BVwG W280 2253141-1

BVwGW280 2253141-11.3.2023

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W280.2253141.1.00

 

Spruch:

 

W280 2253141-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Wolfgang BONT über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX .1997 (alias XXXX .2023), StA. Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2022, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.02.2023 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 AsylG als unbegründet abgewiesen.

 

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

 

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Syriens, reiste schlepperunterstützt über mehrere Länder nach Österreich, wo er am XXXX .01.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am nächsten Tag erfolgte die Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes.

Zum Fluchtgrund befragt, führte der BF an, dass er in der Stadt Idlib gewohnt habe. Die Wohnung sei im Jahr 2017 durch den Krieg zerstört worden. Bei dem Bombenangriff sei er an der Brust und am linken Oberschenkel verletzt und dann im Spital behandelt worden. Danach sei er mit seiner Familie in ein Flüchtlingslager an der syrisch türkischen Grenze geflüchtet, wo er bis zum Juni 2019 gelebt habe. Da das Leben in diesem Lager sehr schlecht gewesen sei, sei er sodann mit seiner Familie in die Türkei geflohen. Seine Frau und seine beiden Söhne würden noch in Antakia (auch Antakya) in einer Wohnung leben. Er sei nach Österreich weitergereist, da er noch eine Behandlung seiner Verletzung benötige. Außerdem wolle er mit seiner Frau und seinen Kindern hier eine Zukunft aufbauen. Weitere Flucht- und Asylgründe habe er nicht.

Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor der syrischen Regierung und vor dem Krieg.

Zu seinen persönlichen Umständen befragt, erklärte der BF, dass er, der Volksgruppe der Araber und der Religionsgemeinschaft der Sunniten angehöre, neun Jahre die Grundschule besucht habe und vor seiner Ausreise als Koch tätig gewesen sei.

2. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme am 25.03.2021 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA oder belangte Behörde) legte der BF Ablichtungen mehrerer Bescheinigungen und Dokumente, die er von seiner in der Türkei lebenden Frau via WhatsApp bekommen habe, vor und gab zusammengefasst an, dass er im Februar 2019 Syrien nach der Türkei verlassen habe. Nach Österreich sei er gezielt gereist, da er hier einen Cousin habe, der ihm helfe. Syrien habe er deshalb verlassen, da er von beiden Seiten her zum Militär gehen hätte müssen, da dort Krieg herrsche. Auch habe er einen schriftlichen Einberufungsbefehl erhalten, der jedoch bei dem Bombenangriff auf das Haus der Familie zerstört worden sei. Wenn er nach Syrien zurückkehren würde, so würde er dort ins Gefängnis gesteckt werden und drohe ihm dort die Todesstrafe. Über Vorhalt, dass ein Teil der Familie noch immer in Syrien lebe gab der BF an, dass die finanzielle Lage seiner Brüder besser sei. Auch sei er verletzt.

3. Mit Bescheid des BFA vom XXXX .02.2022, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF vom XXXX .01.2021 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF keinerlei individuelle Verfolgungssituation durch bzw. in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen habe können. So sei auch in Europa bis in die 1080er Jahre die Ableistung des Wehrdienstes ohne die Möglichkeit eines Ersatzdienstes die Norm gewesen und gebe es diese Situation noch heute in vielen arabischen und afrikanischen Ländern. Gerade im Fall des BF, der eine Matura abgelegt habe, sei es im Falle der Einziehung zum Wehrdienst sehr wahrscheinlich im rückwärtigen Unterstützungs-, Verwaltungs- und Versorgungsbereich eingesetzt zu werden und laufe – insbesondere auch unter Verweis auf den drastischen Rückgang an Kampfhandlungen und Militäroperationen in Syrien seit März 2020 – der BF nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit Gefahr tatsächlich in Kampfhandlungen verwickelt zu werden.

Auch drohe dem BF wegen seines bislang nicht erfolgten Wehrdienstantrittes mit hoher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen einer damit einhergehenden oppositionellen Gesinnung. Auch habe der BF von sich aus kein Vorbringen erstattet, wonach er in Syrien regimekritisch und oppositionell in Erscheinung getreten sei.

Aufgrund der hohen Gefährdung durch Minen sowie der allgemein schlechten Sicherheitslage in Verbindung mit Versorgungsschwierigkeiten für die Zivilbevölkerung bestehe für diesen jedoch eine ernsthafte Gefährdung im Sinne der EMRK.

4. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit einem umfangreichen Beschwerdeschriftsatz fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. und führte unter mehrfacher modifizierter Wiederholung des Kerns der vorgebrachten Argumente – auf das Wesentliche zusammengefasst - aus, dass für den BF bei einer Rückkehr das reale Risiko bestehe zur Ableistung des Militärdienstes und dabei zur Begehung von völkerrechtswidrigen Handlungen gezwungen zu werden oder wegen seiner bisherigen Verweigerung den Wehrdienst zu leisten, strafgerichtlich verfolgt und seiner Freiheit beraubt zu werden. Weil ihm aufgrund dieser Verweigerung zudem eine in Opposition zum Regime stehende politische Gesinnung unterstellt werden könnte, drohe ihm auch außergerichtliche Bestrafung, Folter oder außergerichtliche Tötung durch Machthaber des syrischen Regimes, die regelmäßig derart mit Oppositionellen umgehen würden. Zudem Laufe der BF Gefahr von mehreren Seiten zwangsrekrutiert zu werden. Des Weiteren habe sich die belangte Behörde auf unvollständige Länderberichte gestützt und habe nicht berücksichtigt, dass bereits Rückkehrer, die in anderen Ländern erfolglos Asyl beantragt hätten, in Syrien deshalb verfolgt worden seien.

Neben der Behebung des angefochtenen Spruchpunktes I. und Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wurde auch die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt, in eventu die Behebung des angefochtenen Bescheides hinsichtlich des ersten Spruchpunktes und die Zurückverweisung der Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA.

5. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 27.02.2023 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch im Beisein des BF und seines Rechtsberaters eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

In dieser Verhandlung wurde der BF ausführlich zu den Gründen für die Stellung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz, den Beschwerdegründen und zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt. Ebenso wurde dem BF die Gelegenheit geboten in Bezug auf die dem BF im Vorfeld der mündlichen Verhandlung übermittelten aktuellen Länderberichte zu Syrien und die in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebrachte Anfragebeantwortung zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung Stellung zu nehmen und seine konkrete Situation, bzw. die von ihm angenommenen Befürchtungen im Falle einer allfälligen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat, bzw. seine Herkunftsregion darzulegen.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF und zu dessen Fluchtvorbringen:

Der BF ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der arabischen Volksgruppe an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft.

In Syrien hat der BF zumindest die siebente Klasse der Grundschule abgeschlossen.

Der BF ist traditionell verheiratet und hat mit seiner Frau zwei Söhne. Die Frau, die Kinder sowie seine restliche Familie, sohin sein Vater und seine Geschwister, sind derzeit in der türkischen Provinz Hatay, in der Stadt Antakia, als Geflüchtete aufhältig.

Der BF lebte bis 2012 in seinem südlich von Idlib gelegenen Geburtsort, der sich nicht in dem vom syrischen Regime kontrollierten Gebiet befindet, sondern in jenem, das von den Rebellenorganisationen und vom türkischen Militär kontrolliert wird. Nachdem es im Februar 2012 in dieser Ortschaft zu Kampfhandlungen gekommen war, hielt sich der BF sodann drei Monate in der Nähe der syrischen Ortschaft Maarat Alumman auf um von dort zur türkisch syrischen Grenze zu flüchten.

2014 ist der BF sodann in die Türkei ausgereist, um Ende 2016 auf Wunsch seines Vaters, der dort viele Grundstücke besaß und eine Hühneraufzucht betrieb - wiederum in sein Heimatdorf zurückzukehren. Vier Monate später kam es zu Bombardements durch das Regime, wobei auch das Haus der Familie des BF getroffen wurde. Dabei wurde der BF verletzt und konnte dieser folglich acht Monate nicht arbeiten.

Ungefähr im April 2019 verließ der BF mit seiner Frau, den Kindern und seinen Geschwistern sodann neuerlich seinen Heimatort. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im Flüchtlingslager Atmeh, welches sich auf syrischen Staatsgebiet befindet, reisten diese sodann im August 2019 in die Türkei aus. Sein Vater folgte zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt 2021 oder 2022 nach. Im Heimatort des BF hält sich derzeit lediglich eine Tante väterlicherseits auf.

Der BF stellte am XXXX .01.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Aufgrund dieses Antrages wurde ihm mit Bescheid vom XXXX .02.2022 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend. Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren.

Die verfahrensrelevante Herkunftsregion des BF ist ein Dorf südlich von Idlib im Gouvernement Idlib. Das Gouvernement Idlib befindet sich vollständig außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung. Die Herkunftsregion und der Herkunftsort des BF stehen sohin unter der Kontrolle oppositioneller Rebellengruppierungen und Milizen wie der HTS (Hayat Tahrir Al-Sham [ehemals Al-Nusra]), der Ahrar Al Sham, der Jaish al Islam bzw. der FSA.

Der BF hat das Vorliegen einer ihn unmittelbar persönlich konkret betreffenden Bedrohung durch eine Einberufung vor seiner Ausreise in seiner Herkunftsregion insgesamt nicht, jedenfalls nicht ausreichend glaubhaft, dargelegt. Dass es gegen den BF konkrete Verfolgungshandlungen gegen seine Person gegeben hat, bzw. dieser konkrete ihn unmittelbar betreffende asylrelevante Bedrohungen in seiner Herkunftsregion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hätte, hat dieser insgesamt nicht, jedenfalls nicht ausreichen konkret und glaubhaft, dargelegt.

Die syrische Regierung und das syrische Militär haben in Gebieten unter der Kontrolle dieser oppositionellen Gruppierungen stehen keinen direkten Zugriff auf Personen und verfügen nicht über Möglichkeiten Personen, die sich dort aufhalten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu rekrutieren.

Dem BF droht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seiner Herkunftsregion nicht die zwangsweise Rekrutierung durch eine andere Partei/durch einen anderen Akteur (etwa durch die HTS, die Freie Syrische Armee oder kurdische Milizen) und dieser läuft nicht Gefahr, von diesen asylrelevant unmittelbar und konkret persönlich verfolgt zu werden.

In Gebieten, die von Oppositionsgruppen gehalten werden, ist der Zwang und der soziale Druck, sich den Milizen anzuschließen, hoch. Zum Beispiel in Idlib, wo es zahlreiche Gruppen gibt, gibt es einen großen Druck, sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen. Auch kann die Bezahlung eine Motivation sein, einer Gruppe beizutreten.

Im Gegensatz zur Regierung und den SDF (Demokratische Kräfte Syriens) verhängen bewaffnete Oppositionsgruppen wie SNA (Syrische Nationalarmee) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) keine Wehrpflicht gegen Zivilisten in den von ihnen kontrollierten Gebieten.

Festgestellt wird, dass der BF nicht an regimekritischen Demonstrationen teilgenommen hat.

Dem BF droht aufgrund seiner illegalen Ausreise und der Asylantragstellung in Österreich keine Verfolgung im Sinne der GFK.

Er konnte nicht glaubhaft machen, dass ihm in seinem Herkunftsstaat aktuell Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, Staatsangehörigkeit oder politischen Gesinnung droht.

Der BF hat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seiner Herkunftsregion keine Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung durch die syrische Regierung zu befürchten.

Der BF ist nicht bedroht, von der syrischen Regierung als Oppositioneller/(politischer) Gegner angesehen zu werden.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die Feststellung der maßgeblichen Situation in Syrien basiert auf Auszügen der vom BVwG in das Verfahren eingeführten Länderinformation der BFA-Staatendokumentation zu Syrien aus dem COI-CMS, Version 8.

 

1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

 

Politische Lage

Letzte Änderung: 29.12.2022

Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 25.2.2019). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer anderer religiöser Minderheiten. In der Praxis hängt der politische Zugang nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten (FH 24.2.2022).

Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen ("Shabiha"). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016). Ein Ende der Kampfhandlungen in Syrien ist nicht in Sicht. Der Konflikt ist eingefroren, das Land ist geteilt. Dank russischer Unterstützung hat Machthaber Bashar al-Assad seine Macht wieder gefestigt, auch wenn seine Truppen nur einen Teil des Landes – die Rede ist von rund zwei Dritteln – kontrollieren (DF 16.11.2022).

Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba'ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba'ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige. Die syrische Verfassung stellt auch sicher, dass die Ba'ath-Partei die Mehrheit in allen Regierungsgremien und Vereinigungen der Bevölkerung, wie Arbeiter- und Frauenorganisationen, hat (USDOS 12.4.2022). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft in Frage stellen könnten (FH 24.2.2022). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch Verfassung und bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v. a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich. Durch diese Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich verringert worden (AA 29.11.2021).

Ausländische Akteure wie Iran, Russland und die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den vom Regime kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik häufig den von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen oder der Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) untergeordnet (FH 24.2.2022).

Zu den Machtverhältnissen in den Gebieten außerhalb der Regimekontrolle siehe die jeweiligen Abschnitte im Kapitel Sicherheitslage.

Wahlen

Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien zu "managen" und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren. Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden nach zweimaligem Verschieben des Wahltermins aufgrund der COVID-19-Pandemie die dritten Parlamentswahlen seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs statt. Vom Urnengang ausgeschlossen waren Syrer, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete im Nordwesten und Nordosten Syriens lebten (COAR 27.7.2020). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 % (BS 23.2.2022). Die herrschende Ba'ath-Partei von Präsident Bashar al-Assad gewann wie erwartet die Mehrheit. Die Ba'ath-Partei und deren Verbündete schlossen sich zum Bündnis der "Nationalen Einheit" zusammen (DS 21.7.2020) und erhielten 70 % der Parlamentssitze (Duclos 31.7.2020). Die übrigen Sitze gingen an Parteien, die mit der Ba'ath-Partei verbündet sind, und an nominell unabhängige Kandidaten mit Verbindungen zu Präsident Assad (COAR 27.7.2020).

Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020). Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt kein Al-Jumhuriya.net Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba'ath-Partei (AAN/MEI 24.7.2020). Somit ist die Reihung auf der Liste durch das Regime und die Nachrichtendienste wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen (BS 23.2.2022).

Im Mai 2021 wurden in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie in einigen syrischen Botschaften Präsidentschaftswahlen abgehalten, bei denen Bashar al-Assad mit 95,1 % (78 % Wahlbeteiligung, ÖB 1.10.2021) gewann und damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt wurde. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 % und 3,3 % der Stimmen (DS 28.5.2021; vgl. Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als "weder frei noch fair" und als "betrügerisch", und die Opposition nannte sie eine "Farce" (DS 28.5.2021).

Der politische Prozess gemäß UN-Sicherheitsratsresolution 2254 unter Ägide der Vereinten Nationen stagniert, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden Blockadehaltung des jegliche Zugeständnisse verweigernden Regimes (AA 29.11.2021). Am 22.11.2022 fand das 19. Treffen des sogenannten Astana-Formats zu Syrien statt. Es bietet ein Forum für die drei Garantenstaaten des syrischen Friedens - Russland, die Türkei und Iran - sowie für Delegierte der syrischen Regierung und Opposition, um sozioökonomische und humanitäre Fragen sowie Fragen des Staatsaufbaus zu erörtern (FB 22.11.2022). Bei dieser Gelegenheit bekräftigten die Länder ihr festes Engagement für die Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territoriale Integrität Syriens sowie die Notwendigkeit, den Kampf gegen den Terrorismus fortzusetzen (NA 23.11.2022).

Gebietskontrolle

Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden. Diese jüngste Phase der Deeskalation ist jedoch von Natur aus unbeständig und konnte vor allem dank des fragilen russisch-türkischen Bündnisses im Nordwesten Syriens und der vorübergehenden, aber immer noch andauernden US-Präsenz im Nordosten Syriens aufrechterhalten werden. Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (IPS 20.5.2022). Vor allem Teile des Nordens, Nordwestens und Nordostens Syriens befinden sich weiterhin außerhalb der Kontrolle der Regierung (OHCHR 28.6.2022). [ Anm.: Nähere Informationen finden sich im Kapitel "Sicherheitslage". ] 

Am Syrienkonflikt ist eine Vielzahl von Akteure beteiligt (IL 12.8.2022). Die Präsenz ausländischer Streitkräfte, die ihren politischen Willen geltend machen, untergräbt weiterhin die staatliche Souveränität, und Zusammenstöße zwischen bewaffneten regimefreundlichen Gruppen deuten darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die Akteure vor Ort zu kontrollieren (BS 29.4.2020). Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) sind nicht in der Lage, Gebiete von der Türkei zurückzuerobern. Die Amerikaner, Russen, Israelis und Iraner akzeptieren die derzeitige Pattsituation (MEI 26.4.2022). Darüber hinaus hat eine aufstrebende Klasse wohlhabender Kriegsprofiteure begonnen, ihren wirtschaftlichen Einfluss und den Einfluss von ihnen finanzierter Milizen zu nutzen, und innerhalb der staatlichen Strukturen nach legitimen Positionen zu streben (BS 29.4.2020). Das Regime hat zwei Lehren aus dem Konflikt gezogen: Widerspruch mit allen Mitteln niederzuschlagen und verschiedene Akteure gegeneinander auszuspielen, um an der Macht zu bleiben. Aber diese Taktik bringt nicht wirkliche Stabilität oder Sicherheit. Ein permanenter Kampf um ein Minimum an Kontrolle inmitten eines sich verschlechternden sozioökonomischen Umfelds, in dem seine Souveränität von internen und externen Akteuren infrage gestellt wird, ist die Folge (BS 23.2.2022).

Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) dominiert (MEI 26.4.2022). Die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen (BS 23.2.2022). - Für mehr Informationen siehe insbesondere Unterkapitel "Nordwest-Syrien" im Kapitel "Sicherheitslage".

Der Islamische Staat (IS) wurde im März 2019 aus seinem Gebiet in Syrien zurückgedrängt, nachdem kurdische Kräfte seine letzte Hochburg erobert hatten (FH 4.3.2020). Im Nordosten aber auch in anderen Teilen des Landes verlegt sich der IS verstärkt auf Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021).

Mittlerweile leben 66 % der Bevölkerung wieder in den von der Regierung kontrollierten Territorien (ÖB 1.10.2021). Mehr als zwei Drittel der im Land verbliebenen Bevölkerung leben in Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes. Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte HTS sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und ihr nahestehender bewaffneter Gruppierungen in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten SDF und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes. Auch in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter komplex, die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren (AA 29.11.2021).

Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022). Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).

In weiten Teilen des Landes besteht eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. Laut der COI gab es in Afrin und Ra's al-'Ayn zwischen Juli 2020 und Juni 2021 zahlreiche Sicherheitsvorfälle durch Sprengkörper und Sprengfallen (u.a. IEDs), die häufig an belebten Orten detonierten und bei denen mindestens 243 Zivilisten ums Leben kamen. Laut dem UN Humanitarian Needs Overview von 2020 sind in Syrien 11,5 Mio. Menschen der Gefahr durch Minen und Fundmunition ausgesetzt. 43 % der besiedelten Gebiete Syriens gelten als kontaminiert. Ca. 25 % der dokumentierten Opfer durch Minenexplosionen waren Kinder. UNMAS (United Nations Mine Action Service) hat insgesamt bislang mehr als 12.000 Opfer erfasst. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs, Dara‘a und Deir ez-Zor sowie zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor besonders stark betroffen. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Trotz eines "Memorandum of Understanding" zwischen der zuständigen UNMAS und Syrien behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und -Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.11.2021).

Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vgl. DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vgl. CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022; vgl WP 30.11.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vgl. BAMF 6.12.2022). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle, und Attentate (DIS 29.6.2020). Generell nimmt die Präsenz des IS in Syrien wieder zu, auch in Landesteilen unter Regimekontrolle. IS-Anschläge blieben im Jahr 2021 auf konstant hohem Niveau. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt weiterhin im Nordosten des Landes. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun. Es sind zudem Berichte über zunehmende Anschläge in Regimegebieten, insbesondere der zentralsyrischen Wüsten- und Bergregion, in Hama und Homs, bekannt geworden. Mehrere Tausend IS-Kämpfer sowie deren Angehörige befinden sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF. Der IS verfügt weiter über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien, bleibt damit als asymmetrischer Akteur präsent, baut Untergrundstrukturen aus und erreicht damit sogar erneut temporäre und punktuelle Gebietskontrolle (AA 29.11.2021). Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich 10 bis 15 Angriffe auf die Streitkräfte der Regierung von Syrien pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022).

Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).

Zum IS-Angriff vom 20.1.2022 in al-Hassakah siehe das Unterkapitel "Nordost-Syrien" im Kapitel "Sicherheitslage".

Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von "Massakern", bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vgl. SNHR 1.1.2021).

SNHR berichtet von 64 getöteten Zivilisten im November 2022, darunter 14 Kinder, zwei Frauen und sechs Personen, die an den Folgen von Folterungen starben. Dabei wurde festgestellt, dass das syrische Regime erneut Streumunition gegen Lager für Binnenvertriebene eingesetzt hat, was ein Kriegsverbrechen darstellt (SNHR 1.12.2022). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 1.1.2022): SNHR 1.1.2022

Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 - 2.12.2022 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern:

ACLED o.D.

Gouvernements

Vorfälle 2021

Todesopfer 2021

Vorfälle 2022 (bis 2.12.)

Todesopfer 2022 (bis 2.12.)

Deir ez Zor

469

1127

284

618

Daraa

375

649

431

643

Al Hasakeh

345

621

323

907

Aleppo

303

690

425

1017

Idlib

301

690

169

345

Raqqa

296

780

253

709

Hama

140

544

87

234

Homs

114

402

99

314

Rural Damascus

110

137

143

219

As Sweida

37

43

29

56

Quneitra

31

39

11

21

Lattakia

30

70

26

56

Damaskus

14

41

14

20

Tartous

4

8

3

5

Insg.

2569

5841

2297

5164

     

Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.11.2022 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).

