allgemeinen Form nicht mehr aufrecht. Der Gerichtshof kam vielmehr zur Anschauung, daß im allgemeinen die Rechtsmittelbehörde das im Zeitpunkt der Erlassung ihres Bescheides geltende Recht anzuwenden hat. Eine andere Betrachtungsweise wird dann geboten sein, wenn etwa der Gesetzgeber in einer Übergangsbestimmung zum Ausdruck bringt, daß "auf anhängige Verfahren noch das bisher geltende Gesetz anzuwenden ist". Weiters wird eine andere Betrachtungsweise auch dann Platz zu greifen haben, wenn darüber abzusprechen ist, was an einem bestimmten Stichtag oder in einem konkreten Zeitraum rechtens gewesen sei. Nur dann, wenn die Auslegung der Verwaltungsvorschriften ergibt, daß eine vor der Erlassung des Berufungsbescheides bestandene Rechtslage von Bedeutung sei, kommt es nicht auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Erlassung des Berufungsbescheides an.
Diese Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof insbesondere auch seinem Erkenntnis (eines verstärkten Senates) vom 28. November 1983, Slg. Nr. 11237/A, zugrunde gelegt. In diesem Sinne hat der Verwaltungsgerichtshof auch schon mit Erkenntnis vom 22. Februar 1983, Zl. 2753/79 (auf welches unter Erinnerung an Art. 14 Abs. 4 seiner Geschäftsordnung, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen wird), dargelegt, daß für die Beurteilung der in diesem Beschwerdefall maßgebenden Vorfrage, ob die (damalige) Beschwerdeführerin "im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht" gemäß § 9 Abs. 1 des Tiroler Sozialhilfegesetzes, LGBl. Nr. 105/1973, zum Ersatz der ihrer Mutter in einem bestimmten Zeitraum gewährten Sozialhilfeleistungen verpflichtet gewesen sei, nicht die im Zeitpunkt der Erlassung des Berufungsbescheides, sondern die im genannten Zeitraum geltenden unterhaltsrechtlichen Bestimmungen, die die Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber Eltern regeln, anzuwenden seien. Denn aus der Anknüpfung der öffentlichrechtlichen Ersatzpflicht an die privatrechtliche Unterhaltsverpflichtung des Ersatzpflichtigen gegenüber dem Leistungsempfänger sei abzuleiten, daß es bei der Beurteilung dieser die öffentlich-rechtliche Ersatzpflicht dem Grund und der Höhe nach begrenzenden privatrechtlichen Unterhaltsverpflichtung des Ersatzpflichtigen gegenüber dem Leistungsempfänger sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht nicht auf den (zufälligen) Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides letzter Instanz, sondern die jeweiligen Zeiträume, für die öffentlichrechtliche Leistungen gewährt wurden, ankomme. Diese Grundsätze gelten aber bei Beurteilung der Frage, welche Rechtslage heranzuziehen ist, nicht nur in Ansehung der Erlassung von Berufungsbescheiden, sondern der Erlassung eines jeden Bescheides und daher unabhängig davon, in welcher Instanz der Bescheid erlassen wird, zumal diesbezüglich kein rechtlich relevanter Grund für eine Differenzierung besteht. Es ist daher insofern ohne Belang, daß im Beschwerdefall die belangte Behörde nicht als Berufungsbehörde entschieden, sondern den angefochtenen Bescheid (gemäß § 25 Abs. 1 TRG) in erster (und letzter) Instanz erlassen hat.
Nach § 33 Abs. 1 erster Satz des Tiroler Behinderten- und Pflegebeihilfengesetzes, LGBl. Nr. 12/1965, in der Fassung der Novelle LGBl. Nr. 64/1976, haben der Behinderte sowie die für ihn Unterhaltspflichtigen zu den Kosten bestimmter Rehabilitationsmaßnahmen, zu denen auch die Beschäftigungstherapie (§ 5 Abs. 1 lit. c) zählt, entsprechend ihrer finanziellen Leistungskraft, jedoch unter der weiteren Voraussetzung, daß ihr Gesamteinkommen einen bestimmten Betrag überschreitet, beizutragen. Gemäß § 20 Abs. 1 TRG hat der Behinderte entsprechend seinen wirtschaftlichen Verhältnissen bzw. haben die gesetzlich unterhaltspflichtigen Personen im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht dem Land zu den Kosten u.a. (lit. c) auch der Beschäftigungs- und Arbeitstherapie (Ergotherapie) einen Beitrag zu leisten. Beiden (in ihrer zeitlichen Geltung aufeinanderfolgenden) Bestimmungen ist gemeinsam, daß bei Vorliegen näher genannter Voraussetzungen vom Behinderten selbst oder von dritter Seite ein Beitrag zu den Kosten von Rehabilitationsmaßnahmen zu leisten ist. Werden Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt, so sind diese mit Kosten verbunden, die grundsätzlich das Land zu tragen hat; eine Ausnahme stellt die Deckung durch Kostenbeiträge dar (siehe § 34 des Tiroler Behinderten- und Pflegebeihilfengesetzes in der vorhin genannten Fassung bzw. § 26 TRG). Diese Kosten entstehen, unabhängig davon, wann und von wem sie letzten Endes zu tragen sind, mit der Erbringung der öffentlich-rechtlichen Leistung im Rahmen der getroffenen Maßnahme und sind dadurch auch spätestens dann betraglich fixiert oder zumindest einer ziffernmäßigen Feststellung zugänglich.