Die folgende Aufstellung listet die konfliktrelevanten Vorfällen im Zeitraum April bis September 2022 mittels Vergleich zwischen dem zweiten und dem dritten Quartal 2022 auf: CC 3.11.2022

"Versöhnungsabkommen" (auch "Beilegungsabkommen")

Letzte Änderung: 29.12.2022

Die sogenannten "Versöhnungsabkommen" sind Vereinbarungen, die Einzelpersonen, Männern und Frauen, die in ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten leben, die von der syrischen Regierung während militärischer Operationen zurückerobert wurden, auferlegt werden (NMFA 6.2021; vgl. STDOK 8.2017). Der Abschluss der sogenannten „reconciliation agreements“ [in anderen Quellen auch als "settlement agreements" bezeichnet] folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat (ÖB 1.10.2021). Diese Versöhnungsabkommen sind de facto Kapitulationsvereinbarungen (NMFA 5.2022; vgl. SACD 8.11.2021, TIMEP 15.10.2021). Diese Vereinbarungen wurden meist dann unterzeichnet, wenn eine Pattsituation erreicht war, und es dem syrischen Regime nicht gelang, die militärische Macht zu übernehmen (SACD 8.11.2021; vgl. TIMEP 15.10.2021). Laut der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD), eine 2018 gegründete zivilgesellschaftliche Basisbewegung aus Syrien, gehörten zu den Taktiken bisher auch Belagerungen, bei denen das Regime die Menschen in diesen Gebieten nicht nur der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten beraubte, sondern sie auch mit Luftangriffen und Granaten beschoss, die Infrastruktur zerstörte und Zivilisten tötete, um das Gebiet schließlich zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines Versöhnungsabkommens zu zwingen (SACD 8.11.2021). Die Regierung hat vor allem Mitglieder der bewaffneten Opposition und bestimmte Gruppen von Zivilisten gezwungen, diese Gebiete zu verlassen oder den Versöhnungsprozess als Bedingung für ihren Verbleib zu durchlaufen (NMFA 5.2022). Im letzteren Fall wird die Person aufgefordert, sich beim Sicherheitsdienst oder dem Sicherheitskomitee in dem Gebiet zu melden. Die Person wird dann festgenommen, befragt und gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie sich verpflichtet, den Sicherheitsdienst über jegliche Aktivitäten der Opposition in dem Gebiet, in dem sie oder er lebt, zu informieren. Männer, die sich dem Militärdienst entziehen wollen, werden nach Feststellung ihres Status an Militäreinheiten übergeben. Es gibt Quellen, die berichten, dass diejenigen, die freigelassen werden, ein Dokument erhalten. Versöhnungsprozesse scheinen auf Ad-hoc-Basis durchgeführt zu werden, was bedeutet, dass Unterschiede auftreten und keine eindeutige Beschreibung des Prozesses gegeben werden kann (NMFA 5.2022). In vielen Fällen, meist kurz nach der Klärung ihres Status, werden diese Menschen wieder verhaftet, gefoltert und verschwinden gelassen (NMFA 6.2021; vgl. ÖB 1.10.2021).

Die von der Regierung angebotenen Versöhnungsabkommen sind an verschiedene Bedingungen geknüpft (STDOK 8.2017; vgl. ÖB 1.10.2021). Die Bedingungen dieser Abkommen unterscheiden sich von Fall zu Fall (STDOK 8.2017). Sie beinhalteten oft die Ausweisung von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden. Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB 1.10.2021). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden (STDOK 8.2017). Im Rahmen von Versöhnungsabkommen gemachte Garantien der Regierung gegenüber Individuen oder Gemeinschaften werden jedoch nicht eingehalten (EIP 7.2019; vgl. BS 23.2.2022). Die syrischen Behörden haben Einzelpersonen verhaftet, nachdem ihnen die Freilassung zugesichert wurde, und Vereinbarungen über die Freistellung von der Wehrpflicht und über den Dienstort neuer Wehrpflichtiger gebrochen (BS 23.2.2022).

Zuletzt wurde nach Ablauf einer in den sog. Versöhnungsabkommen ausgehandelten einjährigen Frist auch aus den ehemaligen Oppositionshochburgen Ost-Ghouta sowie Dara'a und Quneitra im Süden Syriens ein erneuter Anstieg von Verhaftungen als oppositionell geltender Personen oder humanitärer Helfer sowie Zwangsrekrutierungen berichtet. Während ein Versöhnungsabkommen in einer Region geachtet wird, kann dies bei Überquerung eines Checkpoints bereits missachtet werden, und es kann zu willkürlichen Verhaftungen kommen (AA 4.12.2020). In neuen Versöhnungsabkommen im Süden Syriens erzwang das Regime die Vertreibung von Zivilisten - ohne Beweise für ihre Beteiligung an den Feindseligkeiten - allein aufgrund ihrer öffentlichen Opposition gegen das Regime oder der Weigerung ehemaliger Oppositionskämpfer, sich den Reihen der Regimetruppen anzuschließen. Die erzwungene Vertreibung in Syrien hat erhebliche Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, da Familien auseinandergerissen werden und die Zivilbevölkerung gezwungen ist, in Vertriebenenlagern zu leben, in denen es an grundlegenden Dingen fehlt (TIMEP 15.10.2021). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien zurückhaltend, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 12.4.2022).

Soweit bekannt, gibt es auch individuelle Versöhnungsabkommen für Syrer, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren wollen, bzw. für Vertriebene, die in ein Gebiet unter der Kontrolle der Behörden zurückkehren. Der Abschluss eines individuellen Versöhnungsabkommens ist auch hier kein genau definiertes Verfahren und kann von Person zu Person und von Botschaft zu Botschaft variieren; in der Regel beinhaltet es jedoch die Unterzeichnung eines Dokuments in einer Botschaft, in dem die Person ihre "Straftat" zugibt. Versöhnungsabkommen bieten allerdings keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen (NMFA 5.2022; vgl. HRW 13.1.2022). In den letzten Jahren wurden zahlreiche Fälle von Verhaftungen und anderen Verstößen gegen die Abkommen durch die syrischen Behörden dokumentiert (NMFA 5.2022). Die syrischen Behörden und regierungsnahe Milizen verhaften und misshandeln weiterhin willkürlich Menschen, oder lassen sie verschwinden, darunter auch Personen, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben (HRW 13.1.2022; vgl. TIMEP 15.10.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt ,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf , Zugriff 18.8.2020

 BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Syria Country Report 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf , Zugriff 30.11.2022

 EIP - European Insititute of Peace (7.2019): Refugee Return in Syria: Dangers, Security Risks and Information Scarcity, https://www.eip.org/wp-content/uploads/2020/06/EIP-Report-Security-and-Refugee-Return-in-Syria-July.pdf , Zugriff 30.11.2022

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066477.html , Zugriff 30.11.2022

 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf , Zugriff 30.11.2022

 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf , Zugriff 30.11.2022

 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html , Zugriff 13.1.2022

 SACD - Syrian Association for Citizen's Dignit (SACD) (8.11.2021): Did Daraa mark the end of reconciliation agreements in Syria?, https://syacd.org/did-daraa-mark-the-end-of-reconciliation-agreements-in-syria/ , Zugriff 30.11.2022

 STDOK - Staatendokumentation of the BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Bericht Syrien – mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf , Zugriff 24.7.2020

 TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (15.10.2021): Daraa: Another Example of the Regime’s Failure of Reconciliation, https://timep.org/commentary/analysis/daraa-another-example-of-the-regimes-failure-of-reconciliation/ , Zugriff 30.11.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 30.11.2022

Nordwest-Syrien

Letzte Änderung: 29.12.2022

Auf diesem Kartenausschnitt sind die Machtverhältnisse in Nordwest-Syrien eingezeichnet:

Während die Assad-Regierung die Kontrolle über etwa 70 % Syriens wiedererlangt oder aufrechterhalten hat, stellt die nordwestliche Region, insbesondere das Gouvernement Idlib, ein bedeutendes Widerstandsgebiet der Rebellen dar (USCIRF 11.2022). In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befindet sich die letzte verbleibende Hochburg der Opposition. Die Region wird von der dschihadistischen Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) beherrscht, beherbergt aber auch etablierte Rebellengruppen (BBC 15.3.2022). Während die syrische Regierung die gesamte Provinz zurückerobern will, versucht Ankara zu verhindern, dass Idlib an Damaskus fällt, und daraufhin noch mehr Syrer in die Türkei flüchten (ORF 14.3.2021). Die Türkei hat die HTS als terroristische Organisation eingestuft, doch hat sie die Rebellengruppe in den letzten Jahren nicht aktiv daran gehindert, die Verwaltungsmacht in Idlib zu übernehmen (USCIRF 11.2022). Idlib ist bereits seit den Anfängen des Konfliktes eine Oppositionshochburg. Im März 2015 übernahmen oppositionelle Gruppierungen die Kontrolle über die Provinz (CRS 2.1.2019). Im Mai 2017 wurden durch eine Vereinbarung in Astana (Kasachstan) zwischen Russland und Iran (als Verbündete des syrischen Regimes) einerseits, und der Türkei (als Unterstützer der Rebellen) andererseits, vier Deeskalationszonen eingerichtet, die unter anderem ganz Idlib sowie auch Teile der Provinzen Lattakia, Aleppo und Hama umfassten. Einheiten der syrischen Regierung führen jedoch trotz dieser Vereinbarung militärische Operationen in diesem Gebiet durch und eroberten bis Mitte 2018 etwa die Hälfte der Deeskalationszone im Nordwesten zurück (CRS 2.1.2019; vgl. KAS 6.2020). Im März 2020 wurde ein Waffenstillstand zwischen Russland und der Türkei geschlossen, der eine von Russland unterstützte Offensive der Regierung auf die Provinz Idlib beendete. Der Waffenstillstand wurde in den letzten zwei Jahren wiederholt verletzt, wobei zahlreiche Menschen getötet und verletzt wurden (VOA 6.11.2022).

Die folgende Karte zeigt die Vorfälle sowie die Intensität der Kampfhandlungen im Norden Syriens von Januar bis Juni 2022:

Hier sind die sicherheitsrelevanten Vorfälle des 3. Quartals 2022 auf einer Karte des Carter Center verortet:

CC 3.11.2022 (Daten vom Carter Center und ACLED)

Aus dem Nordwesten Syriens wurde eine deutliche Zunahme der konfliktbezogenen Aktivitäten gemeldet: Die Streitkräfte der Regierung setzten verstärkt Artilleriebeschuss ein. Im 3. Quartal 2022 verzeichnete ACLED 1.412 Konfliktfälle zwischen den Streitkräften der Regierung und ihren Verbündeten und den bewaffneten Oppositionsgruppen. Dies ist ein deutlicher Anstieg (+225 %) gegenüber den 434 Konflikten, die im zweiten Quartal verzeichnet wurden. Die Streitkräfte der syrischen Regierung waren an insgesamt 708 von 1.265 Beschussereignissen beteiligt. Trotz dieses massiven Anstiegs gibt es kaum Anzeichen dafür, dass sich die zugrunde liegende Dynamik zwischen der Regierung und der Opposition verändert hat. Der Beschuss scheint vielmehr der Grund für das Ausbleiben militärischer Aktionen zu sein und die Gegner an den Fronten zu zermürben (CC 3.11.2022).

Die Gebiete im Norden um die Städte Afrin und Jarabulus im Norden des Gouvernements Aleppo stehen weiterhin unter der Kontrolle der Türkei und Türkei-naher Milizen, darunter die Syrische Nationalarmee (SNA, vormals „Freie Syrische Armee“). Dort kommt es nach wie vor vereinzelt zu Kampfhandlungen zwischen Türkei-nahen Milizen und der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG (Yekîneyên Parastina Gel) sowie zu asymmetrischen Auseinandersetzungen, darunter zuletzt auch zahlreiche Anschläge mit hohen zivilen Opferzahlen (AA 29.11.2021). Mit Stand Dezember 2022 kontrollierten HTS und andere regierungsfeindliche Gruppen den Nordwesten des Gouvernorats Idlib, während das Regime die Regionen im Süden des Gouvernorats kontrollierte, inklusive der M5-Autobahn (Liveuamap 6.12.2022). Im Oktober 2022 hat die HTS ihre Kämpfer aus Idlib in den Bezirk Afrin entsandt und ist in den Norden vorgedrungen. Die von der HTS eroberten Gebiete standen unter der Kontrolle der syrischen Übergangsregierung (SIG) und ihrer bewaffneten Kräfte, der SNA. Dies war der erste größere Gebietsaustausch zwischen den Kriegsparteien seit zwei Jahren (Forbes 22.10.2022). Bis Ende Oktober 2022 kontrollierte die HTS den größten Teil der nördlichen syrischen Provinz Idlib und verlegte die meisten ihrer Kämpfer nach Afrin und in umliegende Gebiete. Die türkische Regierung, die als Folge der Eroberung ebenfalls mit der Verlegung von Truppen in die Umgebung begann, berichtete jüngst, dass die HTS den Großteil ihrer Streitkräfte wieder aus Afrin abgezogen hat. Seit 2018, als die türkischen Streitkräfte in den kurdischen Kanton Afrin einmarschierten, werden die Stadt und ihre Umgebung von der Türkei in Zusammenarbeit mit der SNA kontrolliert (Atalayar 6.11.2022). HTS geht aktuell gegen den Islamischen Staat (IS) und al-Qaida vor und reguliert nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versucht so dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und darüber hinaus, um ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung zu signalisieren (COAR 28.2.2022). Es wurde allerdings von weiteren Spaltungen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen berichtet (AM 22.12.2021).

Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren, und beschlossen, sich anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front anzuschließen, heute als Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) bekannt. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichen derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Laut Schätzungen befinden sich mit Stand April 2020 insgesamt etwa 70.000 oppositionelle Kämpfer in Idlib. Auch al-Qaida und der IS sollen dort Netzwerke unterhalten (KAS 4.2020). Unter den Kämpfern befinden sich auch zahlreiche ausländische Kämpfer (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (10.2021) und viele Kämpfer aus anderen Gebieten Syriens, wie Ost-Ghouta und Dara'a, die nach der Eroberung durch das Regime nach Idlib flohen (KAS 6.2020).

Im Februar 2019 kam es zu Luftangriffen der syrischen Regierung im Großraum Idlib (ISW 7.3.2019) und im März 2019 wieder zu russischen Luftangriffen auf die Provinz (DS 14.3.2019). Im Mai 2019 weiteten die russische Luftwaffe und syrische Regierungstruppen ihre Boden- und Luftangriffe auf Idlib und Nord-Hama massiv aus (DS 8.5.2019). Im Dezember 2019 intensivierten das Regime und seine Unterstützer die Militäroffensive deutlich. Luftangriffe auf zivile Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Flüchtlingslager führten laut den Vereinten Nationen zur größten humanitären Katastrophe im Verlauf des Syrien-Konflikts (AA 29.11.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). Die 2019 begonnene Luft- und Bodenoffensiven zur Rückeroberung des Gouvernements Idlib und anderer Gebiete im Nordwesten des Landes wurde während des Jahres 2021 fortgeführt, wobei Zivilisten getötet und mehr als 11.000 Menschen zusätzlich vertrieben wurden (USDOS 12.4.2022).

Im Februar 2020 begann die Türkei die sogenannte Militäroperation "Spring Shield" mit Vergeltungsschlägen gegen das syrische Regime. Anfang März 2020 vereinbarten Russland und die Türkei dann ein zeitlich unbegrenztes Zusatzprotokoll zu dem in Kraft bleibenden Abkommen über die Deeskalationszone Idlib von 2018, das unter anderem eine Waffenruhe in Idlib, die Einrichtung eines Sicherheitskorridors nördlich und südlich der Fernstraße M4 sowie russisch-türkische Patrouillen vorsieht (AA 19.5.2020). Es kommt fast täglich zu Verstößen gegen die Waffenruhe. Beschuss, Luftangriffe und Bombardierungen führen zu Toten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung sowie zu Schäden an wichtigen zivilen Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäusern und Wasserstellen. Unsicherheit und Gewalt als Folge des Konflikts sind nach wie vor weit verbreitet, ebenso wie ein hohes Maß an Kriminalität und fehlende Rechtsstaatlichkeit (GPC/UNHCR 24.6.2022). Der Konflikt führte zu massiven humanitären Verwerfungen mit 2,7 Mio. Binnenvertriebenen (ÖB 1.10.2021). Mehr als eine Million Menschen wurden alleine zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 vertrieben (UNOCHA 17.2.2020; vgl. OHCHR 18.2.2020). Entlang der M4 und M5 Autobahnen kam es u.a zu täglichem Beschuss, periodischen Luftangriffen und internen Machtkämpfen zwischen nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen. Der Beschuss betraf den Süden Idlibs. Luftangriffe erfolgten in von Zivilisten bewohnten Regionen in Nord-Idlib (UNOCHA 26.2.2021, 26.1.2021, 6.3.2021).

Einem Untersuchungsbericht zu Vorgängen im ersten Halbjahr 2020 zufolge hat die Syrian National Army (SNA) in Afrin und Umgebung möglicherweise Kriegsverbrechen, wie Geiselnahme, grausame Behandlung, Folter und Vergewaltigung begangen. In der gleichen Region wurden zahlreiche Zivilisten durch große improvisierte Sprengsätze sowie bei Granaten- und Raketenangriffen getötet und verstümmelt. Plünderungen und die Aneignung von Privatland durch die SNA waren weit verbreitet, insbesondere in den kurdischen Gebieten (UNHRC 15.9.2020).

Ein nach einer neuerlichen Eskalation Ende Februar/Anfang März 2021 zwischen den Präsidenten Erdogan und Putin vereinbarter Waffenstillstand sorgte für eine Deeskalation. Es kommt aber immer wieder zu lokal begrenzten militärischen Gefechten zwischen den erwähnten Konfliktparteien (ÖB 1.10.2021). Im Juli 2021 erlebten die Orte in Nordwest-Syrien und in den Gebieten Ra's al-'Ayn and Tell Abyad die größte Eskalation seit Beginn des Waffenstillstands im März 2020. Durch Beschuss wurden im Juli 2021 mindestens 42 Zivilisten, davon sieben Frauen und 27 Kinder getötet und zumindest 89 Zivilisten (davon 15 Frauen und 36 Kinder) verletzt (UNOCHA 7.2021). In den Regionen Afrin und Ra's al-'Ayn in Aleppo werden improvisierte Sprengsätze an Fahrzeugen (VBIEDs) häufig in frequentierten zivilen Gebieten wie Märkten und belebten Straßen gezündet. Bei sieben derartigen Angriffen wurde die Tötung und Verstümmelung von mindestens 243 Frauen, Männern und Kindern dokumentiert - die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist jedoch wesentlich höher (UNHRC 14.9.2021).

Die Türkei verstärkte ihre militärische Präsenz, u.a. in Form von Beobachtungsposten, dehnt die türkische Verwaltung auf die besetzten Gebiete in Syrien aus und errichtet auch zivile Strukturen. Im Jahr 2021 war eine Zunahme russischer Luftangriffe und Angriffe der syrischen Regierung auf Nordwest-Syrien (ÖB 10.2021) bzw. eine Intensivierung der Gewalt in der Deeskalationszone von Idlib festzustellen (UNSC 21.10.2021). Die Artillerieangriffe im Laufe des Jahres 2021 zielten auch auf die zivile Infrastruktur wie Schulen und Krankenhäuser ab (SN4HR 4.7.2021, 21.7.2021; vgl. HRW 8.12.2021, F24 7.3.2021). Im Herbst/Winter 2021 wurde ebenfalls von zivilen Opfern bei Kampfhandlungen in Nordwest-Syrien berichtet (MSF 13.12.2021; vgl. HRW 8.12.2021, ACLED 27.10.2021, BAMF 25.10.2021, II 10.2021). Anfang Jänner 2022 führten die russischen Sicherheitskräfte in Idlib Luftangriffe durch, bei denen unter anderem eine Pumpstation getroffen wurde, welche die Stadt Idlib und angrenzende Dörfer mit Wasser versorgt (RFE/RL 2.1.2022). Bei einem erneuten russischen Angriff am 22.7.2022 auf die nordwestliche syrische Provinz Idlib sind sieben Zivilisten, darunter fünf Kinder, getötet und 13 weitere Zivilisten verletzt worden (DSA 22.7.2022). In der türkischen Besatzungszone Al-Bab im Nordwesten von Syrien sind bei einem Raketenangriff auf einen Markt im August 2022 mindestens 17 Menschen getötet worden. Zudem seien 35 Menschen verletzt worden, teilte die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) mit. SOHR machte Truppen des syrischen Regimes für den Angriff verantwortlich (ANF 17.8.2022). Insgesamt nahmen die Gefechte, Luftschläge und Bombardierungen im vergangenen Jahr besonders im südlichen Idlib zu (BBC 15.3.2022). Der UN-Sondergesandte für Syrien warnte bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates zu Syrien am 29.11.2022 vor der Gefahr einer militärischen Eskalation in Syrien. Dabei verwies er unter anderem auf die Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen in der letzten von Rebellen gehaltenen Hochburg im Nordwesten Idlibs (AW 30.11.2022).

Zu der vom türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigten Militäroffensive in Nordsyrien siehe das Unterkapitel "Türkische Militäroperationen in Nordsyrien" im Kapitel "Sicherheitslage".

Quellen:

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Türkische Militäroperationen in Nordsyrien

Letzte Änderung: 29.12.2022

"Operation Schutzschild Euphrat" (türk. "Fırat Kalkanı Harekâtı")

Am 24.8.2016 hat die Türkei die "Operation Euphrates Shield" (OES) in Syrien gestartet (MFATR o.D.; vgl. WINEP 26.3.2019). Die OES war die erste große Militäroperation der Türkei in Syrien (OR o.D.). In einer Pressemitteilung des Nationalen Sicherheitsrats (vom 30.11.2016) hieß es, die Ziele der Operation seien die Aufrechterhaltung der Grenzsicherheit und die Bekämpfung des Islamischen Staat (IS) im Rahmen der UN-Charta; außerdem wurde betont, dass die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) sowie die mit ihr verbundenen PYD/YPG keinen Korridor des Terrors vor den Toren der Türkei errichten dürfen (CE 19.1.2017). Obwohl die türkischen Behörden offiziell erklärten, dass die oberste Priorität der Kampf gegen den IS sei, betonen viele Kommentatoren und Analysten jedoch, dass das Ziel darin bestand, die Schaffung eines einzigen von den Kurden kontrollierten Gebiets in Nordsyrien zu verhindern (OR o.D.; vgl. WINEP 26.3.2019, SWP 30.5.2022). Die Türkei betrachtet die kurdische Volksverteidigungseinheit (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) und ihren politischen Arm, die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat - PYD), als den syrischen Zweig der PKK und damit als direkte Bedrohung für die Sicherheit der Türkei (SWP 30.5.2022). Seit die türkischen Streitkräfte und die von ihnen unterstützten Gruppierungen nach der Militäroperation OES mehrere Gebiete in Aleppo eingenommen haben, haben sich die humanitären Krisen allmählich verschärft, es kommt fast täglich zu Übergriffen, Angriffen und Explosionen (SOHR 4.12.2022).

"Operation Olivenzweig" (türk. "Zeytin Dalı Harekâtı")

Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der "Operation Olive Branch" (OOB) die zuvor kurdisch kontrollierte Stadt Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Laut türkischem Außenministerium waren die Ziele der OOB die Gewährleistung der türkischen Grenzsicherheit, die Entmachtung der Terroristen in Afrin und die Befreiung der lokalen Bevölkerung von der Unterdrückung der Terroristen. Das türkische Außenministerium berichtete weiter, dass das Gebiet in weniger als zwei Monaten von PKK/YPG- und IS-Einheiten befreit wurde (MFATR o.D.). Diese Aussage impliziert, dass Ankara bei der Verfolgung der Grenzsicherheit und der regionalen Stabilität keinen Unterschied zwischen IS und YPG macht (WINEP 26.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019). Laut UN ist die Menschenrechtssituation in Orten wie Afrin, Ra's al-ʿAin und Tall Abyad schlecht - Gewalt und Kriminalität seien weit verbreitet (UN News 18.9.2020).

"Operation Friedensquelle" (türk. "Barış Pınarı Harekâtı")

Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 11.10.2019). Der UN zufolge wurden ebenfalls innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Es gab Befürchtungen, dass es aufgrund der Offensive zu einem Wiedererstarken des IS kommt (TWP 15.10.2019). Medienberichten zufolge sind in dem Gefangenenlager ʿAyn Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (DS 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (DZ 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation "Friedensquelle" kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB 1.10.2021).

Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression" entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (DS 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernehmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (TWP 15.10.2019). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021).

Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine "Sicherheitszone" in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra's al-ʿAyn ein (SWP 1.1.2020; vgl. AA 19.5.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020).

Siehe dazu auch das Unterkapitel "Nordost-Syrien" und "Nordwest-Syrien" im Kapitel "Sicherheitslage".

"Operation Frühlingsschild" (türk. "Bahar Kalkanı Harekâtı")

Ab Ende Februar 2020 rückten die Regierungstruppen auch im Osten Idlibs vor, und die Frontlinien verschoben sich rasch. Die Vereinten Nationen bezeichneten die Luftangriffe der Regierung und der regierungsnahen Kräfte im Nordwesten im Februar 2020 als "eines der höchsten Ausmaße seit Beginn des Konflikts [...] Zu den täglichen Zusammenstößen mit nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen gehörten gegenseitiger Artilleriebeschuss und Zusammenstöße am Boden mit einer hohen Zahl von Opfern" (UNSC 23.4.2020). Die Offensive führte zu direkten Kämpfen zwischen Kräften der syrischen Regierung und türkischen Streitkräften, und bei einem Luftangriff der Regierungskräfte und Russlands auf einen türkischen Konvoi im Februar 2020 wurden in Idlib 33 türkische Soldaten getötet. Dies veranlasste die Türkei, die "Operation Frühlingsschild" einzuleiten, um die Offensive der syrischen Regierung im Gouvernement Idlib zu stoppen (CC 17.2.2021). Der Auslöser für die türkische "Operation Frühlingsschild" im Norden Idlibs im Februar 2020 war die Verhinderung eines Übergreifens des syrischen Konflikts - insbesondere in Bezug auf Extremisten und Flüchtlingen - auf die Türkei als Folge einer neuen Regimeoffensive. Ein tieferer Beweggrund für die Operation war der Wunsch Ankaras, eine Grenze gegen weitere Vorstöße des Regimes zu ziehen, die die türkischen Gebietsgewinne in Nordsyrien gefährden könnten. Die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) war ein wichtiger Profiteur der Operation (Clingendael 9.2021).

Das vorrangige Ziel Russlands und des syrischen Regimes ist es, den Druck auf HTS aufrechtzuerhalten. Die Türkei hat ihrerseits regelmäßig Drohnenaktivitäten über Idlib gezeigt. Das Hauptziel der Türkei besteht darin, eine Pufferzone zu den Kräften des syrischen Regimes aufrechtzuerhalten, deren Vorrücken - ohne vorherige Absprache oder Vereinbarung - die Sicherheit der türkischen Grenze gefährden würde (EPC 17.2.2022). Es kommt in den türkisch-besetzten Gebieten zu internen Kämpfen zwischen von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen. Obwohl die Türkei versucht hat, die Ordnung innerhalb der von ihr unterstützten oppositionellen Syrian National Army (SNA) aufrechtzuerhalten, kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen (TCC 18.2.2021). Die Kämpfe zwischen den Fraktionen der SNA haben zur allgemeinen Instabilität in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien beigetragen. Weder die von den USA unterstützten, kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) noch die HTS sind in ihren Reihen so konfliktreich wie die SNA (CC 3.2022). In den von der Türkei beherrschten Gebieten, vor allem im nördlichen Teil der Provinz Aleppo, kommt es vermehrt zu Anschlägen seitens der kurdischen YPG. Die sehr komplexe Gemengelage an (bewaffneten) Akteuren, u.a. YPG und Türkei-nahe Rebellengruppen, die sich auch untereinander bekämpfen, führt zu einer sehr konfliktgeladenen Situation in der Provinz Aleppo und vor allem in deren nördlichem Teil (ÖB 1.10.2021). Der jüngste Anstieg der Gewalt kam, als die Türkei nach dem Bombenanschlag vom 13.11.2022 in Istanbul, für den sie die YPG und die PKK verantwortlich machte, mit einer neuen Bodenoperation drohte (AJ 24.11.2022; vgl. VOA 27.11.2022; HRW 7.12.2022).

Die von Präsident Erdoğan ankündigte Militäroffensive der Türkei 2022

Im Mai 2022 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei erwäge eine Militäroperation zur Ausweitung der türkisch kontrollierten Gebiete in Syrien, um dem Einfluss der YPG entgegenzuwirken (CRS 8.11.2022; vgl. HRW 17.8.2022). Erdogan hat wiederholt angekündigt, einen 30 Kilometer breiten Streifen an der syrischen Grenze vollständig einzunehmen, um eine sogenannte Sicherheitszone auf der syrischen Seite der Grenze zu errichten (MI 21.11.2022; vgl. RND 27.11.2022; vgl. HRW 17.8.2022). Zuletzt konzentrierte er seine Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij - also die westlichen Selbstverwaltungsgebiete (MI 21.11.2022). Kobanê als Symbol des Widerstandes des kurdischen Selbstverwaltungsgebiets (auch Rojava) steht im Fokus der türkischen Angriffe. Dörfer und das Zentrum von Kobanê werden immer wieder attackiert (ANF 29.11.2022).

Am 20.11.2022, eine Woche nach einem Bombenanschlag in Istanbul am 13.11.2022, bei dem sechs Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden (OSES 29.11.2022; vgl. AW 30.11.2022, AJ 22.11.2022), startete die Türkei die sogenannte "Claw-Sword Air Operation". Die Regierung in Ankara macht die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG für den Anschlag verantwortlich. Sowohl PKK als auch YPG und die Demokratischen Kräfte Syriens, die wichtigste Bodentruppe im Kampf gegen den IS im Nordosten Syriens, haben eine Beteiligung an dem Bombenanschlag in Istanbul bestritten (HRW 7.12.2022; vgl. DZ 20.11.2022; OSES 29.11.2022). Als Vergeltungsmaßnahme hat das türkische Militär eine Reihe von Luftangriffen auf mutmaßliche militante Ziele in Nordsyrien und im Irak geflogen (AW 30.11.2022; vgl. AJ 22.11.2022). Eine Bodenoffensive werde "zu gegebener Zeit" beginnen, so Erdoğan. Es wäre die vierte Militäroperation in Nordsyrien, wo die Türkei mit den Invasionen von 2016, 2018 und 2019 die YPG aus der Grenzregion zurückgedrängt hat und große Landstriche besetzt hält. Auf diese Weise will Ankara die YPG eindämmen. Zugleich erhofft sich die Türkei, syrische Kriegsflüchtlinge aus der Türkei in dieser Region anzusiedeln (RND 27.11.2022). Seit dem 19.11.2022 attackiert die türkische Armee das kurdische Selbstverwaltungsgebiet mit Kampfbombern, Artillerie und Drohnen. Dabei sind Dutzende Zivilisten und Mitglieder der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Außerdem wurden mehr als zwanzig Soldaten des Assad-Regimes getötet (ANF 29.11.2022). Die kurdische Miliz SDF teilten mit, türkische Flugzeuge hätten bei den Angriffen auch zwei Dörfer mit Binnenflüchtlingen in Nordsyrien unter Beschuss genommen. Die türkischen Angriffe hätten außerdem zivile Infrastruktur zerstört, darunter Getreidesilos, ein Kraftwerk und ein Krankenhaus. Türkischen Angaben hingegen zufolge handle es sich bei den zerstörten Zielen um Bunker, Tunnel und Munitionsdepots. Die SDF im Norden Syriens hat Vergeltung für türkische Luftangriffe auf ihre Stellungen angekündigt (DZ 20.11.2022). Am 23.11.2022 richteten sich die türkischen Angriffe auch gegen einen SDF-Posten im Gefangenenlager al-Hol, in dem mehr als 53 000 IS-Verdächtige und ihre Familienangehörigen festgehalten werden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder aus etwa 60 Ländern (HRW 7.12.2022). Die verstärkten Militäraktionen in Teilen des Nordwestens und Nordostens Syriens haben die Angst vor einem weiteren Ausbruch des Konflikts geweckt, der sich auf bewohnte Zivilgebiete und überfüllte humanitäre Einrichtungen auswirken könnte. In ganz Nordsyrien wurden Berichten zufolge Zivilisten verletzt und wichtige zivile Infrastrukturen beschädigt, wodurch der Zugang der Menschen zu lebenswichtigen Gütern wie Strom und Wasser gefährdet ist (SIRF 1.12.2022; vgl. HRW 7.12.2022).

Die USA, Russland und Iran haben öffentlich vor einem weiteren türkischen Einmarsch in Nordostsyrien gewarnt (HRW 17.8.2022). Die USA haben zur "sofortigen Deeskalation" aufgerufen. Größte Sorge in Washington ist, dass eine türkische Offensive im Nordirak der Terrormiliz IS in die Hände spielt (RND 27.11.2022; vgl. USDOS 23.11.2022). Zellen des IS sind in Syrien immer noch aktiv. Die YPG ist ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen den IS. Tausende ehemalige IS-Kämpfer sitzen in Gefängnissen, die von der Kurdenmiliz kontrolliert werden. Eine Schlüsselrolle für die türkische Syrien-Strategie spielt Russland. Präsident Wladimir Putin ist der wichtigste politische und militärische Verbündete des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Die russischen Streitkräfte haben die Lufthoheit über Syrien. Für eine Bodenoffensive braucht Erdoğan zumindest die Duldung Moskaus. Putins Syrien-Beauftragter Alexander Lawrentjew forderte die Türkei auf, "von exzessiver Gewaltanwendung auf syrischem Staatsgebiet abzusehen" (RND 27.11.2022). Am 30.11.2022 verlegte Russland Truppenverstärkungen in ein Gebiet in Nordsyrien, das von kurdischen Kämpfern und Regierungstruppen kontrolliert wird, wie Anwohner und ein Kriegsbeobachter sagten. Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) erklärte, Russland verstärke seine Truppen auf einem von der Regierung kontrollierten Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Tal Rifa'at (AN 30.11.2022).

Quellen:

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Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien

Letzte Änderung: 29.12.2022

Nach elf Jahren Krieg hat das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, mittlerweile unterschiedlichen Quellen zu Folge zwischen 60 % (INSS 24.4.2022; vgl. GIS 23.5.2022) und 70 % des syrischen Territoriums wieder unter seine Kontrolle gebracht (USCIRF 11.2022; EUAA 9.2022). Im November 2022 kontrolliert die Regierung die meisten größeren Städte des Landes, darunter die Großstädte Damaskus, Aleppo, Homs und Hama (CRS 8.11.2022; vgl EUAA 9.2022). Ausländische Akteure und regierungstreue Milizen üben erheblichen Einfluss auf Teile des Gebiets aus, das nominell unter der Kontrolle der Regierung steht (AM 23.2.2021; vgl. SWP 3.2020, FP 15.3.2021, EUI 13.3.2020). Die zivilen Behörden haben nur begrenzten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Organisationen, die in Syrien operieren, darunter russische Streitkräfte, die libanesische Hizbollah, die iranischen Revolutionswächter (IRGC) und regierungsnahe Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defence Forces - NDF), deren Mitglieder zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen haben (USDOS 12.4.2022). Auch in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter komplex. Die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren. Für alle Gebiete gilt weiter, dass eine pauschale Lagebeurteilung nicht möglich ist. Auch innerhalb einzelner Regionen unterscheidet sich die Lage von Ort zu Ort und von Betroffenen zu Betroffenen (AA 29.11.2021).

Die Sicherheitslage zwischen militärischer Situation und Menschenrechtslage

Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 % der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle woanders. Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen Schiitenmilizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.2.2021). Vor allem Aleppo, die größte Stadt Syriens und ihr ehemaliger wirtschaftlicher Motor, bietet einen Einblick in die derzeitige Realität des Nachkriegssyriens. Die Truppen des Regimes haben die primäre, aber nicht die ausschließliche Kontrolle über die Stadt, da die Milizen, auch wenn sie nominell mit dem Regime verbündet sind, sich sporadische Zusammenstöße mit Soldaten und untereinander liefern und die Einwohner schikanieren. Die Rebellen sind vertrieben, kein ausländischer Akteur hat ein Interesse an einer erneuten Intervention, um das Regime herauszufordern, und die Bevölkerung ist durch den jahrelangen Krieg zu erschöpft und verarmt und zu sehr damit beschäftigt, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, um einen weiteren Aufstand zu führen. Außerdem konnten die meisten Einwohner der Stadt, die in von der Opposition gehaltene Gebiete oder ins Ausland vertrieben wurden, nicht zurückkehren, vor allem weil sie entweder die Einberufung oder Repressalien wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Aufstand fürchten (ICG 9.5.2022). Gebiete in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht (Üngör 15.12.2021). Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021). Die UN-Untersuchungskommission für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen haben Berichten zufolge häufig Verstöße und Misshandlungen begangen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 12.4.2022; vgl. HRW 13.1.2022).

Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 1.12.2022; vgl. CC 3.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 1.12.2022; vgl. FH 24.2.2022). Im Oktober 2022 kam es in den vom Regime kontrollierten Gebieten zu einer alarmierenden Eskalation der Gewalt. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) dokumentierte den Tod von 161 Menschen in den vom syrischen Regime und den mit ihm verbundenen Milizen kontrollierten Gebieten (SOHR 6.11.2022). In Gebieten wie Daraʿa, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (ICG 13.2.2020). Aus den Gouvernements Dara'a, Quneitra und Sweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022).

Der IS verfügt über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun (AA 29.11.2021; Anm.: siehe dazu auch Abschnitt "Provinz Deir ez-Zour / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet"). Der IS ist unter anderem im Osten der Provinz Homs aktiv; es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vgl. DIS 5.2022). Die Lage im westlichen Teil des Provinz Homs hat sich im vergangenen Jahr im Großen und Ganzen verbessert, insbesondere in städtischen Gebieten wie Homs-Stadt, wo die Sicherheitsvorfälle zurückgegangen sind. Im nördlichen Teil der Provinz wurden Spannungen und Angriffe ehemaliger Rebellengruppen auf syrische Regierungstruppen gemeldet (DIS 5.2022). Der Westen des Landes, insbesondere Tartus und Lattakia, war im Verlauf des Konflikts vergleichsweise weniger von aktiven Kampfhandlungen betroffen (AA 29.11.2021; vgl. ÖB 1.10.2021). Im Hinterland von Lattakia kommt es immer wieder zu einem Übergreifen des Konflikts von Idlib aus (ÖB 1.10.2021; vgl. AA 29.11.2021). Die Streitkräfte des Regimes sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben. Trotz des absoluten Rückgangs der Anzahl von Kampfhandlungen in Folge der Rückeroberung weiter Landesteile ist nicht von einer nachhaltigen Befriedung des Landes auszugehen (AA 29.11.2021).

Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versucht der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen "Hort der Ruhe" in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vgl. EUAA 9.2022). Allerdings kommt es seit Anfang 2020 zu wiederholten Anschlägen in Damaskus und Damaskus-Umland bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.3.2020; vgl. COAR 25.10.2021). Darunter war z.B. die Bombenexplosion eines Militärbusses am 20.10.2021 in einem dicht besiedelten Gebiet von Damaskus, bei welcher 14 Personen getötet wurden (HRW 13.1.2022). Im Zeitraum April 2022 bis Juli 2022 wurden sechzehn Anschläge in und um Damaskus gemeldet (AN 1.7.2022).

Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 3.11.2022; vgl. NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. In den Monaten seit Beginn der Invasion der Ukraine haben die russischen Streitkräfte einen erheblichen Schwund an Personal und Material hinnehmen müssen. Informationen gesammelt durch Open Source Intelligence verwiesen im August 2022 auf den Abzug einer S-300-Luftabwehrbatterie nach Russland, während die ukrainischen Streitkräfte im September 2022 erklärten, dass sie davon ausgingen, dass ein zuvor in Syrien stationiertes russisches Fallschirmjägerregiment ebenfalls nach Russland zurückverlegt wurde. Da Russland seine Kampftruppen abgezogen hat, hat es Berichten zufolge diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 3.11.2022; vgl. NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen. Einigen Berichten zufolge könnten sich das iranische Korps der Revolutionsgarden (IRGC) und seine Verbündeten von der Hizbollah in frei gewordenen russischen Stützpunkten niedergelassen haben. Der iranische Aufbau von Streitkräften und Infrastruktur könnte seinen Einfluss in Syrien am Vorabend einer möglichen türkisch-syrischen Annäherung, die von Russland kultiviert wird, verstärken (CC 3.11.2022).

Israel führt immer wieder Luftangriffe auf Militärstützpunkte, die (auch) von den iranischen Revolutionsgarden und verbündeten Milizen genutzt werden, durch (ÖB 1.10.2021; vgl. AA 29.11.2021, UNHCR 14.8.2020). Um die Präsenz Irans zu bekämpfen und die Weitergabe von Waffen an die Hizbollah zu verhindern, hat Israel häufig Luftangriffe gegen die syrische Regierung und die vom Iran unterstützten Milizen in ganz Syrien durchgeführt. Im Jahr 2021 hat sich das Ausmaß der israelischen Luftangriffe erhöht, wobei im Jahr 2021 mindestens 56 Konfliktfälle verzeichnet wurden (CC 3.11.2022). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 3.11.2021). Im Dezember 2021 führte Israel zwei Luftschläge auf den Hafen von Lattakia durch, welche mutmaßlich Warenlager von Iran-nahen Milizen zum Ziel hatten und erhebliche Sachschäden verursachten (Times of Israel 28.12.2021; vgl. MEE 7.12.2021). Der Hafen von Latakia ist der wichtigste Hafen der syrischen Regierung (MEE 7.12.2021). Über ihn wird ein Großteil der syrischen Importe in das vom Krieg zerrüttete Land gebracht (Times of Israel 28.12.2021). Im Jahr 2022 fanden 31 israelische Luftangriffe statt, davon 19 im dritten Quartal 2022 (CC 3.11.2022). Seit Beginn 2022 kam es zudem zu israelischen Angriffen u.a. auf den Flughafen von Damaskus, wo sowohl zivile wie militärische Landebahnen getroffen wurden (JP 11.6.2022). Auch gab es am 5.7.2022 nahe der Stadt Tartous einen israelischen Angriff auf Luftabwehrsysteme (JP 5.7.2022). Israel hat bisher hunderte Luftschläge zugegeben, welche u.a. das Ziel haben, eine Verfestigung der iranischen Militärpräsenz in Syrien zu verhindern (JP 11.6.2022).

Quellen:

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 AM - al-Monitor (23.2.2021): Iranian forces form new groups to boost influence in east Syria, https://www.al-monitor.com/originals/2021/02/iran-groups-east-syria-presence-influence-recruitment.html , Zugriff 16.9.2021

 AN - Arab News (1.7.2022): Assad's fake narrative of a 'safe' Damascus, https://www.arabnews.com/node/2114981 , Zugriff 6.12.2022

 CC - The Carter Center (3.11.2022): Quarterly Review on Syrian Political and Military Dynamics July-September 2022, https://storymaps.arcgis.com/stories/bb84958f3b0f456d9139f1447ba3e638 , Zugriff 6.12.2022

 COAR - Center for Operational Analysis Research (25.10.2021): Deadly Bus Blast Evinces Security Risks in Damascus and Beyond, https://coar-global.org/2021/10/25/deadly-bus-blast-evinces-security-risks-in-damascus-and-beyond/ , Zugriff 6.12.2022

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 DIS/DRC - Danish Immigration Service / Danish Refugee Council [Dänemark] (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_31012019.pdf?la=da&hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC , Zugriff 8.9.2020

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 JP - The Jerusalem Post (11.6.2022): Alleged Israeli strike disables Damascus International Airport, https://www.jpost.com/breaking-news/article-709108 , Zugriff 8.8.2022

 MEE - Middle East Eye (7.12.2021): Syria: Latakia port hit by 'Israeli air strikes' for first time since 2011, https://www.middleeasteye.net/news/syria-israel-iran-weapons-shipment-latakia-port , Zugriff 21.12.2021

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 TSO - The Syrian Observer (10.3.2020): The Damascus Bombings: Settling Scores or Creative Chaos?, https://syrianobserver.com/EN/features/56592/the-damascus-bombings-settling-scores-or-creative-chaos.html , Zugriff 6.12.2022

 Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall

 UNHRC - United Nations Human Rights Council (14.8.2020): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/45/31], https://www.ecoi.net/en/file/local/2037646/A_HRC_45_31_E.pdf , Zugriff 12.10.2020

 USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom (11.2022): Factsheet: Religious Freedom in Syria, https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2022-11/2022%20Factsheet%20-%20HTS-Syria.pdf , Zugriff 7.12.2022

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 WI - Washington Institute (10.2.2021): The Assad Regime Has Failed to Restore Full Sovereignty Over Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/assad-regime-has-failed-restore-full-sovereignty-over-syria , Zugriff 6.12.2022

Rechtsschutz / Justizwesen

Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes

Letzte Änderung: 29.12.2022

Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Art. 1, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und Bürgerrechte (Art. 33-49), Rechtsstaatlichkeit (Art. 50-53), Gewaltenteilung sowie freie, allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Art. 57) vor. Faktisch haben diese Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Ba'ath-Partei durch einen von 1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet, aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung“ ersetzt. Sie führte zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen sind von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut geltender Verfassung ist der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA 29.11.2021).

Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). Die Unabhängigkeit syrischer Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte ist unverändert nicht gewährleistet, diese werden regelmäßig vom Regime für politische Zwecke missbraucht. Zudem ist Korruption weit verbreitet. Vor allem vor Strafgerichten ist eine effektive Verteidigung in Fällen mit politischem Hintergrund praktisch nicht möglich. Immer wieder werden falsche Geständnisse durch Folter und Drohungen durch die Anklage erpresst und seitens der Gerichte weitestgehend vorbehaltlos akzeptiert. Die CoI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) kommt vor diesem Hintergrund in ihrem Bericht vom März 2021 zu der Einschätzung, dass ein Recht auf ein ordentliches und faires Verfahren vor syrischen nationalen Gerichten nicht gewährleistet ist und diese daher kein effektives Mittel zur Gewährleistung von Recht und Gerechtigkeit sind (AA 29.11.2021). In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB 1.10.2021). Richter und Staatsanwälte müssen im Grunde genommen der Ba'ath-Partei angehören und sind in der Praxis der politischen Führung verpflichtet (FH 4.3.2020).

Tausende von Gefangenen wurden monatelang oder jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt ("incommunicado") festgehalten, bevor sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren freigelassen wurden, während viele andere im Gefängnis starben (USDOS 12.4.2022).

Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, welches nun alle online getätigten Äußerungen unter Strafe stellt, die angeblich die Staatsgewalt oder das Ansehen des Staates untergraben. Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.6.2022).

Anti-Terror-Gerichte (CTC)

2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht (Counter Terrorism Court - CTC) eingerichtet. Dieses soll Verhandlungen aufgrund "terroristischer Taten" gegen Zivilisten und Militärpersonal führen, wobei die Definition von Terrorismus im entsprechenden Gesetz sehr weit gefasst ist (SJAC 9.2018). Anklagen gegen Personen, die vor das CTC gebracht werden, beinhalten: das Finanzieren, Fördern und Unterstützen von Terrorismus; Teilnahme an Demonstrationen; das Schreiben von Stellungnahmen auf Facebook; die Kontaktierung von Oppositionellen im Ausland; Waffenschmuggel an bewaffnete Oppositionelle; das Liefern von Nahrungsmitteln, Hilfsgütern und Medizin in von der Opposition kontrollierte Gebiete (NMFA 5.2020).

Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) und andere Quellen betonen, dass sowohl der Gerichtsprozess im CTC als auch die Gesetzgebung, auf deren Basis dieser Gerichtshof agiert offenkundig internationales Menschenrecht und fundamentale rechtliche Standards verletzen. Diese Verletzungen beinhalten: willkürliche Verhaftungen, unter Folter erzwungene Geständnisse als Beweismittel, geschlossene Gerichtssitzungen unter Ausschluss der Medien, das Urteilen des Gerichts über Zivilisten, Minderjährige und Militärangehörige gleichermaßen, die Ernennung der Richter durch den Präsidenten, die Nicht-Zulässigkeit von ZeugInnen der/des Angeklagten, usw. (NMFA 6.2021, vgl. USDOS 30.3.2021). Das normale juristische Prozedere gilt bei keinem der Fälle vor den CTCs. Eine Berufung gegen Urteile ist nicht möglich (BS 23.2.2022).

Mangels Definition von "Terrorismus" und mit "Terrorismus" als Generalvorwurf gegen jede Form von abweichender Meinung werden die Anti-Terrorismus-Gerichte als "politisch" kategorisiert (BS 23.3.2022): Sie dienen insbesondere dem Zweck, politische Gegner und Personen, die sich für politischen Wandel und Menschenrechte einsetzen, auszuschalten. Demnach sollen seit Errichtung dieser Gerichte bis Oktober 2020 schätzungsweise mindestens 90.560 Fälle vor diesen Gerichten verhandelt worden sein. Dabei sollen mindestens 20.641 Gefängnisstrafen und mehr als 2.147 Todesurteile verhängt worden sein, davon der Großteil in Abwesenheit der Angeklagten. Vor diesen Gerichten sei Angeklagten in Verfahren, die oftmals nur wenige Minuten dauern, ein Rechtsbeistand verwehrt; sie würden nach glaubhaften Aussagen ehemaliger Häftlinge oftmals gezwungen, Geständnisse ohne Kenntnis des Textes blind zu unterschreiben. Viele der von diesen Gerichten Verurteilten erhielten laut SNHR Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren, politische Dissidenten häufig bis zu 30 Jahre. In letzteren Fällen sei es wiederholt auch zu außergerichtlichen Hinrichtungen gekommen (AA 29.11.2021). 10.000 Fälle sind demnach noch anhängig (BS 23.2.2022).DIe „Terrorismus-Gerichte“ sind außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens tätig. Versteckte Internierungslager, in denen unmenschliche Bedingungen vorherrschen, sind weit verbreitet. Auch Kinder und Frauen werden in diesen Internierungszentren festgehalten. Im Mai 2018 veröffentlichte die syrische Regierung Listen mit tausenden Namen von in Internierungslagern verstorbenen Bürgern. Eine Aufklärung dieser Todesfälle steht aus (ÖB 1.10.2021).

Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Durch mehrere Dekrete wurde die Regierung 2019 zur Konfiszierung des Eigentums von „Terroristen“ ermächtigt. Als Terroristen werden vor allem auch viele Oppositionelle gelistet. Umfasst ist auch das Eigentum der Familien der Verurteilten und in einigen Fällen sogar ihrer Freunde (ÖB 1.10.2021).

Militär-Feldgerichte

Militär-Feldgerichte sind geheime Gerichte, deren Richter Militärangehörige sind, die keinerlei Ausbildung oder juristischen Hintergrund haben müssen. Inhaftierte haben hierbei nicht die Möglichkeit, einen Anwalt zu beauftragen, und Anwälte können den Sitzungen nicht beiwohnen. Es gibt keine Möglichkeit zum Einspruch (NMFA 6.2021).

Ein befragter Experte beschrieb die Arbeit der Feldgerichte während aktiver Kämpfe in Kriegsgebieten folgendermaßen: "Feldtribunal" bedeutet nicht, dass es in einem großen Gebäude abseits der Front stattfindet, sondern es ist im Grunde ein Tisch mit drei Offizieren. Sie prüfen die Anschuldigungen, und es gibt eine sehr kurze Verhandlung, in der sie die Version der Geschichte des Angeklagten hören. Sie hören auch die Versionen der Offiziere und der Mitsoldaten, und wenn der Angeklagte beispielsweise des Hochverrats für schuldig befunden wird, kann er im Schnellverfahren hingerichtet werden, was bedeutet, dass er an die Wand gestellt und erschossen wird. Während des Konflikts ist es zu derartigen Fällen gekommen. Die Hinrichtungen werden üblicherweise von der Militärpolizei (al-Shurta al-Askariya) oder dem Militärgeheimdienst durchgeführt (Üngör 15.12.2021).

Andere Gerichte

Die Verwaltung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeitet in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten (AA 29.11.2021). Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte (SLJ 5.9.2016). Manche Personenstandsgesetze spiegeln die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten wider (USDOS 12.4.2022).

Die anhaltende Regierungskampagne zur Konfiszierung von Land und Häusern oder Beschlagnahmung ohne adäquate Entschädigung macht Land- und Immobilienbesitzrechte zu einem sensiblen Thema, bei dem die Justiz nicht unabhängig ist. In diesen Fällen dienen die Gerichte dazu, die Einziehung des Besitzes im Namen des Kampfes gegen "Terrorismus" zu legitimieren. BürgerInnen im Ausland riskieren, dass ihr Besitz beschlagnahmt wird, wenn sie vom Regime mit der Opposition in Verbindung gebracht werden und haben kaum Einspruchsmöglichkeiten. Die Verfügungen zur Durchführung der Konfiszierung werden nur in lokalen Zeitungen bekannt gegeben und sind so vom Ausland nicht zugänglich. Die Kläger müssten persönlich (bei Einsprüchen) in solchen Fällen zugegen sein (BS 23.3.2022).

Siehe hierzu auch Kapitel "Korruption" und Abschnitt "Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge".

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1 , Zugriff 23.11.2022

 BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf , Zugriff 23.11.2022

 FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2020 , accessed 23.11.2022

 IA - International Alert (7.2017): 'Most of the Men want to leave': Armed groups, displacement and the gendered webs of vulnerability in Syria, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Gender_VulnerabilitySyria_EN_2017.pdf , Zugriff 23.11.2022

 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, file:///home/pn7294/Downloads/EN-AAB-Syrie-juni-2021-1.pdf, Zugriff 23.11.2022

 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2020): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf , Zugriff 23.11.2022

 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html , Zugriff 23.11.2022

 Qantara (28.6.2022): Unterdrückung per Cybercrime-Gesetz, https://de.qantara.de/inhalt/naher-osten-unterdrueckung-per-cybercrime-gesetz , Zugriff 23.11.2022

 SJAC - The Syria Justice and Accountability Centre (9.2018): Return is a Dream - Options for Post-Conflict Property Restitution in Syria, https://syriaaccountability.org/content/files/2022/04/Property-Restitution-Report-Final-Web-1--4-.pdf , Zugriff 23.11.2022

 SLJ - Syrian Law Journal (5.9.2016): An Overview of the Syrian Court System, https://www.syria.law/index.php/overview-syrian-court-system/ , Zugriff 23.11.2022

 Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall

 USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048105.html , Zugriff 23.11.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 23.11.2022

Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes unter HTS- oder SNA-Dominanz

Letzte Änderung: 29.12.2022

In Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes ist die Lage von Justiz und Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen verschieden (AA 29.11.2021; vgl. USDOS 12.4.2022). In von oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und bei der Beachtung juristischer Normen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 4.12.2020, USDOS 12.5.2021). Manche Gruppen folgen dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgen dem Entwurf eines Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, der von der Arabischen Liga aus dem Jahr 1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und Scharia anwenden. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten bewaffneten Gruppierungen unterworfen (USDOS 11.3.2020). Auch die Härte des angewandten islamischen Rechts unterscheidet sich, sodass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können. Doch werden insbesondere jene religiösen Gerichte, welche in (vormals) vom Islamischen Staat (IS) und von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: HTS wird von den Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Verbindungen zu Al Qaida als ausländische Terrororganisation eingestuft (CRS 8.11.2022)] kontrollierten Gebieten Recht sprechen, als nicht mit internationalen Standards im Einklang stehend charakterisiert (ÖB 1.10.2021). Urteile von Scharia-Räten der Opposition resultieren manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten können (USDOS 12.4.2022).

In Afrin werden diese Dienstleistungen zum größten Teil durch von der Türkei eingesetzte Behörden übernommen (AA 29.11.2021). In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen oder der Syrian National Army (SNA) kontrolliert werden, finden Prozesse gegen Inhaftierte hauptsächlich vor Militärgerichten statt. In dieser Situation kann ein Häftling einen Anwalt hinzuziehen. Viele bewaffnete Oppositionsgruppen nehmen jedoch Verhaftungen ohne Haftbefehl vor; es gibt dann kein Gerichtsverfahren. Auf diese Weise werden Verhaftete verschwinden gelassen (NMFA 6.2021).

In Idlib übernehmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten „Errettungs-Regierung“ der Terrororganisation HTS Verwaltungsaufgaben (AA 29.11.2021). Die Verwaltung des von der HTS kontrollierten Gebiets verfügt auch über eine Justizbehörde. Die Gruppe unterhält auch geheime Gefängnisse. Die HTS unterwirft ihre Gefangenen geheimen Verfahren, den sogenannten "Scharia-Sitzungen". In diesen werden die Entscheidungen von den Scharia- und Sicherheitsbeamten (Geistliche in Führungspositionen der HTS, die befugt sind, Fatwas [Rechtsgutachten] und Urteile zu erlassen) getroffen. Die Gefangenen können keinen Anwalt zu ihrer Verteidigung hinzuziehen und sehen ihre Familien während ihrer Haft nicht (NMFA 6.2021). Die COI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) stellt in ihrem Bericht vom März 2021 fest, dass durch HTS und andere bewaffnete Gruppierungen eingesetzte, rechtlich nicht legitimierte Gerichte Urteile bis hin zur Todesstrafe aussprechen. Dies sei als Mord einzustufen und stelle insofern ein Kriegsverbrechen dar (AA 29.11.2021).

Für ganz Syrien gilt, dass nicht gewährleistet ist, dass justizielle Dienstleistungen allen Bewohnern und Bewohnerinnen in gleichem Umfang und ohne Diskriminierung zugutekommen (AA 29.11.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1 , Zugriff 23.11.2022

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/document/2042795.html , Zugriff 23.11.2022

 CRS - Congressional Research Service [USA] (8.11.2022): Armed Conflict in Syria: Overview and U.S. Response, https://sgp.fas.org/crs/mideast/RL33487.pdf , accessed on 23.11.2022

 NMFA - Netherland Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, file, https://www.ecoi.net/en/document/2058351.html , Zugriff 23.11.2022

 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html , Zugriff 23.11.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 22.7.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2051586.html , Zugriff 23.11.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2026345.html , Zugriff 23.11.2022

Umgang mit ehemaligen IS-Kämpfern

Mit Stand Oktober 2020 wurden 64.000 Menschen, die mit dem IS in Verbindung stehen, allein im al-Hol Lager festgehalten. Mehr als 80 % davon sind Frauen und Kinder, fast die Hälfte von ihnen IrakerInnen, 37 % SyrerInnen und 15 % anderer Nationalität (ICCT 16.3.2021). Heutzutage sind 64 % der Menschen in al-Hol Kinder. Für sie ist das Leben in dem Camp besonders gefährlich, so Ärzte ohne Grenzen (MSF). Mehr als ein Drittel aller, die im vergangenen Jahr in dem Lager starben, waren demnach Kinder unter 16 Jahren. Die häufigste Todesursache (38 %) in Al-Hol ist der Tod infolge von Verbrechen. Zusätzlich zu den 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen wurden in dem Lager 2021 auch 30 Mordversuche gemeldet (DS 7.11.2022). Viele europäische Länder sind weiterhin zurückhaltend, was die Zurückholung ihrer Staatsbürger betrifft, gleichzeitig wird die Verurteilung vor syrischen und irakischen Gerichten nicht als den Standards der internationalen Menschenrechte entsprechend angesehen, und die Chancen, ein internationales Tribunal vor Ort zu etablieren sind gering. Dementsprechend stellt die Autonome Administration ehemalige IS-Kämpfer vor provisorische Tribunale. Bis März 2021 kam es zu 8.000 Verurteilungen von Syrern in Zusammenhang mit dem IS, Jabhat an-Nusra (Anm.: an-Nusra Front) und Fraktionen der Syrian National Army, wie der Hamza Division und der Suleyman Shah Brigade (ICCT 16.3.2021).

Der sogenannte "Defense of the People Court" wird weder von den syrischen Behörden noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Durch den Fokus auf Konfliktlösung und milde Strafurteile versucht die AANES die Zusammenarbeit bei der Verfolgung weiterer IS-Kämpfer zu erreichen, ihre Regierungskompetenz gegenüber der lokalen Bevölkerung hervorzuheben und internationale Legitimität zu gewinnen. Die Todesstrafe wurde abgeschafft. Die Höchststrafe ist eine lebenslange Freiheitsstrafe, de facto eine zwanzigjährige Haftstrafe. Gerichtsurteile werden bei guter Führung, oder wenn sich der Angeklagte selbst den kurdischen Behörden gestellt hat, gemildert. 2017 gab es Versöhnungs- und Vermittlungsversuche mit großen arabischen Stämmen, und über 80 IS-Kämpfer erhielten eine Amnestie, um gute Beziehungen zu schaffen, und andere dazu zu bringen, sich zu stellen. Auch in diesem Gericht kann kein Anwalt beauftragt oder Einspruch eingelegt werden (Ha'aretz 8.5.2018, vgl. AP 7.5.2018).

Zum aktuellen Gebietsumfang der Gebiete unter obiger Selbstverwaltung siehe die Karten im Kapitel "Sicherheitslage".

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1 , Zugriff 23.11.2022

 AI - Amnesty International (12.7.2017): Zwei von drei Aktivisten wieder frei, https://www.amnesty.de/mitmachen/urgent-action/zwei-von-drei-aktivisten-wieder-frei , Zugriff 23.11.2022

 AM - Al-Monitor (4.4.2021): Tribes in east Syria resort to their own judiciary over lack of trust in official courts, https://www.al-monitor.com/originals/2021/04/tribes-east-syria-resort-their-own-judiciary-over-lack-trust-official-courts , Zugriff 23.11.2022

 AP - The Associated Press (7.5.2018): Syria’s Kurds put IS on trial with focus on reconciliation, https://apnews.com/article/after-the-caliphate-islamic-state-group-syria-ap-top-news-international-news-d672105754434b738c8e5823233572c9 , Zugriff 23.11.2022

 DS - Der Standard (7.11.2022): Ärzte ohne Grenzen: Unmenschliche Zustände in syrischem Lager al-Hol, https://www.derstandard.at/story/2000140592349/aerzte-ohne-grenzen-unmenschliche-zustaende-in-syrischem-lager-al-hol , Zugriff 23.11.2022

 Ha'aretz (8.5.2018): Syria’s Kurds Put ISIS on Trial With Focus on Reconciliation, https://www.haaretz.com/middle-east-news/syria/syria-s-kurds-put-isis-on-trial-with-focus-on-reconciliation-1.6071212 , Zugriff 23.11.2022

 ICCT - International Centre for Counter-Terrorism (16.3.2021): New Kid on the Block: prosecution of ISIS fighters by the Autonomous Administration of North and East Syria, https://icct.nl/publication/prosecution-of-isis-fighters-by-autonomous-administration-of-north-east-syria/ , Zugriff 23.11.2022

 JS - Just Security (28.10.2019): Northeastern Syria: Complex Criminal Law in a Complicated Battlespace, https://www.justsecurity.org/66725/northeastern-syria-complex-criminal-law-in-a-complicated-battlespace/ , Zugriff 23.11.2022

 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf , Zugriff 23.11.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 23.11.2022

Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge (regimekontrollierte Gebiete)

Letzte Änderung: 29.12.2022

Hinweis: Der militärische und politische Zerfall Syriens hat auch Auswirkungen auf das Familienrecht, weil die einzelnen politischen Gruppen in ihren Herrschaftszonen zum Teil eigene Normensysteme gebildet haben und anwenden (MPG 2018).

Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen

Letzte Änderung: 05.08.2022

Die Regierung hat zwar die effektive Kontrolle über die uniformierten Polizei-, Militär- und Staatssicherheitskräfte, jedoch nur beschränkten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Einheiten, z.B. russische Streitkräfte, die mit dem Iran verbündete Hizbullah und die iranischen Islamischen Revolutionsgarden (USDOS 12.4.2022). Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie die militärischen und zivilen Geheimdienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen (AA 4.12.2020).

Straflosigkeit unter den Sicherheitsbehörden bleibt ein weitverbreitetes Problem bei Sicherheitskräften und NachrichtendienstmitarbeiterInnen und auch sonst im Regime (USDOS 12.4.2022; vgl. BS 29.4.2020). In der Praxis sind keine Fälle von Strafverfolgung oder Verurteilung von Polizei- und Sicherheitskräften hinsichtlich Misshandlung bekannt. Es gibt auch keine Berichte von Maßnahmen der Regierung, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu verbessern (USDOS 12.4.2022). Dekrete fungieren de facto als gesetzlicher Schutzmechanismus für Mitglieder des Sicherheitsapparats vor eventueller Strafverfolgung bei Verbrechen während der Dienstausübung (OSS 1.10.2017, vgl. HRW 12.2015). Die Sicherheitskräfte operieren unabhängig und im Allgemeinen außerhalb der Kontrolle des Justizwesens (USDOS 11.3.2020). In keinem Teil des Landes besteht ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen (AA 19.5.2020).

Russland, Iran, die libanesische Hizbullah (KAS 4.12.2018a; vgl. DW 20.5.2020) und Einheiten mit irakischen Kämpfern unterstützen die syrische Regierung, unter anderem mit Einsätzen an der Seite der syrischen Streitkräfte (KAS 4.12.2018a).

Es ist schwierig Informationen über die Aktivitäten von spezifischen Regierungs- oder regierungstreuen Einheiten zu spezifischen Zeiten oder an spezifischen Orten zu finden, weil die Einheiten seit dem Beginn des Bürgerkrieges oft nach Einsätzen organisiert („task-organized“) sind, bzw. aufgeteilt oder für spezielle Einsätze mit anderen Einheiten zusammengelegt werden. Berichte sprechen oft von einer speziellen Militäreinheit an einem bestimmten Einsatzort (z.B. einer Brigade), wobei die genannte Einheit aus Teilen mehrerer verschiedener Einheiten nur für diesen speziellen Einsatz oder eine gewisse Zeit zusammengestellt wurde (Kozak 28.12.2017).

Kämpfe um die lokale Vorherrschaft unter den verschiedenen Sicherheitsakteuren (Offiziere, Soldaten, Miliz-Kämpfer und lokale Polizei) des Regimes sind eskaliert und haben zu gegenseitigen Verhaftungen von Personal, offenen Zusammenstößen und Gewalt geführt (TWP 30.7.2019).

Anm.: In den folgenden Unterkapiteln werden einige wichtige Gruppen, Einheiten, Milizen und Sicherheitsbehörden, die auf der Seite der Regierung zum Einsatz kommen, beschrieben. Dies stellt jedoch keine abschließende Aufstellung dar.