Der Verwaltungsgerichtshof schließt nunmehr - entgegen seiner im Beschluß vom 10. Mai 1985 vertretenen vorläufigen Rechtsansicht zu § 20 TRG, der die Beschwerdeführerin in ihrer Äußerung vom 24. Juli 1985 beigetreten ist -, nicht aus, daß ein Kostenbeitrag, sei es nach dieser Gesetzesstelle oder nach § 33 des Tiroler Behinderten- und Rehabilitationsgesetzes, auch nachträglich gefordert werden kann. Der Ausdruck "Kostenbeitrag" sagt an sich noch nichts Gegenteiliges aus, und das TRG kennt auch keine eigene Regelung über den Kostenersatz. Wie die belangte Behörde in ihrer Äußerung vom 10. Juli 1985 zutreffend bemerkt hat, enthält der § 20 Abs. 2 TRG, wonach eine Rehabilitationsmaßnahme in dem Fall, daß das Ausmaß des Kostenbeitrages deren Kosten erreichen würde, nicht gewährt werden darf, "keine Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob ein Kostenbeitrag aufzuerlegen ist, sondern lediglich zur Beurteilung der Frage, ob eine Rehabilitationsmaßnahme zu gewähren ist". Der Umstand, daß demnach eine Rehabilitationsmaßnahme in einem bestimmten Fall gar nicht hätte gewährt werden dürfen, hindert daher die Auferlegung eines Beitrages zu den dadurch entstandenen Kosten jedenfalls gegenüber dem Empfänger der Leistung nicht. Auch § 20 Abs. 3 TRG, wonach von der Einhebung eines Kostenbeitrages insoweit abgesehen werden kann, als dessen Einhebung den Erfolg der Rehabilitationsmaßnahme gefährden oder dem Ziel der Rehabilitationsmaßnahme widersprechen würde, steht - ebenso wie § 33 Abs. 2 des Tiroler Behinderten- und Pflegebeihilfengesetzes, wonach in sozialen Härtefällen von der Einhebung eines Kostenbeitrages abgesehen werden kann; insbesondere dann, wenn durch die Einhebung der Erfolg der Maßnahmen in Frage gestellt wäre - dem nicht entgegen, weil auch im Falle der nachträglichen Vorschreibung eines Kostenbeitrages die betreffende Rehabilitationsmaßnahme noch nicht endgültig abgeschlossen sein muß, sondern sich die Kostenvorschreibung auch nur auf einen Teil der Maßnahme, der bereits durchgeführt wurde, beziehen kann.
Wird ein Kostenbeitrag in bezug auf einen Zeitraum, in dem bereits Maßnahmen durchgeführt worden sind, auferlegt, so kann aber hinsichtlich der anzuwendenden Rechtslage nicht entscheidend sein, zu welchem Zeitpunkt die Behörde einen Kostenersatzbescheid erläßt, und darf daher die Person, die einen Kostenbeitrag zu leisten hat, nicht dadurch in ihrer Rechtsstellung anders (besser oder auch schlechter) gestellt sein, daß ein solcher Bescheid nicht schon zu einem früher möglichen Zeitpunkt ergangen ist. Dieser Zeitpunkt kann sich aber nur an dem Zeitraum, in dem die zugrundeliegenden Maßnahmen durchgeführt wurden und hiefür tatsächlich Kosten entstanden sind, orientieren.
Die Beschwerdeführerin ist daher mit ihrer Auffassung im Recht, daß die belangte Behörde hinsichtlich der Auferlegung eines Kostenbeitrages für die Zeit vom 1. Jänner 1983 bis 31. Dezember 1983 nicht das TRG, sondern vielmehr das in diesem Zeitraum noch geltende Tiroler Behinderten- und Pflegebeihilfengesetz anzuwenden gehabt hätte. Die belangte Behörde hätte zu prüfen gehabt, ob, bezogen auf den genannten Zeitraum, die Voraussetzungen für die Auferlegung eines Kostenbeitrages an die Beschwerdeführerin nach § 33 dieses Gesetzes, in der damals geltenden Fassung, gegeben waren.
Da die belangte Behörde dies auf Grund unrichtiger Rechtsauffassung unterlassen hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet, sodaß er im Umfang seiner Anfechtung gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.
Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich im Hinblick auf die vorliegende Behinderung der Beschwerdeführerin ergänzend noch zu dem Hinweis veranlaßt, daß es im fortgesetzten Verfahren überdies Aufgabe der belangten Behörde sein wird, im Zusammenhang mit der Vertretung der Beschwerdeführerin zu prüfen, ob diese tatsächlich im Sinne des § 9 AVG 1950 handlungsfähig ist.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985.
Wien, am 18. September 1985
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)