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt ,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf , Zugriff 7.9.2020

 BS – Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report – Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf , Zugriff 19.8.2020

 DW – Deutsche Welle (20.5.2020): Syrien: Wie mächtig ist Assad noch?, https://www.dw.com/de/syrien-wie-m%C3%A4chtig-ist-assad-noch/a-53495592 , Zugriff 14.9.2020

 HRW – Human Rights Watch (12.2015): If the Dead Could Speak: Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities, https://www.hrw.org/report/2015/12/16/if-dead-could-speak/mass-deaths-and-torture-syrias-detention-facilities , Zugriff 2.12.2021

 KAS – Konrad Adenauer Stiftung [Gürbey, Gülistana] (4.12.2018a): Zwischen den Fronten – Die Kurden in Syrien, https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/zwischen-den-fronten-1 , Zugriff 18.8.2020

 Kozak, Christopher [Senior Research Analyst am Insitute for the Study of War] (28.12.2017): Auskunft, per E-Mail

 OSS - Omran for Strategic Studies (1.10.2017): Changing the Security Sector in Syria, https://omranstudies.com/publications/papers/download/55_fb0be25bfd0fd60b1efe022f2d8ae158.html , Zugriff 22.4.2021

 TWP – Washington Post (30.7.2019): Assad’s control over Syria’s security apparatus is limited, https://www.washingtonpost.com/politics/2019/07/30/assads-control-over-syrias-security-apparatus-is-limited/ , Zugriff 14.9.2020

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 22.7.2022

 USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2026345.html , Zugriff 22.7.2020

Streitkräfte

Letzte Änderung: 29.12.2022

Die syrischen Streitkräfte bestehen aus dem Heer, der Marine, der Luftwaffe, den Luftabwehrkräften und den National Defense Forces (NDF, regierungstreue Milizen und Hilfstruppen). Aktuelle Daten zur Anzahl der Soldaten in der syrischen Armee existieren nicht. Vor dem Konflikt sollen die Truppen eine Mannstärke von geschätzt 300.000 Personen gehabt haben (CIA 2.12.2022). Zu Jahresbeginn 2013 war etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Soldaten, Reservisten und Wehrpflichtigen desertiert bzw. zur Opposition übergelaufen (zwischen 60.000-100.000 Mann). Weitere rd. 50.000 Soldaten fielen durch Verwundung, Invalidität, Haft oder Tod aus. Letztlich konnte das Regime 2014 nur mehr über rd. 70.000-100.000 loyale und mittlerweile auch kampferprobte Soldaten zurückgreifen (BMLV 12.10.2022). 2014 hat die syrische Armee mit Restrukturierungsmaßnahmen begonnen (MEI 18.7.2019) und seit 2016 werden irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte integriert (CMEC 12.12.2018; vgl. Üngör 15.12.2021). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 2.12.2022).

Die syrische Armee war der zentrale Faktor für das Überleben des Regimes während des Bürgerkriegs. Im Laufe des Krieges hat ihre Kampffähigkeit jedoch deutlich abgenommen (CMEC 26.3.2020) und mit Stand September 2022 war die syrische Armee in jeglicher Hinsicht grundsätzlich auf die Unterstützung Russlands, Irans bzw. sympathisierender, vornehmlich schiitischer Milizen, angewiesen – d.h. ein eigenständiges Handeln, Durchführung von Militäroperationen usw. sind nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Rahmen möglich (BMLV 12.10.2022).

Im Zuge des Konfliktes hat das Regime loyale Einheiten in größere Einheiten der Streitkräfte eingegliedert, um eine bessere Kontrolle ausüben und ihre Effektivität im Kampf verbessern zu können (ISW 8.3.2017). Der Aufbau basiert auf dem sogenannten Qutaʿa-System [arab. Sektor, Landstück]. Hierbei wird jeder Division (firqa) ein bestimmtes Gebiet (qutaʿa) zugeteilt. Mit diesem System wurde in der Vergangenheit verhindert, dass Offiziere überlaufen. Gleichzeitig hatte der Divisionskommandeur für den Fall eines Zusammenbruchs der Kommunikation oder für Notfälle freie Hand über dieses Gebiet. Dadurch kann der Präsident auch den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einschränken, indem er sie gegeneinander ausspielt (CMEC 14.3.2016).

Das syrische Regime und damit auch die militärische Führung unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und "rein militärischen Zielen" (BMLV 12.10.2022). Nach Experteneinschätzung trägt jeder, der in der syrischen Armee oder Luftwaffe dient, per Definition zu Kriegsverbrechen bei, denn das Regime hat in keiner Weise gezeigt, dass es das Kriegsrecht oder das humanitäre Recht achtet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass eine Person in eine Einheit eingezogen wird, auch wenn sie das nicht will, und somit in einen "schmutzigen" Krieg, in dem die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern nicht wirklich ernst genommen wird (Üngör 15.12.2021). Soldaten können in Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein, weil das Militär in Syrien auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, manchmal auch auf familiären Netzwerken innerhalb des Militärs beruht. Diejenigen, die Verbrechen begehen, handeln innerhalb eines vertrauten Netzwerks von Soldaten, Offizieren, Personen mit Verträgen mit der Armee, Zivilisten, die mit ihnen als nationale Verteidigungskräfte oder lokale Gruppen zusammenarbeiten (Khaddour 24.12.2021).

Anmerkung: für Informationen zum 4. und 5. Korps der syrischen Armee s. auch Kap. "Regierungstreue Einheiten, ausländische Kämpfer, russischer und iranischer Einfluss".

Quellen:

 Balanche, Fabrice - Universität von Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall

 BMLV – Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (12.10.2022): Antwortschreiben Version 2 (Stand 16.9.2022)

 CIA - Central Intelligence Agency [USA] (2.12.2022): The World Factbook: Syria – Military and Security, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/syria/#military-and-security , Zugriff12.12.2022

 CMEC - Carnegie Middle East Center (26.3.2020): Russia and Syrian Military Reform: Challenges and Opportunities, https://carnegie-mec.org/2020/03/26/russia-and-syrian-military-reform-challenges-and-opportunities-pub-81154 , Zugriff 19.12.2022

 CMEC - Carnegie Middle East Center (12.12.2018): Reintegrating Syrian Militias: Mechanisms, Actors, and Shortfalls, https://carnegie-mec.org/2018/12/12/reintegrating-syrian-militias-mechanisms-actors-and-shortfalls-pub-77932 , Zugriff 19.12.2022

 CMEC - Carnegie Middle East Center (14.3.2016): Strength in Weakness: The Syrian Army’s Accidental Resilience, http://carnegie-mec.org/2016/03/14/strength-in-weakness-syrian-army-s-accidental-resilience-pub-62968 , Zugriff 19.12.2022

 ISW - Institute for the Study of War [Kozak, Christopher] (8.3.2017): Iran’s Assad Regime, http://www.understandingwar.org/sites/default/files/Iran%27s%20Assad%20Regime.pdf , Zugriff 19.12.2022

 Khaddour, Kheder - Gastwissenschaftler beim Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videocall

 MEI - Middle East Institute (18.7.2019): The Lion and The Eagle: The Syrian Arab Army’s Destruction and Rebirth, https://www.mei.edu/publications/lion-and-eagle-syrian-arab-armys-destruction-and-rebirth#pt5 , Zugriff 19.12.2022

 Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, per Videocall

Zivile und militärische Sicherheits- und Nachrichtendienste, Polizei

Letzte Änderung: 05.08.2022

Es gibt vier Sicherheits- und Nachrichtendienste: den militärischen Nachrichtendienst, den Luftwaffennachrichtendienst, das Direktorat für politische Sicherheit und das allgemeine Nachrichtendienstdirektorat (USDOS 12.4.2022; vgl. EIP 6.2019). Die zahlreichen syrischen Sicherheitsbehörden arbeiten autonom und ohne klar definierte Grenzen zwischen ihren Aufgabenbereichen (USDOS 30.3.2021). Jeder Geheimdienst unterhält eigene Gefängnisse und Verhöreinrichtungen, bei denen es sich de facto um weitgehend rechtsfreie Räume handelt. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle im Zuge des Konfliktes verteidigt oder sogar weiter ausgebaut (AA 4.12.2020). Innerhalb der Sicherheitsdienste ist bekannt, dass die Nachrichtendienste der Luftwaffe am wenigsten einer Kontrolle unterliegen und mit der geringsten Zurückhaltung agieren (BS 29.4.2020). Vor 2011 war die vorrangige Aufgabe der Nachrichtendienste die syrische Bevölkerung zu überwachen. Seit dem Beginn des Konfliktes nutzt Assad den Sicherheitssektor, um die Kontrolle zu behalten. Diese Einheiten überwachten, verhafteten, folterten und exekutierten politische Gegner sowie friedliche Demonstranten. Um seine Kontrolle über die Sicherheitsdienste zu stärken, sorgte Assad künstlich für Feindschaft und Konkurrenz zwischen ihnen. Um die Loyalität zu sichern, wurde einzelnen Behörden bzw. Beamten die Kontrolle über alle Bereiche des Staatswesens in einem bestimmten Gebiet überlassen, was für diese eine enorme Geldquelle darstellt (EIP 6.2019).

Die Sicherheitskräfte nutzen eine Reihe an Techniken, um Bürger einzuschüchtern oder zur Kooperation zu bringen. Diese Techniken beinhalten im besten Fall Belohnungen, jedoch auch Zwangsmaßnahmen wie Reiseverbote, Überwachung, Schikanen von Individuen und/oder deren Familienmitgliedern, Verhaftungen, Verhöre oder die Androhung von Inhaftierung. Die Zivilgesellschaft und die Opposition in Syrien sind Ziel spezieller Aufmerksamkeit von den Sicherheitskräften, aber auch ganz im Allgemeinen müssen Gruppen und Individuen mit dem Druck der Sicherheitsbehörden umgehen (GS 11.2.2017; vgl. USDOS 30.3.2021). Gebiete, in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, stehen nun unter verstärkter Beobachtung der Geheimdienste (Üngör 15.12.2021).

Der Sicherheitssektor übt eine allgegenwärtige Kontrolle über die Gesellschaft (sowohl informell als auch formell) aus. Festnahmen und Inhaftierungen werden genutzt, um Informationen zu erhalten, jene, die als illoyal gesehen werden, zu bestrafen, und um Geld für die Freilassung der Inhaftierten zu erpressen (EIP 6.2019).

In jüngster Zeit hat das syrische Regime seine Sicherheitsdienste umgebaut, indem es neue "Loyalisten" in leitende Sicherheitspositionen berufen hat. Es handelt sich um Personen, die sich durch ihre Rolle bei der Eskalation der Gewalt nach 2011 einen Namen machten, und gegen die das Regime in Form von Akten über Korruption erhebliche Druckmittel besitzt. Es zeigt sich außerdem grundsätzlich eine breitere Dynamik der russisch-iranischen Konkurrenz um die Gestaltung des syrischen Sicherheitstrukturen (Clingendael 5.2020). Die Führung der Sicherheitsdienste hat oft enge familiäre und persönliche Beziehungen zum Präsidenten, der Alawit ist. Im Allgemeinen sind diese Behörden weitgehend mit Personen aus Gemeinschaften besetzt, die historisch der herrschenden Familie gegenüber loyal sind. Das klarste Beispiel hierfür ist die verhältnismäßig große Anzahl an Alawiten, die im Sicherheitssektor arbeiten (NMFA 5.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt ,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

 BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report - Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf , Zugriff 19.8.2020

 Clingendael (5.2020): The nature of the Syrian regime, Chapter 1, CRU Report, https://www.clingendael.org/pub/2020/pandoras-box-in-syria/1-the-nature-of-the-syrian-regime/ , Zugriff 14.9.2020

 EIP - European Institute of Peace (6.2019): Refugee return in Syria: Dangers, security risks and information scarcity, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018602/EIP+Report+-+Security+and+Refugee+Return+in+Syria+-+July.pdf , Zugriff 27.10.2020

 GS - Global Security (11.2.2017): Syria Intelligence & Security Agencies, http://www.globalsecurity.org/intell/world/syria/intro.htm , Zugriff 14.9.2020

 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2020): Country of Origin Information Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf , Zugriff 17.8.2021

 Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 22.7.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048105.html , Zugriff 10.6.2021

Regierungstreue Einheiten, ausländische Kämpfer, russischer und iranischer Einfluss

Letzte Änderung: 05.08.2022

Die National Defence Forces (NDF) sind eine Dachorganisation für verschiedene Pro-Regime-Milizen und wurden aus sogenannten Volkskomitees gegründet (FIS 14.12.2018). Der Iran und die libanesische Hizbollah spielten eine wichtige Rolle bei der Gründung der NDF nach dem Vorbild der iranischen paramilitärischen Basij-Einheiten (ISW 8.3.2017; vgl. JTF 24.3.2017, CMEC 26.3.2020a). Die NDF sind nicht Teil der syrischen Armee, aber offiziell als "Verbündete" und als legitime Institutionen anerkannt, die Waffen tragen dürfen und zudem operative und logistische Unterstützung durch die syrische Armee erhalten. Die regierungstreuen Milizen stellen für die Regierung jedoch auch eine Konkurrenz dar, z.B. in Zusammenhang mit der Rekrutierung, weil die Milizen teilweise über bessere Finanzierung verfügen, und somit höheren Sold bezahlen können. Manche der bewaffneten Gruppen kritisieren die syrische Regierung und ihre Geheimdienste auch vergleichsweise offen (FIS 14.12.2018). Pro-Regime Milizen wie die NDF (National Defence Forces - Nationale Selbstverteidigungskräfte) integrierten sich mit anderen regimetreuen Kräften und führten ähnliche Aufgaben ohne definierte Zuständigkeiten aus (USDOS 12.4.2022).

Die regierungsnahen Milizen stellen mittlerweile selbst eine Bedrohung der staatlichen Souveränität dar, weil sie an Größe, Anzahl und Einfluss gewonnen haben (CMEC 26.3.2020a). Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend (AA 29.11.2021).

Iran und Russland unterstützen jeweils unterschiedliche Einheiten bzw. Akteure des syrischen Sicherheitssektors (TWP 30.7.2019). Russland konzentriert sich vor allem auf den Aufbau von staatlichen Institutionen, während der Iran auch Einfluss außerhalb syrischer staatlicher Institutionen ausübt (Clingendael 5.2020; vgl. CMEC 26.3.2020a). Milizen, die von der libanesischen Hizbollah und den iranischen Quds-Brigaden eingerichtet wurden, treten als nahezu unabhängige Einheiten auf (JTF 26.6.2020; vgl. CMEC 26.3.2020a).

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Unterstützung mit fortschrittlichen Waffentechnologien, Spezial- und Lufteinheiten, sowie die ausgeweitete Bodenintervention Irans konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018b). Das Eingreifen Russlands, Irans und der Hizbollah bilden seit 2011 jedoch auch die wichtigste Quelle für die Erosion der Autonomie und Souveränität des syrischen Regimes: Dieses ist weiterhin abhängig von der politischen und militärischen Unterstützung Russlands und Irans (Clingendael 5.2020).

Russland ist besonders in die Reform der syrischen Streitkräfte involviert (CMEC 26.3.2020c). Im Oktober 2015 wurde das sogenannte Vierte Korps (Fourth Storming Corps/Fourth Assault Corps) und im November 2016 das Fünfte Korps ("Fifth Storming Corps"/"Fifth Assault Corps") gegründet (Kozak 3.2018). Ähnlich wie die NDF sollten auch diese beiden Einheiten Strukturen bieten, in denen regierungstreue Milizen integriert, und so unter die Kontrolle der Regierung gebracht werden (CEIP 12.12.2018; vgl. TWP 30.7.2019). In das Vierte Korps wurden neben Einheiten aus den syrischen Streitkräften auch irreguläre Einheiten aus NDF-Mitgliedern und Wehrpflichtigen aus Lattakia aufgenommen (CMEC 26.3.2020b). Das Fünfte Korps besteht ausschließlich aus Freiwilligen, einerseits aus verschiedenen Einheiten der syrischen Armee, andererseits vor allem aber aus irregulären Einheiten wie den NDF oder loyalen Ba'ath-Bataillonen. Rekrutiert wurde in ganz Syrien. 2018 wurden auch ehemalige Rebellen aus der Provinz Dara’a in das Fünfte Korps integriert. Zu Beginn oblag das Kommando vollständig dem russischen Militär. Mittlerweile haben russische Berater weniger Einfluss (CMEC 26.3.2020b).

Von Russland gestützte Milizen stellen eine große Bedrohung für die Bevölkerung dar, weil sie an keine Gesetze oder Regeln gebunden sind (DIYARUNA 20.8.2020). Angesichts der Sensibilität der russischen öffentlichen Meinung in Bezug auf militärische Verluste sind viele der in Syrien kämpfenden Russen Söldner - offiziell auf Eigeninitiative, aber in Wirklichkeit von privaten Militärunternehmen mit mutmaßlichen Verbindungen zum Kreml, wie z.B. der Wagner-Gruppe (EPRS 11.2018). Es gibt zahlreiche Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen der Wagner-Gruppe gegen Zivilisten (FIDH 22.3.2021, vgl. RFE/RL 15.3.2021).

Die traditionelle Strategie des Iran besteht darin, parallele nicht-staatliche Militärstrukturen zu schaffen und zu entwickeln, die dem syrischen Staat nicht direkt unterstellt und dem Iran gegenüber loyaler sind als dem syrischen Zentralkommando (CMEC 26.3.2020a). Das syrische Regime hat während des Konflikts ausländische schiitische Milizen eingesetzt, die vor allem vom Iran getragen werden (CMEC 26.3.2020a). Die iranische Koalition besteht aus iranischen Kämpfern (Teileinheiten der Iranischen Revolutionswächter und der regulären iranischen Streitkräfte - sogenannte "Artesh"-Kämpfer) und ausländischen Kämpfern (ISW 8.3.2017), darunter Pakistanis und Afghanen (KAS 4.12.2018b; vgl. CMEC 26.3.2020a). Iranische Offiziere unterstützen auch Einheiten der syrischen Armee, regierungstreue Milizen, die (libanesischen) Hizbollah sowie irakische schiitische Milizen bei der Planung und Koordination von Einsätzen. Die afghanischen und pakistanischen Kämpfer werden von den iranischen Einheiten rekrutiert, ausgebildet, versorgt und ihre Führung im Kampf wird von iranischer Seite organisiert (KAS 4.12.2018b; vgl. CMEC 26.3.2020a).

Hochrangige syrische Funktionäre erlebten durch die iranische und russische Dominanz einen Machtverlust, der wiederholt zu Spannungen in der iranisch-russisch-syrischen Militärkooperation führte (KAS 4.12.2018b). Im Zuge dessen kam es auch zu Säuberungen, Exekutionen und Versetzungen von niederrangigen oder auch höherrangigen syrischen Offizieren, die sich gegen die Ausweitung des iranischen Einflusses wehrten (ISW 8.3.2017). Im Jahr 2017 und vor allem im Jahr 2018 standen sich die verschiedenen Unterstützer des syrischen Regimes immer stärker konfrontativ gegenüber. Im Juni 2018 kam es beispielsweise zu einem offenen Zusammenstoß zwischen der Hizbollah und syrischen Truppen unter russischer Führung und im Januar 2019 zu Kämpfen zwischen dem Vierten (de facto iranisch kontrolliert) und dem Fünften (unter russischer Dominanz) Korps der syrischen Armee in der Provinz Hama (BS 29.4.2020). Spannungen entstehen auch oft durch das Aufeinanderprallen lokaler Organisationen des Sicherheitsapparats bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen bezüglich Einnahmen, Personalstärke und Relevanz. Derart eskalierende Interessenskonflikte zwischen Offizieren, Soldaten, Milizionären und lokalen Polizisten umfassen z.B. Verhaftungen von niedrigrangigeren Mitgliedern der konkurrierenden Sicherheitsorganisation und offene Konfrontationen auch mit Gewalt - Berichten zufolge auch in Form von Attentaten auf die durch die "Versöhnungsabkommen" rekrutierten ehemaligen Oppositionskämpfer der gegnerischen Organisation (TWP 30.7.2019). Im Dezember 2021 wurde von der Ermordung prominenter Offiziere in der Küstenregion Syriens berichtet, welche möglicherweise mit dem Machtkampf zwischen Russland und dem Iran zu tun hatten. Der Konflikt konzentriert sich derzeit auf die vom Iran unterstützte Vierte Division, die vom Bruder des Regimepräsidenten Maher al-Assad angeführt wird, und auf das Fünften Korps, das neben mehreren anderen Brigaden Russland vertritt (TSO 15.12.2021).

Die Diversifizierung der bewaffneten Akteure im Sicherheitsapparat hat zur Etablierung lokaler, mafiaartiger Machtzentren geführt und verschafft Warlords Einfluss (BS 23.2.2022).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1 , Zugriff 3.3.2022

 BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf , Zugriff 25.3.2022

 BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report - Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf , Zugriff 19.8.2020

 CEIP - Carnegie Endowment for International Peace (12.12.2018): Reintegrating Syrian Militias: Mechanisms, Actors, and Shortfalls, https://carnegieendowment.org/publications/?fa=77932 , Zugriff 22.9.2020

 CMEC - Carnegie Middle East Center (26.3.2020a): Russia and Syrian Military Reform: Challenges and Opportunities, https://carnegie-mec.org/2020/03/26/russia-and-syrian-military-reform-challenges-and-opportunities-pub-81154 , Zugriff 14.9.2020

 CMEC - Carnegie Middle East Center (26.3.2020b): The Efficiency of the Syrian Armed Forces: An Analysis of Russian Assistance, https://carnegie-mec.org/2020/03/26/efficiency-of-syrian-armed-forces-analysis-of-russian-assistance-pub-81150 , Zugriff 22.9.2020

 CMEC - Carnegie Middle East Center (26.3.2020c): Russia’s Role in Reforming Syrian Special Services, https://carnegie-mec.org/2020/03/26/russia-s-role-in-reforming-syrian-special-services-pub-81151 , Zugriff 22.9.2020

 Clingendael (5.2020): The nature of the Syrian regime, Chapter 1, CRU Report, https://www.clingendael.org/pub/2020/pandoras-box-in-syria/1-the-nature-of-the-syrian-regime/ , Zugriff 14.9.2020

 DIYARUNA (20.8.2020): Russian private military companies pose grave threat to Syria: experts, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2020/08/20/feature-01 , Zugriff 20.8.2021

 EPRS - European Parliamentary Research Service (11.2018): Russia in the Middle East https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2018/630293/EPRS_BRI(2018)630293_EN.pdf , Zugriff 17.8.2021

 FIDH - International Federation for Human Rights (22.03.2021): Complaint filed in Moscow against Wagner paramilitary fighters, on behalf of Syrian victim, https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/russia/breaking-legal-action-complaint-filed-in-moscow-against-wagner , Zugriff 18.8.2021

 FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf , Zugriff 22.7.2020

 ISW - Institute for the Study of War [Kozak, Christopher] (8.3.2017): Iran’s Assad Regime, http://www.understandingwar.org/sites/default/files/Iran%27s%20Assad%20Regime.pdf , Zugriff 14.9.2020

 JTF - Jamestown Foundation (26.6.2020): Could Russia Lose the Syrian Arab Army to Iran or General Maher al-Assad?, https://jamestown.org/program/could-russia-lose-the-syrian-arab-army-to-iran-or-general-maher-al-assad/ , Zugriff 22.9.2020

 JTF - Jamestown Foundation (24.3.2017): Institutionalized 'Warlordism': Syria’s National Defense Force; Terrorism Monitor Volume: 15 Issue: 6, https://www.ecoi.net/local_link/338196/481168_de.html , Zugriff 22.9.2020

 KAS - Konrad Adenauer Stiftung [Wörmer, Nils] (4.12.2018b): Assads afghanische Söldner, www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/assads-afghanische-soldner , Zugriff 22.9.2020

 Kozak, Christopher (3.2018): 'Pro-Assad Forces'. In EASO - European Asylum Support Office: EASO COI Meeting Report - Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/1427709/1226_1522073171_syria-coi-meeting-report-nov-dec-2017-published-march-2018.pdf , Zugriff 22.9.2020

 NLM - Newline Magazine (22.12.2021): A Syrian Army Deserter Was Savagely Killed by Putin’s Wagner. Now His Family Seek Justice in Russia, https://newlinesmag.com/reportage/family-seek-justice-in-russia-fo-syrian-army-deserter-was-savagely-killed-by-putins-wagner/ , Zugriff 12.1.2022

 RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (15.3.2021): Complaint Filed In Moscow Against Vagner Mercenary Group Over Torture Of Syrian Detainee, https://www.ecoi.net/en/document/2047249.html , Zugriff 17.8.2021

 TMT - The Moscow Times (9.1.2020): Russia’s Role in Syria is Changing, https://www.themoscowtimes.com/2020/01/09/russias-role-syria-changing-a68823 , Zugriff 22.9.2020

 TSO - The Syrian Observer (15.12.2021): Assassination of Senior Officers in Coastal Syria: Struggle for Power?, https://syrianobserver.com/security/72034/assassination-of-senior-officers-in-coastal-syria-struggle-for-power.html , Zugriff 12.1.2022

 TWP - Washington Post (30.7.2019): Assad’s control over Syria’s security apparatus is limited, https://www.washingtonpost.com/politics/2019/07/30/assads-control-over-syrias-security-apparatus-is-limited/ , Zugriff 25.3.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 25.7.2022

Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 29.12.2022

Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichteten jedoch von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung vermeintlicher Oppositioneller einsetzten, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und sogar schon vor 2011 dokumentiert wurde. Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 13.1.2021; vgl. AI 7.4.2021, USDOS 12.4.2022, AA 4.12.2020).

In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen (SHRC 24.1.2019).

Das Auswärtige Amt fasst die Haftbedingungen in Syrien als "unverändert grausam und menschenverachtend" zusammen. Dies ist allgemein der Fall, gilt jedoch besonders für diejenigen Haftanstalten, in denen DissidentInnen und sonstige politische Gefangene festgehalten werden (AA 29.11.2021). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände danach aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.11.2021). NGOs berichten, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlungen, Bestrafungen und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten verüben (USDOS 12.4.2022; vgl. TWP 23.12.2018). Gefängnispersonal und Nachrichtendienstoffiziere sowie weitere Regimetruppen und regierungstreue Kräfte begingen sexuellen Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern (USDOS 12.4.2022). Unter den von der UN Commission of Inquiry (COI) dokumentierten Fällen waren die jüngsten betroffenen Buben und Mädchen elf Jahre alt (HRW 13.1.2022). Die Regierung nimmt hierbei auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 30.3.2021). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben. (AA 29.11.2021; vgl. bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021).

Systematische Folter, Hinrichtungen und die Haftbedingungen führen zu einer hohen Sterblichkeitsrate von Gefangenen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung (USDOS 12.4.2022). Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 12.4.2022; vgl. SHRC 24.1.2019). Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 12.4.2022). SNHR schätzt die Gesamtzahl der verschwunden gelassenen Personen auf mindestens 100.000, hinter fast 85% dieser steckt das Regime (HRW 13.1.2022). Zehntausende Menschen sind weiterhin in willkürlicher Haft, darunter humanitäre Helfer, Anwälte, Journalisten und friedliche Aktivisten (AI 7.4.2021).

In Gebieten, die unter der Kontrolle der Opposition standen und von der Regierung zurückerobert wurden, darunter Ost-Ghouta, Dara'a und das südliche Damaskus, verhafteten die syrischen Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und ihre Familienangehörigen, obwohl sie alle Versöhnungsabkommen mit den Behörden unterzeichnet hatten, in denen garantiert wurde, dass sie nicht verhaftet würden (HRW 14.1.2020; vgl. ÖB 1.10.2021).

Zwischen März 2011 und Juni 2021 dokumentierte das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) den Tod von mindestens 14.565 Personen, darunter 181 Kinder und 93 (erwachsene) Frauen, durch Folter durch die Konfliktparteien und die kontrollierenden Kräfte in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,6 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 14.6.2021). Im gesamten Jahr 2021 zählte SNHR insgesamt 104 Todesopfer aufgrund von Folter (SNHR 1.1.2022). Seit 2018 wurden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe unspezifischer Todesursachen (Herzversagen, Schlaganfall etc.). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen. (AA 29.11.2021). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht: Im Jahr 2020 lag die Rate bei etwa 17 Personen pro Monat. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Verwandten zu erfahren (SHRC 9.1.2021). Die syrische Regierung übergibt nicht die sterblichen Überreste der Verstorbenen an die Familien (HRW 14.1.2020).

Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Gefängnissen sind jedoch keine Neuerungen der Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019).

Am 4.11.2020 ließ die syrische Regierung 60 Personen aus Gefängnissen im südlichen Syrien und Damaskus frei (HRW 13.1.2022).

Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken (NMFA 7.2019). Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.11.2021).

Syrien hat am 30.3.2022 das Anti-Folter-Gesetz Nr. 16 per Präsidialdekret erlassen, das Folter zu einem Straftatbestand (Verbrechen) macht und harte Strafen für alle Personen (Privatpersonen oder Beamte) vorsieht, die Folter anwenden. Nichtsdestotrotz hat SNHR seit dem Inkrafttreten des Dekrets von Ende März bis Juni 2022 elf Todesfälle durch Folter in syrischen Haftanstalten dokumentiert und kritisiert unter anderem, dass das Dekret keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022, vgl. STJ 12.7.2022).

Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten, Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Berichte dazu betreffen u.a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), IS (Islamischer Staat), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 12.4.2022).

Anmerkung: Mehr zu Art und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen durch die jeweiligen bewaffneten Gruppen ist im Kapitel zur Sicherheitslage zu ihren jeweiligen Gebieten sowie im Kapitel zu Menschenrechtsverletzungen zu finden.

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1 , Zugriff 23.11.2022

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt ,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 23.11.2022

 AI - Amnesty International (31.3.2022): Syria: New anti-torture law "whitewashes" decades of human rights violations, https://www.ecoi.net/en/document/2070690.html , Zugriff 29.11.2022

 AI - Amnesty International (7.4.2021): Syrien 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048575.html , Zugriff 23.11.2022

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2066477.html , Zugriff 23.11.2022

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2043510.html , Zugriff 23.11.2022

 HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2022683.html , Zugriff 23.11.2022

 NMFA - Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands - Department for Country of Origin Information Reports [Niederlande] (7.2019): Country of Origin Information Report Syria - The security situation [Niederlande], per E-Mail am 27.8.2019

 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html , Zugriff 23.11.2022

 SHRC - Syrian Human Rights Committee (9.1.2021): The 20th Annual Report on Human Rights in Syria 2021, https://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2022/01/20220106-English-Report_web.pdf , Zugriff 23.11.2022

 SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf , Zugriff 23.11.2022

 SNHR - Syrian Network for Human Rights (26.6.2022): The 11th Annual Report on Torture in Syria on the International Day in Support of Victims of Torture, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/06/R220610E.pdf , Zugriff 29.11.2022

 SNHR - Syrian Network for Human Rights (1.1.2022): 1,271 Civilians, Including 299 Children, 134 Women, and 104 Victims of Torture, Killed in Syria in 2021, https://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/1271_Civilians_Including_229_Children_134_Women_and_104_Victims_of_Torture_Killed_in_Syria_in_2021_en.pdf , Zugriff 23.11.2022

 SNHR - Syrian Network for Human Rights (14.6.2021): Death Toll due to Torture, https://sn4hr.org/blog/2021/06/14/death-toll-due-to-torture/ , Zugriff 23.11.2022

 STJ - Syrians for Truth & Justice (12.7.2022): Syria: Anti-Torture Law Issued 35 Years After the Convention against Torture Went Effective, https://stj-sy.org/en/syria-anti-torture-law-issued-35-years-after-the-convention-against-torture-went-effective/ , Zugriff 29.11.2022

 TWP - The Washington Post (23.12.2018): Syria’s once teeming prison cells being emptied by mass murder, https://www.washingtonpost.com/graphics/2018/world/syria-bodies/?noredirect=on&utm_term=.6a8815bb3721 , Zugriff 23.11.2022

 Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 23.11.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048105.html , Zugriff 23.11.2022

Korruption

Letzte Änderung: 29.12.2022

Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2021 liegt Syrien mit einer Bewertung von 13 von 100 Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean) auf dem vorletzten Platz 179 von 180 untersuchten Ländern (TI 1.2022).

Korruption war bereits vor dem Bürgerkrieg weit verbreitet und beeinflusste das tägliche Leben der Syrer (FH 1.2017). Sie wurde im Laufe des Konfliktes noch viel schlimmer (BS 29.4.2020). Der Machtmissbrauch der syrischen Behörden war eine der Hauptursachen für den Aufstand im Jahr 2011. Die zunehmende Gesetzlosigkeit, von der Syrien im Laufe des Krieges betroffen war, die florierende Kriegswirtschaft und die Kürzung der Gehälter der syrischen Staats- und Regimebediensteten erhöhten die Anreize und Möglichkeiten für Korruption (NLI 4.6.2021). Das Gesetz sieht strafrechtliche Konsequenzen für amtliche Korruption vor, die Regierung setzt diese jedoch nicht effektiv durch. Beamte üben häufig korrupte Praktiken aus, ohne dafür bestraft zu werden. Korruption ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem bei Polizei, Sicherheitskräften, Migrationsbehörden und in der Regierung (USDOS 12.4.2022).

Mitglieder und Verbündete des Regimes sollen einen Großteil der syrischen Wirtschaft besitzen oder kontrollieren. Der Bürgerkrieg hat neue Möglichkeiten für Korruption in der Regierung, den regierungstreuen Streitkräften und im Privatsektor geschaffen. Auch verteilte das Regime regelmäßig Zuwendungen in Form öffentlicher Ressourcen an von ihr bevorzugte Industrien und Firmen, bzw. implementierte auch Maßnahmen zu deren Gunsten. Regierungsverträge und Handelsabkommen ergingen an Vertreter ausländischer Verbündeter wie Russland oder Iran. Selbst grundlegende staatliche Dienstleistungen und humanitäre Hilfe sind Berichten zufolge von der demonstrierten Loyalität zum Assad-Regime abhängig, oder werden andernfalls vorenthalten. Personen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, die versuchen, offizielle Korruption aufzudecken oder zu kritisieren - zum Beispiel in den sozialen Medien - sehen sich Repressalien ausgesetzt, einschließlich Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis und Inhaftierung (FH 2021).

Die Mitgliedschaft in der Baʿath-Partei oder enge familiäre Beziehungen zu einem prominenten Parteimitglied oder einem mächtigen Regimebeamten helfen beim wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Aufstieg. Partei- oder Regimeverbindungen erleichterten die Zulassung zu besseren Schulen, den Zugang zu lukrativen Arbeitsplätzen und den Aufstieg und die Macht innerhalb der Regierung, des Militärs und der Sicherheitsdienste. Das Regime reservierte bestimmte prominente Positionen, wie z. B. Gouverneursposten in den Provinzen, ausschließlich für Mitglieder der Baʿath-Partei (USDOS 12.4.2022). Die Duldung von Korruption sichert dem Regime das Stillhalten von Personen sowie deren Verbleib auf Regimeseite, ohne dass ihm Kosten entstehen (BS 23.2.2022).

Laut einer von der syrischen NGO The Day After (TDA) im September 2022 durchgeführten Studie geben mehr als 70 % aller Familien, die in den vom Regime kontrollierten Gebieten leben, an, dass Korruption ihre Lebensbedingungen stark beeinträchtigt, wobei der Anteil mit 81 % der Familien in Damaskus am höchsten ist. Darüber hinaus zeigen die Daten, dass dieses Phänomen, wenn auch in geringerem Maße, in allen anderen Regionen weit verbreitet ist. - Die Quote in den Gebieten der [kurdischen] Autonomieverwaltung beträgt in etwa 57 % und in Idlib und A'zaz kommt sie auf etwa 50 % (TDA 9.2022).

Bewegungseinschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie schufen 2020 noch mehr Möglichkeiten für Korruption, weil diejenigen, welche es sich leisten konnten, Bestechungsgelder an Beamte und Sicherheitskräfte zahlten, um die Regeln zu umgehen (FH 2021).

In der syrischen Armee gibt es eine Tradition der Bestechung Ranghöherer (FIS 14.12.2018), etwa um eine bessere Position oder einfachere Aufgaben zu erhalten, einen Einsatz an der Frontlinie zu vermeiden oder überhaupt den Wehrdienst selbst zu umgehen (FIS 14.12.2018; vgl. DIS 5.2020).

Zu Korruption in Zusammenhang mit Gefangenen und Verschwundengelassenen siehe Abschnitt: Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung.

Quellen:

 BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf , Zugriff 23.11.2022

 BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf , Zugriff 23.11.2022

 DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria Military Service, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf , Zugriff 23.11.2022

 FH - Freedom House (2021): Freedom in the World 2021 - Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2021 , Zugriff 23.11.2022

 FH - Freedom House (1.2017): Freedom in the World 2017 - Syria, https://www.ecoi.net/local_link/341821/485142_de.html , Zugriff 23.11.2022

 FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf , Zugriff 23.11.2022

 NLI - Newlines Institute for Strategy and Policy (4.6.2021): Syrian Regime No Longer Able to Provide for Loyalists, https://newlinesinstitute.org/syria/syrian-regime-no-longer-able-to-provide-for-loyalists/ , Zugriff 23.11.2022

 TDA - The Day After (9.2022): Mechanisms of Exploitation: Economic and Social Changes in Syria During the Conflict, https://library.fes.de/pdf-files/bueros/beirut/19603-20221017.pdf , Zugriff 29.11.2022

 TI - Transparency International (1.2022): Corruption Perceptions Index 2021, https://images.transparencycdn.org/images/CPI2021_Report_EN-web.pdf , Zugriff 23.11.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 23.11.2022

Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 29.12.2022

Anmerkungen:

In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.

Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.

Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".

Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst

Letzte Änderung: 29.12.2022

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.9.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.11.2021).

Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB 1.10.2021).

Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB 1.10.2021; vgl. EASO 4.2021).

Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020). Die im März 2020 und Mai 2021 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetzbuch, darunter Fahnenflucht; die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB 1.10.2021).

Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).

Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palästinensischen Befreiungsarmee (Palestinian Liberation Army - PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018, ACCORD 21.9.2022).

Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 17.8.2021; vgl. FIS 14.12.2018).

Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 2.12.2022).

Die Umsetzung

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).

Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet, besonders auch aus wiedereroberten Gebieten (EASO 11.2021). Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020).

Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018; vgl. ICG 9.5.2022). In Homs führt die Militärpolizei beispielsweise stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 3.6.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 3.6.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht. Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten der AANES, in denen die kurdischen Gruppierungen vor Ort die Oberhand haben. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022).

Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) operiert hauptsächlich im Gouvernement Idlib und anderen Gebieten im Nordwesten Syriens (Grenzstädte zur Türkei). Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 12.12.2022). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen und sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen, was ihre Verhaftung zur Rekrutierung erleichtert, wenn sie das Gouvernement Idlib in Gebiete unter der Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich im Gouvernement Aleppo konzentriert, von der Türkei unterstützt wird und aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA) besteht. Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann dort keine Personen für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022).

Reservedienst

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 oder sogar 62 Jahren, abhängig vom Rang, eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen (ÖB 29.9.2020; vgl. FIS 14.12.2018, vgl. NMFA 5.2020). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020).

Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung

Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).

Vor 2011 lag die Dauer der Wehrpflicht zwischen eineinhalb und zweieinhalb Jahren. Seit 2011 leisten die meisten Reservisten und Militärangehörigen ihren Dienst auf unbestimmte Zeit (NMFA 6.2021), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte (DIS 5.2020; vgl. ÖB 7.2019). Nachdem die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020, vgl. NMFA 6.2021). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Im November 2020 erließ die Armeeführung der syrischen Regierung zwei Verwaltungserlässe, mit denen der Militärdienst für bestimmte Kategorien von Offizieren und Ärzten, die bis Januar 2021 zwei, bzw. siebeneinhalb Jahre als Reservisten gedient haben, faktisch beendet wird (COAR 24.11.2020). Zwei Erlässe beendeten mit 7.4.2020 den Militärdienst für bestimmte Kategorien von ehemals Wehrpflichtigen, welche nach dem Wehrdienst nicht abgerüstet worden waren, sowie von einberufenen Reservisten. Zwei weitere Erlässe - Berichten zufolge im November 2020 - beendeten den Einsatz und die Einberufung bestimmter Profile von Reservisten (EASO 11.2021). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 6.2021). Gleichzeitig werden Berichten aus dem Jahr 2021 zufolge weiterhin neue Rekruten und Reservisten eingezogen, und Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet, besonders auch aus wiedereroberten Gebieten (EASO 11.2021).

Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara'a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Alle Eingezogenen können dagegen laut EASO [Anm.: inzwischen in European Union Agency for Asylum (EUAA) umbenannt] potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EASO 11.2021). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]

Quellen:

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 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html , Zugriff 12.12.2022

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/1451486.html , Zugriff 12.12.2022

 ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (21.9.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst?, https://www.ecoi.net/de/dokument/2080420.html , Zugriff 9.12.2022

 ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (1.12.2022): The State of Syria: Q2 2022 – Q3 2022, https://acleddata.com/2022/12/01/the-state-of-syria-q2-2022-q3-2022/ , Zugriff 12.12.2022

 BMLV - Militärexperte des Bundesministeriums für Landesverteidigung [Österreich] (12.10.2022): Antwortschreiben Version 2 (Stand 16.9.2022), per e-Mail

 CIA - Central Intelligence Agency [USA] (2.12.2022): The World Factbook: Syria - Military and Security, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/syria/#military-and-security , Zugriff 12.12.2022

 CMEC - Carnegie Middle East Center (12.12.2018): Reintegrating Syrian Militias: Mechanisms, Actors, and Shortfalls, https://carnegie-mec.org/2018/12/12/reintegrating-syrian-militias-mechanisms-actors-and-shortfalls-pub-77932 , Zugriff 12.12.2022

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 COAR - Center for Operational Analysis and Research (24.11.2020): Changes to military service reflect Damascus’s unrealistic aims, growing socio-economic divide, https://coar-global.org/2020/11/24/changes-to-military-service-reflect-damascuss-unrealistic-aims-growing-socio-economic-divide/ , Zugriff 12.12.2022

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 DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (10.2019): Syria - Issues Regarding Military Service, COI report based on written sources, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018870/COI_syria_report_military_service_oct_2019.pdf , Zugriff 12.12.2022

 EB - Enab Baladi (3.6.2020): Fear of forced military conscription looms over northern rural Homs again, https://english.enabbaladi.net/archives/2020/03/fear-of-forced-military-conscription-looms-over-northern-rural-homs-again/ , Zugriff 12.12.2022

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 FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf , Zugriff 12.12.2022

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 Liveuamap (12.12.2022): Map of Syrian Civil War, https://syria.liveuamap.com/ , Zugriff 12.12.2022

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 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2020): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf , Zugriff 12.12.2022

 ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2066258/SYRI_%C3%96B-Bericht_2021_09.pdf , Zugriff 12.12.2022

 ÖB- Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020): Asylländerbericht Syrien 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+29092020)+.pdf , Zugriff 12.10.2020

 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (7.2019): Asylländerbericht Syrien 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2014213/SYRI_ÖB+Report_2019_07.pdf , Zugriff 12.12.2022

 PAR - Webseite des Parlaments [Syrien] (12.5.2007): المرسوم التشريعي 30 لعام 2007 قانون خدمة العلم [Legislativdekret Nr. 30 von 2007 Militärdienstgesetz], http://parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=201&nid=4921& , Zugriff 12.12.2022

 Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

 SNHR - Syrian Network for Human Rights (16.11.2022): Breaking Down the Amnesty Decrees Issued by the Syrian Regime Between March 2011 and October 2022, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/11/R221013E.pdf , Zugriff 22.11.2022

 STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf , Zugriff 12.12.2022

 TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (22.8.2019): TIMEP Brief: Conscription Law, https://timep.org/reports-briefings/timep-brief-conscription-law/ , Zugriff 12.12.2022

 TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (6.12.2018): TIMEP Brief: Legislative Decree No. 18: Military Service Amnesty, https://timep.org/wp-content/uploads/2018/12/LegislativeDecree18SyriaLawBrief2018-FINAL12-6-18a.pdf , Zugriff 12.12.2022

 TSO – The Syrian Observer (27.1.2022): Mixed Reactions Following Desertion Amnesty, https://syrianobserver.com/security/72953/mixed-reactions-following-desertion-amnesty.html , Zugriff 22.11.2022

Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts

Letzte Änderung: 29.12.2022

Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".

Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).

EASO [inzwischen in European Union Agency for Asylum (EUAA) umbenannt] kommt in seinem Bericht vom April 2021 zu dem Schluss, dass aufgrund der unklaren Maßstäbe, die von den medizinischen Ausschüssen für die Bewertungen verwendet werden, die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien schwer eruierbar ist (EASO 4.2021).

Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB 29.9.2020). Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt – manchmal sogar Jahre danach – trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017). Auch berichtet eine Quelle, dass Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter Befreiungsgebühr Bestechungsgelder verlangen könnten (DIS 5.2020).

Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland

Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (NMFA 6.2021; vgl. DIS 5.2020, vgl. EB 9.2.2019), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 9.2.2019). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 (Rechtsexperte 14.9.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert, und die Gebühr auf 10.000 USD erhöht. Wer zwei, drei, vier oder mehr Jahre im Ausland wohnhaft ist, muss 9.000, 8.000 bzw. 7.000 USD bezahlen, um befreit zu werden. Wer außerhalb Syriens lebt und als Reservist einberufen wird, kann eine Befreiung erhalten, indem er 5.000 USD bezahlt (NMFA 6.2021). Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigten Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden können (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor bei einer syrischen Auslandsvertretung bereinigen (DIS 10.2019).

Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Laut z.B. der syrischen Botschaft in Berlin müssen u.a. entweder ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).

Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts

Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vgl. SLJ 10.11.2017, PAR 15.11.2017).

Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022).

Im Februar 2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).

Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst

Letzte Änderung: 29.12.2022

- Rechtssicherheit

In Syrien vorherrschend und von langer Tradition, besteht in der Praxis eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weitverbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB 1.10.2021).

- Amnestien allgemein

Seit März 2011 [Anm.: bis Oktober 2022] hat der syrische Präsident 21 Amnestiedekrete erlassen. In den meisten dieser Dekrete wurden die Strafen der Begnadigten für die verschiedenen Verbrechen und Vergehen ganz oder teilweise aufgehoben (SNHR 16.11.2022). Seit 2011 hat der syrische Präsident für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden (STDOK 8.2017; vgl. SNHR 16.11.2022, MED 10.2021).

Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020; vgl. SNHR 16.11.2022). Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben die Amnestien wiederholt als intransparent und unzureichend kritisiert (STDOK 8.2017; vgl. EB 3.4.2020, MED 10.2021), sowie als bisher wirkungslos (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020) und als ein Propagandainstrument der Regierung (DIS 5.2020; vgl. EB 3.4.2020, MED 10.2021).

Die Amnestiedekrete resultierten im Allgemeinen nur in der Entlassung einer begrenzten Anzahl von gewöhnlichen Kriminellen (USDOS 12.4.2022). Der Ausschluss von politischen Gefangenen ist der Haft- und Gerichtspraxis in Syrien teilweise inhärent. Willkürlich Verhaftete werden in der Regel ohne Anklage für längere Zeit festgehalten, und die Inhaftierten werden oft nicht über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert (MED 10.2021). Die Amnestien schlossen Gefangene, die nicht eines Verbrechens angeklagt wurden, aus (USDOS 12.4.2022; vgl. MED 10.2021).

Erhebungen der Menschenrechtsorganisation SNHR ergaben, dass im Zeitraum März 2011 bis Oktober 2022 rund 7.350 Personen im Rahmen der 21 Amnestiedekrete aus diversen Zivil- und Militärgefängnissen der syrischen Regierung sowie aus Haftanstalten unterschiedlicher Zweigstellen des Sicherheitsapparats entlassen wurden. Darunter befanden sich rund 6.100 Zivilisten und 1.250 Militärangehörige. Dem stellt SNHR eine Anzahl von rund 123.300 Personen gegenüber, die in zeitlicher Nähe zu den Amnestien verhaftet wurden oder gewaltsam verschwanden (SNHR 16.11.2022).

Eine begrenzte Anzahl von Gefangenen kam im Zuge lokaler Beilegungsabkommen mit dem Regime frei. Während des Jahres 2021 verletzten Regimekräfte vorherige Amnestieabkommen durch Razzien und Verhaftungskampagnen gegen Zivilisten und frühere Mitglieder der bewaffneten Oppositionsgruppen in Gebieten mit unterzeichneten Beilegungsabkommen mit dem Regime (USDOS 12.4.2022).

Die im Zeitraum 2011-2021 erlassenen Amnestien für Überläufer und Wehrdienstverweigerer verlangen von den Begünstigten nach wie vor, dass sie ihren Wehrdienst ableisten, nachdem sie sich gestellt haben (MED 10.2021). Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Namen von Personen, die sich im Rahmen einer Amnestie gemeldet haben, fast sofort auf Listen gesetzt werden, um zum Militärdienst einberufen zu werden (DIS 5.2020; vgl. NMFA 6.2021). Einer Quelle zufolge respektiere die syrische Regierung Amnestien nun eher als früher (DIS 5.2020). Das Narrativ der Amnestie oder der milden Behandlung ist höchst zweifelhaft: Es spielt nicht nur eine Rolle, ob zum Beispiel Familienmitglieder für die FSA (Freie Syrische Armee) oder unter den Rebellen gekämpft haben, sondern das Regime hegt auch ein tiefes Misstrauen bezüglich des Herkunftsgebiets. Es spielt eine große Rolle, woher man kommt, ob man aus Gebieten mit vielen Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten geflohen ist, zum Beispiel Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs (Üngör 15.12.2021). Ein Syrien-Experte merkte in diesem Zusammenhang auch an, dass die Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten bei den Amnestiedekreten vor Ort angezweifelt werden kann, und Vergeltung ein weitverbreitetes Phänomen ist (Balanche 13.12.2021).

Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen (AA 29.11.2021).

- Kürzlich erlassene Amnestien

Eine Generalamnestie vom Mai 2021 (Gesetzesdekret 13/2021) erstreckte sich auf Straftaten in Zusammenhang mit Wehrdienstverweigerung, wobei sich Wehrdienstverweigerer innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzesdekrets zum Wehrdienst melden mussten, um unter die Amnestie zu fallen. Folgende Artikel nach dem Militärstrafgesetzbuch waren von der Amnestie ausgenommen: 102, 103/5, 154-160 (SNHR 16.11.2022).

Am 25.1.2022 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 3/2022 eine Generalamnestie für "interne und externe Desertion", die vor diesem Datum begangen wurde (SANA 25.1.2022). Die Amnestie umfasst Straftaten nach Artikel Artikel 100 ("interne Desertion") und 101 ("externe Desertion") des Militärstrafgesetzbuchs (Gesetzesdekret Nr. 61 von 1950), schließt jedoch die Artikel 102 ("Flucht zum Feind, Flucht vor dem Feind") und 103 ("Flucht durch Verschwörung und Flucht in Kriegszeiten") aus (TSO 27.1.2022; vgl. SNHR 16.11.2022).

Im Mai 2022 hat Präsident Assad mit dem Gesetzesdekret Nr. 7/2022 eine Generalamnestie für "terroristische Verbrechen" erlassen, welche von Syrern vor dem 30.4.2022 begangen wurden, mit Ausnahme derjenigen Straftaten, die zum Tod eines Menschen geführt haben und die im Antiterrorismusgesetz Nr. 19 von 2012 und im Strafgesetzbuch, das durch das Gesetzesdekret Nr. 148 von 1949 und dessen Änderungen erlassen wurde, festgelegt sind (TSO 3.5.2022). "Terrorismus" ist ein Begriff, mit dem die Regierung die Aktivitäten von Rebellen und oppositionellen Aktivisten beschreibt (MEE 2.5.2021). Nach dem Militärstrafgesetzbuch geahndete Vergehen fallen nicht unter diese Amnestie (SNHR 16.11.2022).

- Amnestien der "Selbstverwaltung" in Nordost-Syrien

Am 10.10.2020 erließ die sog. "Selbstverwaltung" in Nordost-Syrien eine "Generalamnestie" für Strafgefangene. Bereits am 15.10.2020 sollen 631 Häftlinge auf Grundlage des Dekrets entlassen worden sein, darunter auch mutmaßliche IS-Sympathisanten. Strafen für bestimmte Vergehen sollen zudem halbiert werden (AA 4.12.2020).

Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen". Zu Amnestien der syrischen Regierung für Reservepflichtige siehe Unterkapitel "Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst".

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1 , Zugriff 3.3.2022

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien,https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt ,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

 Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview per Videotelefonie

 DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria - Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf , Zugriff 9.12.2022

 EB - Enab Baladi (3.4.2020): Decrees for detainees .. without including them Syrian detainees off legislators’ table, https://english.enabbaladi.net/archives/2020/04/decrees-for-detainees-without-including-them-syrian-detainees-off-legislators-table/ , Zugriff 9.12.2022

 MED - Middle East Directions (10.2021): Manipulating National Trauma: The Assad Regime’s Wartime Instrumentalisation of Presidential Amnesties, https://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/72798/QM-AX-21-047-EN-N%5b1%5d.pdf?sequence=5&isAllowed=y , Zugriff 22.11.2022

 MEE - Middle East Eye (2.5.2021): Syria: Amnesty announced ahead of presidential elections, https://www.middleeasteye.net/news/syria-amnesty-offered-ahead-presidential-elections , Zugriff 9.12.2022

 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, file:///tmp/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 9.12.2022

 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html , Zugriff 9.12.2022

 SANA - Syrian Arab News Agency (25.1.2022): President al-Assad gives general amnesty to internal and external desertion crimes, http://www.sana.sy/en/?p=261557 , Zugriff 22.11.2022

 SNHR - Syrian Network for Human Rights (16.11.2022): Breaking Down the Amnesty Decrees Issued by the Syrian Regime Between March 2011 and October 2022, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/11/R221013E.pdf , Zugriff 22.11.2022

 STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf , Zugriff 9.12.2022

 TSO – The Syrian Observer (3.5.2022): Justice Minister: Amnesty Decree Most Comprehensive for Terrorist Crimes, https://syrianobserver.com/news/75121/justice-minister-amnesty-decree-most-comprehensive-for-terrorist-crimes.html , Zugriff 22.11.2022

 TSO – The Syrian Observer (27.1.2022): Mixed Reactions Following Desertion Amnesty, https://syrianobserver.com/security/72953/mixed-reactions-following-desertion-amnesty.html , Zugriff 22.11.2022

 Üngör, Uğur Ümit - Geschichtsprofessor, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview per Videotelefonie

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 9.12.2022

Wehrdienstverweigerung / Desertion

Letzte Änderung: 29.12.2022

Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und relativ wenige werden derzeit deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).

In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.11.2021).

Rückkehrüberlegungen syrischer Männer werden auch durch ihren Militärdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).

Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern

In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann (Balanche 13.12.2021).

Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben. Das Wehrersatzgeld ist nach einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu (AA 29.11.2021; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.11.2021). Während es laut einer Quelle keine Berichte darüber gibt, dass diejenigen, die die Wehrdienstbefreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlt haben, bei ihrer Rückkehr Probleme hatten (DIS 5.2022), berichten andere Quellen, dass unter anderem auch Rückkehrer bei ihrer Ankunft von den syrischen Behörden verhaftet, inhaftiert und gefoltert wurden, die eine Statusbereinigung vorgenommen hatten. Eine erteilte positive Sicherheitsüberprüfung stellt keinesfalls eine Garantie für eine sichere Rückkehr nach Syrien dar (EASO 6.2021).

Im Dezember 2019 trat eine Bestimmung in Kraft, wonach wehrfähige Männer, welche den Wehrdienst bis zu einem Alter von 42 Jahren nicht abgeleistet haben, eine Befreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlen müssen, um einer Beschlagnahmung ihres Vermögens, bzw. des Vermögens ihrer Ehefrauen oder Kinder, zu entgehen (DIS 5.2020, vgl. AA 29.11.2021, Rechtsexperte 14.9.2022).

Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel "Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts".

Gesetzliche Lage und aktuelle Handhabung

Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.11.2021; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit garantierter Folter und Todesurteil gleichsetzen (Landinfo 3.1.2018), sagen andere, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020). Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen "terroristische" Bedrohungen zu schützen (STDOK 8.2017).

Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner" und "externer" Desertion. Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z.B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.11.2021; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).

Die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen. Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020). In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten zudem viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen dokumentierte im ersten Halbjahr 2022 die Festnahme, Folter und Misshandlung von neun Männern, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen oder übergelaufen waren. Unter anderem betraf dies Überläufer, die nach einer Amnestie zurückkehrten und dann verhaftet wurden (UNHRC 17.8.2022).

Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020). Dazu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).

Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".

Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch VN oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.11.2021). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht den Regierungseinheiten beitreten (FIS 14.12.2018).

Zu den "Versöhnungsabkommen" siehe auch Abschnitt "Versöhnungsabkommen" im Kapitel "Sicherheitslage".

Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Die Informationslage bezüglich wehrpflichtiger Rückkehrer ist widersprüchlich: Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutze das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar in den Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021). Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber wahnsinnig, als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen. Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Leute mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1 , Zugriff 3.3.2022

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt ,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

 Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videotelefonie

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria - Treatment Upon Return, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf , Zugriff 23.11.2022

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria – Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf , Zugriff 9.12.2022

 DIS/DRC - Danish Immigration Service [Dänemark]/ Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_31012019.pdf?la=da&hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC , Zugriff 9.12.2022

 EASO – European Asylum Support Office (6.2021): Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060547/2021_06_EASO_COI_Report_Syria_Situation_returnees_from_abroad_DE.pdf , Zugriff 23.11.2022

 FIS – Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf , Zugriff 9.12.2022

 HRW – Human Rights Watch (20.10.2021): "Our Lives Are Like Death" Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.hrw.org/report/2021/10/20/our-lives-are-death/syrian-refugee-returns-lebanon-and-jordan , Zugriff 23.11.2022

 ICG - International Crisis Group (9.5.2022): Syria: Ruling over Aleppo’s Ruins, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072598/234-syria-aleppos-ruins_0.pdf , Zugriff 23.11.2022

 Khaddour, Kheder - Gast-Wissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videotelefonie

 Landinfo [Norwegen] (3.1.2018): Syria: Reactions against deserters and draft evaders, https://www.ecoi.net/en/file/local/1441219/1226_1534943446_landinfo-report-syria-reactions-against-deserters-and-draft-evaders.pdf , Zugriff 9.12.2022

 Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

 STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien – mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf , Zugriff 9.12.2022

 Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videotelefonie

 UNHRC - United Nations Human Rights Council (17.8.2022): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic*,*****, https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/hrbodies/hrcouncil/regularsession/session51/2022-09-14/A_HRC_51_45_AEV.docx , Zugriff 23.11.2022

Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen

Letzte Änderung: 29.12.2022

Das Gesetz N. 11/2013 kriminalisiert alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren durch die Syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen. Allerdings hat die Regierung keine Bemühungen gezeigt, den Einsatz von Kindersoldaten durch Regierungs- und regierungstreue Milizen, bewaffnete Oppositionsgruppen und terroristische Organisationen zu verfolgen. Die Regierung berichtete nicht von der Untersuchung, Verfolgung oder Verurteilung von verdächtigten Menschenhändlern, noch wurden Regierungsmitarbeiter, die an Menschenhandel, inklusive der Rekrutierung von Kindern, beteiligt waren untersucht, verfolgt oder verurteilt. Die Regierung führt weiterhin Verhaftungen und Inhaftierungen durch und misshandelte Opfer von Menschenhandel schwer - inklusive Kindersoldaten - und bestrafte diese für illegale Taten, zu denen sie von Menschenhändler gezwungen wurden. Sie hat regelmäßig Kinder für die vermeintliche Verbindung zu bewaffneten Gruppen inhaftiert, vergewaltigt, gefoltert und exekutiert. Sie hat keine Bemühungen gezeigt, diesen Kindern irgendwelche Schutzdienste zur Verfügung zu stellen. Die Regierung schützte Kinder auch nicht vor der Rekrutierung und dem Einsatz durch bewaffnete Oppositionsgruppen und Terrororganisationen (USDOS 29.7.2022).

Der UN-Sicherheitsrat konnte die Rekrutierung von insgesamt 1.423 Kindern zwischen 1.7.2018 und 30.6.2020 in 11 von 14 Gouvernements verifizieren, 73 % der Fälle wurden im Nordwesten Syriens (Idlib, Aleppo und Hama) bestätigt und 26 % im Nordosten (Raqqa, Hassakah und Der az-Zour). Zum Zeitpunkt der Rekrutierung waren 250 Kinder (18 %) unter 15 Jahre alt (UNSC 23.4.2021). In ihrem 2021 Bericht über Kinder und bewaffneten Konflikt verifizierten die UN die Rekrutierung und den Einsatz von 813 Kindern (777 Buben, 36 Mädchen) von Jänner bis Dezember 2020 durch: - Hay’at Tahrir ash-Sham (390); syrische bewaffnete oppositionelle Gruppen (früher als Freie Syrische Armee - FSA) bekannt) (170); - die Kurdischen Volksverteidigungseinheiten und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) (119) unter dem Schirm der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF); - regierungstreue Milizen (42); - Ahrar ash-Sham (31), Nur ad-Din az-Zanki (3) und die Armee des Islam (Jaysh al-Islam) (3), alle dem Namen nach unter dem Schirm der oppositionellen Syrischen Nationalen Armee (SNA) operierend; - die Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDG-H) (30); - die Internen Sicherheitskräfte (13); - Hurras ad-Din (6); - IS (sog. Islamischer Staat) (4); - syrische Regierungskräfte (2). Die Fälle wurden vor allem in Idlib (477) und Aleppo (119) verifiziert. Von 813 Kindern wurden 99% (805) in Kampfhandlungen eingesetzt (UNGASC 6.5.2021). In Idlib werden von HTS Kinder für Kampfhandlungen eingesetzt, ebenso durch den sog. Islamischen Staat (IS), die Opposition und in geringerer Anzahl von regierungsnahen Milizen (ÖB 1.10.2021).

Die Regierung und regimenahe Milizen führten weiterhin Zwangsrekrutierungen von Kindersoldaten und deren Einsatz durch, was dazu führte, dass Kinder extremer Gewalt und Vergeltungsschlägen durch oppositionelle Kräfte ausgesetzt waren. Manche bewaffneten Gruppen, die für die syrische Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und regierungstreue Milizen, die als National Defence Forces oder „Shabiha“ bekannt sind, rekrutieren zwangsweise Kinder im Alter von sechs Jahren. Der Iran rekrutierte im Iran minderjährige Afghanen - darunter auch Zwölfjährige - unter Androhung von Abschiebung nach Afghanistan sowie iranische Minderjährige für schiitische Milizen in Syrien (USDOS 29.7.2022).

Jabhat an-Nusra und der sogenannte IS haben Kinder auch als menschliche Schutzschilder, Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker eingesetzt. Kämpfer haben auch Kinder für Zwangsarbeit oder als Informanten eingesetzt, wodurch diese Vergeltungsschlägen und extremer Bestrafung ausgesetzt waren (USDOS 29.7.2022).

2014 haben die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) – Kernbestandteile der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) - die Geneva Call Verpflichtungserklärung zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten und der Vermeidung ihrer Rekrutierung unterzeichnet. Im Juni 2019 gelobten die SDF wieder, die Rekrutierung von Kindern zu stoppen, indem sie einen Aktionsplan mit den UN zur Beendigung und Vorbeugung der Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 unterschrieben (STJ 2.6.2021, ÖB 1.10.2021). Im September 2018 erließen die SDF einen Befehl, der die Rekrutierung von Minderjährigen verbietet und für Alterskontrollen der aktuellen Mitglieder der SDF sorgt (HRW 11.9.2018; cf. EB 7.12.2019). Zudem kündigte die sog. Selbstverwaltung am 30.8.2020 an, ein Büro für den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten einzurichten. Das Büro und seine Außenstellen sollen seit Oktober 2020 operativ sein und Berichte und Beschwerden über die Zwangsrekrutierung Minderjähriger durch die SDF entgegennehmen. Laut den VN und dem SNHR wurden zwischen Januar 2014 und September 2020 mindestens 911 Kinder durch die YPG zwangsrekrutiert (AA 29.11.2021).

2019 wurden 30 rekrutierte Kinder vom Dienst bei den SDF entlassen. Mit Stand Juni 2020 wurde die Entlassung von 51 Mädchen berichtet (UNGASC 9.6.2020). Trotz dieser Schritte gab es Berichte von breiten Rekrutierungskampagnen durch die SDF und die Inhaftierung und zwangsweise Einziehung von Jugendlichen, sowie die Rekrutierung von Kindern zwischen 13 und 16 Jahren vom al-Hol Camp, darunter viele Waisen (EMHRM 18.9.2019). Obwohl die Auflistung von Kindersoldaten in Nordost-Syrien im Vergleich zu den Vorjahren zurückgegangen ist, beinhalten bewaffnete Einheiten weiterhin Minderjährige, die gerade mal 16 Jahre alt sind (STJ 2.6.2021). Die Praxis der Rekrutierung Minderjähriger scheint nach wie vor nicht eingestellt worden zu sein (AA 29.11.2021). Zu Anfang 2022 gab es noch einige Minderjährige in den SDF trotz früherer Entlassungen von Minderjährigen und Bemühungen deren Aufnahme zu unterbinden. Wie es zu Rekrutierungen, bzw. möglichen Zwangsrekrutierungen, von Minderjährigen für die SDF kommt, gibt es verschiedene Erklärungen (DIS 6.2022).

Anm.: Die Rekrutierung von Minderjährigen direkt durch die PKK oder die Revolutionäre Jugend, einem mutmaßlichen Teil der PKK, wird hier nicht thematisiert.

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html , Zugriff 9.12.2022

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (6.2022): Syria: Military recruitment in Hasakah Governorate, https://www.ecoi.net/en/file/local/2075255/syria_fmm_rappport_military_recruitment_hasakah_governorate_june2022.pdf , Zugriff 9.12.2022

 EB - Enab Baladi (7.12.2019): Compulsory military recruitment in Jazira Region: SDF imposing their authority, https://english.enabbaladi.net/archives/2019/07/compulsory-military-recruitment-in-jazira-region-sdf-imposing-their-authority/# , Zugriff 9.12.2022

 EMHRM - Euro-Mediterranean Human Rights Monitor (18.9.2019): SDF kidnaps dozens of children and youths in eastern Syria, https://euromedmonitor.org/en/article/3136/SDF-kidnaps-dozens-of-children-and-youths-in-eastern-Syria , Zugriff 9.12.2022

 HRW - Human Rights Watch (11.9.2018): Key Steps Taken to End Use of Child Soldiers in Syria, https://www.ecoi.net/en/document/1443322.html , Zugriff 9.12.2022

 ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2066258/SYRI_%C3%96B-Bericht_2021_09.pdf , Zugriff 13.1.2022

 STJ - Syrians for Truth and Justice (2.6.2021): Northeastern Syria: 50 Child Soldiers Demobilized, 19 Others Still Commissioned, https://stj-sy.org/en/northeastern-syria-50-child-soldiers-demobilized/ , Zugriff 9.12.2022

 UNGASC - United Nations General Assembly Security Council (6.5.2021): Children and Armed Conflict, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/N2111309.pdf , Zugriff 9.12.2022

 UNGASC - United Nations General Assembly Security Council (9.6.2020): Children and Armed Conflict, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031779/15-June-2020_Secretary-General_Report_on_CAAC_Eng.pdf , Zugriff 9.12.2022

 UNSC - United Nations Security Council (23.4.2021): Children and armed conflict in the Syrian Arab Republic - Report of the Secretary-General, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/N2110167.pdf , Zugriff 10.6.2021

 USDOS - United States Department of State [USA] (29.7.2022): 2022 Trafficking in Persons Report: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2077593.html , Zugriff 9.12.2022

Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeindlich)

Letzte Änderung: 29.12.2022

Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018; vgl. DRC/DIS 8.2017). Andere Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als "shabiha" bekannt) (USDOS 1.7.2021). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Ein weiterer Hauptgrund für das Eintreten in diese Gruppierungen ist, dass damit der Wehrdienst in der Armee umgangen werden kann. Die Mitglieder können so in ihren oder in der Nähe ihrer lokalen Gemeinden ihren Einsatz verrichten und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen. Die syrische Armee hat jedoch begonnen, diese Milizen in ihre eigenen Strukturen zu integrieren (FIS 14.12.2018), indem sie Mitglieder der Milizen, welche im wehrfähigen Alter sind, zum Beitritt in die syrische Armee zwingt (MEI 18.7.2019). Dadurch ist es unter Umständen nicht mehr möglich, durch den Dienst in einer lokalen Miliz die Rekrutierung durch die Armee oder den Einsatz an einer weit entfernten Front zu vermeiden (FIS 14.12.2018). Auch aufgrund der deutlich höheren Bezahlung der Milizmitglieder stießen die laufenden Bemühungen, Milizen in die syrische Armee zu integrieren, auf erheblichen Widerstand (MEI 18.7.2019). Regierungstreue Milizen haben sich außerdem an Zwangsrekrutierungen von gesuchten Wehrdienstverweigerern beteiligt (FIS 14.12.2018).

Was die oppositionellen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur Zwangsrekrutierung ebenfalls nicht klar. Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen, sind in von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten hoch (STDOK 8.2017). Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 6.2021). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022).

Quellen:

 BMLV – Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (12.10.2022): Antwortschreiben Version 2 (Stand 16.9.2022)

 DRC/DIS - Danish Refugee Council / The Danish Immigration Service [Dänemark] (8.2017): Syria, Recruitment Practices in Government-controlled Areas and in Areas under Opposition Control, Involvement of Public Servants and Civilians in the Armed Conflict and Issues Related to Exiting Syria, https://www.nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/SyrienFFMrapportaugust2017.pdf?la=da&hash=D5C8D2AB61039CB67C560C07AE47C7F02F16708D , Zugriff 9.12.2022

 FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf , Zugriff 9.12.2022

 MEI - Middle East Institute (18.7.2019): The Lion and The Eagle: The Syrian Arab Army’s Destruction and Rebirth, https://www.mei.edu/publications/lion-and-eagle-syrian-arab-armys-destruction-and-rebirth#pt5 , Zugriff 9.12.2022

 NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021) - Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf , Zugriff 9.12.2022

 STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf , Zugriff 9.12.2022

 USDOS - US Department of State [USA] (1.7.2021): 2021 Trafficking in Persons Report: Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2055129.html , Zugriff 9.12.2022

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 29.12.2022

Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich trotz eines messbaren Rückgangs der gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht verbessert (AA 29.11.2021). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022). Laut UN-Menschenrechtsrat erlaubt die Situation in Syrien unter Einbeziehung der Menschenrechtslage keine nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNHRC 13.8.2021). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 8.2.2022 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht von z.B. Angriffen auf die Zivilbevölkerung über Folter bis hin zur Beschlagnahmung des Eigentums von Vertriebenen (UNHRC 8.2.2022). Human Rights Watch (HRW) bezeichnet einige Angriffe der russisch-syrischen Allianz als Kriegsverbrechen (HRW 13.1.2022).

Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.4.2020).

Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, das es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.2.2022).

Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 waren von Anschuldigen von Wahlbetrug gekennzeichnet. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 12.4.2022).

Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 12.4.2022).

Das Regime bezeichnete Meinungsäußerungen routinemäßig als illegal, und Einzelpersonen konnten das Regime weder öffentlich noch privat kritisieren, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus, aus und verbietet die meiste Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Angelegenheiten, einschließlich der konfessionellen Spannungen und Probleme, mit denen religiösen und ethnischen Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 12.4.2022).

Weiterhin besteht laut Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile insbesondere im äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (AA 29.11.2021; vgl. 19.5.2020). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB 1.10.2021).

In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Verhaftungen (SNHR 26.1.2021; vgl. SHRC 1.2019, HRW 13.1.2022). Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben (HRW 13.1.2022; vgl. AA 29.11.2021, SNHR 26.1.2021). Berichten zufolge zögern die Menschen in kürzlich vom Regime zurückeroberten Gebieten aus Angst vor Repressalien über die dortigen Vorgänge zu reden (USDOS 12.4.2022). Ganze Städte und Dörfer wurden durch erzwungenes Verlassen ("forced deportations") entvölkert (BS 29.4.2020).

Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Auch Kollektivhaft von Angehörigen - auch Kindern - oder Nachbarn ist dokumentiert, fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland (AA 29.11.2021). Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.1.2019). Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019; vgl. UNHCR 7.5.2020, SNHR 26.1.2021).

Nach Angaben des Syrian Network for Human Rights (SNHR) sind seit März 2011 fast 15.000 Menschen an den Folgen von Folter gestorben, die meisten von ihnen durch syrische Regierungstruppen (HRW 13.1.2022). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.11.2021).

Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Dem SNHR zufolge beläuft sich die Zahl von Inhaftierten und Verschwundenen mit Stand September 2021 auf rund 150.000. Für das erste Halbjahr 2021 dokumentierte SNHR 972 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen, darunter mindestens 45 Kinder und 42 Frauen. Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Das Regime macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021).

Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten. Es findet keine zuverlässige und für die Betroffenen verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (UNHRC 11.3.2021).

Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur. Für das Jahr 2021 lagen keine Berichte über den Einsatz der verbotenen Chemiewaffen vor. Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam jedoch zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z.B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017 (USDOS 12.4.2022).

Die Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet- und Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z.B. von E-Mails und Sozialen Medien ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein (USDOS 12.4.2022). Des Weiteren wurde im April 2022 ein neues Cybercrime-Gesetz verabschiedet, welches von mehreren NGOs und Menschenrechtsgruppen als problematisch für die Meinungsfreiheit betrachtet wird (Anmerkung: siehe Kapitel: "Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes [Rechtsschutz/Justizwesen]").

Am 28.4.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die im Ausland falsche oder übertriebene Nachrichten verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder andersartig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen einem halben und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das alle Syrer bestraft, die Nachrichten verbreiten, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Die syrische Regierung hat Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).

Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begingen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führten etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töteten oder verletzten (USDOS 12.4.2022).

Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen

In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der COI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlaste. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u.a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Insbesondere im Fall von Free Syrian Army, HTS bzw. Jabhat al-Nusra sowie IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNHRC 11.3.2021).

Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. die mit al-Qaida in Verbindung stehende Gruppe HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, extreme körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten bei Angriffen, die als wahllos beschrieben wurden. Es kommt vor, dass Terrorgruppen wie der HTS gewaltsam Organisationen und Personen angreifen, die Menschenrechtsverletzungen untersuchen oder sich für die Verbesserung der Menschenrechtslage einsetzen (USDOS 12.4.2022).

Trotz der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Jahr 2019 verübt die Gruppe weiterhin Morde, Angriffe und Entführungen, darunter auch manchmal mit Zivilisten als Ziele (USDOS 12.4.2022).

Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren das Rückzugsgebiet für viele moderate, aber auch radikale, teils terroristische Gruppen der bewaffneten Opposition geworden. HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets der Deeskalationszone Idlib dort auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen "Errettungsregierung" aufgebaut. Auch unterhält der HTS ein eigenes Gerichtswesen, welches die Scharia anwendet, sowie eigene Haftanstalten (AA 29.11.2021). In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem der HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB 1.10.2021).

In Idlib verhaftet der HTS Aktivisten, Mitarbeiter humanitärer Organisationen sowie ihm kritisch eingestellte Zivilisten. Im ersten Halbjahr 2021 waren laut dem SNHR mindestens 57 Personen Ziel willkürlicher Verhaftungen durch den HTS. In einigen Fällen verhängte der HTS die Todesstrafe (HRW 13.1.2022). Berichtet werden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der COI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab al-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden (AA 29.11.2021) Der HTS greift in vermehrtem Ausmaß in alle Aspekte des zivilen Lebens ein, z.B. durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen, Vorschreiben von Kleidungsvorschriften und Frisuren sowie durch das wahllose Einheben von Steuern und Geldbußen. Er beschlagnahmt auch viele Häuser und Immobilien von Christen (HRW 13.1.2022).

Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der COI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch Mitglieder der HTS, auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021).

In den von der Türkei besetzten Gebieten verletzen die Türkei und lokale syrische Gruppierungen ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung und schränken ihre Freiheiten ein. Im Zuge der türkischen Militäroperation Friedensquelle im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 1.10.2021). In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR willkürlich 162 Personen. Mit Dezember 2019 hatten die türkischen Behörden und die mit der ihre verbündete SNA mindestens 63 syrische Staatsbürger verhaftet und illegalerweise in die Türkei verbracht. Dort stehen sie wegen Anklagen vor Gericht, die lebenslange Haftstrafen nach sich ziehen könnten. Fünf der 63 Syrer wurde bereits im Oktober 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt. In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut dem SNHR willkürlich 162 Personen (HRW 13.1.2022). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut COI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021).

Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter willkürliche Inhaftierungen, Folter, Korruption, Rekrutierung von Kindersoldaten und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Die SDF untersuchen weiterhin die gegen sie vorgebrachten Klagen. Es liegen keine Informationen über die gerichtliche Anklage einzelner Mitglieder der SDF vor (USDOS 12.4.2022). Die SDF führen Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer, durch. In der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich die Zahl der Verhafteten laut dem SNHR auf 369 Personen (HRW 13.1.2022). Das US-Außenministerium berichtet hingegen von "gelegentlichen" Einschränkungen von Menschenrechtsorganisationen und Schikanen gegen Aktivisten vonseiten der SDF und anderen Oppositionsgruppen, darunter "in manchen Fällen" willkürliche Haft (USDOS 12.4.2022). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 4.12.2020).

Nach der territorialen Niederlage des IS im Nordosten Syriens meinen manche NGOs, wie beispielsweise Human Rights Watch (HRW), die Notwendigkeit, dass noch Entschädigungen für zivile Opfer geleistet, dass Unterstützung bei der Ermittlung des Schicksals der vom IS Entführten angeboten und dass sich angemessen mit der Notlage von mehr als 60.000 syrischen und ausländischen Männern, Frauen und Kindern, die auf unbestimmte Zeit als IS-Verdächtige und als deren Familienmitglieder unter schlechten Bedingungen in geschlossenen Lagern und Gefängnissen festgehalten wurde, befasst werden (HRW 13.1.2022).

Quellen:

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 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf , Zugriff 6.12.2022

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, hhttps://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf, Zugriff 6.12.2022

 BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf , Zugriff 6.12.2022

 BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report - Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf , Zugriff 6.12.2022

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066477.html , Zugriff 6.12.2022

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 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2066258/SYRI_%C3%96B-Bericht_2021_09.pdf , Zugriff 6.12.2022

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 SNHR – Syrian Network for Human Rights (28.4.2022): Laws 15 and 16 of 2022 Issued by the Syrian Regime: Textually Flawed and Impossible to Implement, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/04/R220417E.pdf , Zugriff 6.12.2022

 SNHR - Syrian Network for Human Rights (26.1.2021): The Bleeding Decade - Tenth Annual Report: The Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2020, https://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/Tenth_Annual_Report_The_Most_Notable_Human_Rights_Violations_in_Syria_in_2020_en.pdf , Zugriff 6.12.2022

 UNHCHR - United Nations High Commissioner for Human Rights (28.6.2022): UN Human Rights Office estimates more than 306,000 civilians were killed over 10 years in Syria conflict, https://www.ohchr.org/en/press-releases/2022/06/un-human-rights-office-estimates-more-306000-civilians-were-killed-over-10 , Zugriff 6.12.2022

 UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (7.5.2020): Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR's Country Guidance on Syria; Participation in Anti-Government Protests; Draft Evasion; Issuance and Application of Partial Amnesty Decrees; Residency in (Formerly) Opposition-Held Areas; Issuance of Passports Abroad; Return and "Settling One's Status",https://www.ecoi.net/en/file/local/2030290/5ec4fcff4.pdf , Zugriff 6.12.2022

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 UNHRC - United Nations Human Rights Council (13.8.2021): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, [A/HRC/48/70], https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G21/223/82/pdf/G2122382.pdf?OpenElement , Zugriff 6.12.2022

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 UNHRC - United Nations Human Rights Council (31.1.2019): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/40/70], https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G19/023/20/pdf/G1902320.pdf?OpenElement , Zugriff 6.12.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 6.12.2022

Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen

Letzte Änderung: 29.12.2022

Todesfälle in der Haft und standrechtliche Hinrichtungen wurden in Hafteinrichtungen aller Parteien dokumentiert (UNHRC 17.11.2021).

Gebiete unter Regimekontrolle

Die Todesstrafe blieb für viele Straftaten in Kraft (AI 29.3.2022): Die syrische Strafgesetzgebung sieht für Mord, schwere Drogendelikte, Terrorismus, Hochverrat und weitere Delikte (AA 29.11.2021), wie zum Beispiel die Zerstörung öffentlicher Gebäude und Transport- sowie Kommunikationswege, die Todesstrafe vor (UNHRC 17.11.2021). In der juristischen Praxis wird der Begriff Hochverrat sehr weit gefasst und kann schon bei wahrgenommener Dissidenz erfüllt sein. Dies dient nicht zuletzt politischen Zwecken: Politische Gegner, bewaffnete Rebellen oder die humanitär tätigen syrischen „Weißhelme“ werden weitgehend unterschiedslos als „Terroristen“ eingestuft und sind damit von der Todesstrafe bedroht. Nach Definition des Regimes können bereits die Belieferung von Gebieten unter Kontrolle der Opposition mit humanitären Gütern oder die medizinische Behandlung von Oppositionellen mit der Todesstrafe geahndet werden. Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien (so zuletzt Dekret 13/2021) verringern ausgesprochene Todesurteile für eine Vielzahl von „klassischen“ Vergehen auf lebenslange harte Strafarbeit. Urteile wegen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft, auf welche ebenfalls die Todesstrafe steht, werden seit einigen Jahren in der Regel in zwölfjährige Freiheitsstrafen umgewandelt. Bei anderen Vergehen, z.B. im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes von 2012, besteht die Todesstrafe jedoch im Allgemeinen fort (AA 29.11.2021). Offizielle Zahlen zu vollstreckten Todesurteilen liegen seit Beginn des bewaffneten Konflikts nicht mehr vor. Immer wieder werden jedoch Einzelfälle vom Regime bekannt gemacht, so im Oktober 2021 die Hinrichtung von 24 vermeintlich Verantwortlichen für die schweren Waldbrände in Nordsyrien im Jahr 2020 (AA 29.11.2021; vgl. AI 29.3.2022). Die Todesstrafe wird oftmals ohne vorangegangenes faires Verfahren und im Geheimen vollstreckt (ÖB 1.10.2021). Die Gerichtsverfahren vor einem militärischen Feldgericht erfüllten die internationalen Mindeststandards für faire Gerichtsverfahren bei Weitem nicht (AI 22.2.2018). Ein Überprüfungsausschuss, der befugt ist, die von syrischen Strafgerichten verhängten Todesstrafen zu überprüfen, nicht aber die der Sondergerichte, wurde im April 2022 wieder eingesetzt (EUAA 9.2022, vgl. STJ 7.6.2022).

- Beispiele - das Gefängnis von Sednaya und das Beilegungsabkommen von Dara'a

Anmerkung: Das Gefängnis Saydnaya dient lediglich als vergleichsweise gut belegtes Beispiel. Tatsächlich gibt es eine große Bandbreite an staatlichen wie nicht-staatlichen Gerichten und bewaffneten Akteuren mit jeweils eigenen offiziellen oder geheimen Gefängnissen.

Neben vollstreckten Todesurteilen kommt es zu Tötungen und Hinrichtungen von Inhaftierten ohne Anklage oder Urteil (AA 29.11.2021). Amnesty International schätzte 2017 allein die Zahl der zwischen 2011 und 2015 in Saydnaya hingerichteten Personen auf mindestens 13.000 Menschen (AI 22.10.2021). Im Jahr 2017 äußerte die US-Regierung öffentlich die Vermutung, dass syrische Behörden in Saydnaya jeden Freitag eine zwei- bis dreistellige Anzahl Häftlinge hinrichteten und hierfür eigens ein Krematorium angelegt hätten, um die Leichen von Gefangenen ohne Spuren zu beseitigen (AA 29.11.2021). Auch im Jahr 2021 gab es weitere Berichte über hunderte Tote im Saydnaya-Gefängnis und den Einrichtungen der Sicherheitsdienste sowie über dutzende Tote nach einem Gefangenentransfer in das Tishrin Militärspital. Ehemalige Insassen von Saydnaya berichteten auch über Tote durch Folter und unmenschliche Behandlung vor dem Hintergrund von weitverbreitetem Hunger und Tuberkulose (UNHRC 13.8.2021).

Das Dara'a Martyrs' Documentation Office meldete im Jänner 2021 die Hinrichtung von 83 militärischen Gegnern des Regimes, welche ein Beilegungsabkommen unter Vermittlung der russischen Militärpolizei angenommen hatten, sowie von 31 weiteren Personen, welche das Abkommen nicht angenommen hatten. Der NGO Global Voices zufolge hielt sich das Regime nie an die Bedingungen des Abkommens und ging weiterhin gegen Mitglieder der Opposition vor (USDOS 12.4.2022).

Landesteile außerhalb der Regierungskontrolle

In den oppositionellen Gebieten variieren gesetzliche und gerichtliche Abläufe je nach Ort und dominierender bewaffneter Gruppe. Lokalverwaltungen übernehmen diese Zuständigkeiten teils unter Anwendung von Gewohnheitsrecht aus der Scharia abgeleitet, teils unter Heranziehung nationaler Gesetze. Urteile in Scharia-Räten führen manchmal zu Hinrichtungen ohne Berufungsprozess oder Besuch von Familienmitgliedern (USDOS 12.4.2022). Im Laufe des bewaffneten Konflikts wurden wiederholt auch Hinrichtungen von gefangenen Angehörigen der syrischen Sicherheitskräfte durch bewaffnete, zumeist radikalislamische Oppositionsgruppen und terroristische Gruppierungen von der UNO dokumentiert (AA 29.11.2021).

Der sogenannte Islamische Staat (IS) führte Hinrichtungen in der Öffentlichkeit durch und zwang die Bewohner, einschließlich Kinder, zuzusehen (UNHRC 17.11.2021).Bis zu seiner territorialen Niederlage im April 2019 tötete der IS Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder, durch öffentliche Hinrichtungen, wie Kreuzigungen und Enthauptungen unter dem Vorwurf des Glaubensabfalls, der Blasphemie und der Homosexualität (USDOS 10.6.2020). Im August 2021 dokumentierte SNHR die Ermordung von acht Zivilisten im al-Hol Lager durch Personen, die IS-Zellen zugerechnet wurden (USDOS 12.4.2022).

In seinem Bericht für das Jahr 2020 stellte Human Rights Watch fest, dass türkische Truppen und die Syrian National Army (SNA) mindestens sieben standrechtliche Hinrichtungen in den von ihnen besetzten Gebieten im Nordosten Syriens durchgeführt haben (HRW 13.1.2021). Laut der "Syrischen Interimsregierung" untersuchten Militärgerichte mindestens 169 Fälle von Verbrechen von Kleindiebstahl bis hin zu Mord. Die Angeklagten gehörten zu verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen, und ihre Prozesse fanden in vielen Fällen in absentia statt. Bezüglich der Ankündigung von Menschenrechtstraining für die SNA so vermeldete die NGO Geneva Call die Durchführung von Bildungsveranstaltungen u.a. zu humanitärem Völkerrecht für 33 SNA-Fraktionen. Menschenrechtsaktivisten kritisierten die Reformen als nicht glaubwürdig und dass keine Täter zur Verantwortung gezogen würden (USDOS 12.4.2022).

Auch Hay'at Tahrir ash-Sham, die überwiegend mehrere Regionen in Idlib kontrolliert, hat Berichten zufolge standrechtliche Hinrichtungen durchgeführt (HRW 13.1.2021) - so auch der UN Commission of Inquiry for Syria (COI) zufolge. Demnach lagen ihr 83 individuelle Schilderungen über die Hinrichtungen vor (USDOS 12.4.2022).

Quellen:

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 AI - Amnesty International (22.2.2018): Jahresbericht Syrien 2017/2018, https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/syrien , Zugriff 23.11.2022

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 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html , Zugriff 23.11.2022

 STJ - Syrians for Truth & Justice (7.6.2022): Syria: The President Enforces Death Sentences through a Formal Pardon Committee, https://stj-sy.org/en/syria-the-president-enforces-death-sentences-through-a-formal-pardon-committee/ , Zugriff 29.11.2022

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".

Zivile Opfer durch nicht explodierte Kampfmittelrückstände

Das United Nations Mine Action Service (UNMAS) bezeichnet das Ausmaß, die Schwere und die Komplexität der Bedrohung durch Sprengstoffe in Syrien nach wie vor als ein großes Schutzproblem, das die humanitäre Krise und die Gefährdung der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten verschärft (UNMAS 9.2022). Die Überreste der Waffen, die das syrische Regime und seine Verbündeten bei der massiven und wahllosen Bombardierung der nicht von ihnen kontrollierten Gebiete eingesetzt haben, und die es in jeder Form, Art und Größe gibt, gehören zu den größten Gefahren, die das Leben der Zivilbevölkerung und insbesondere der Kinder bedrohen. An erster Stelle stehen die Überreste von Streumunition, die in großem Umfang und wahllos eingesetzt wurde; die Submunition oder "Bomblets" dieser Waffen sind über große Gebiete verteilt, nachdem sie durch die erste Explosion nach dem Einschlag des Hauptsprengkörpers weiträumig verstreut wurden, wobei zwischen 10 % und 40 % dieser "Bomblets" nicht explodiert sind und daher eine tödliche Gefahr darstellen. Diese Submunition, die in großer Zahl auf landwirtschaftlichen Flächen, in den Ruinen von Städten und Dörfern und sogar in Flüchtlingslagern verstreut ist, ist in der Regel gut versteckt und kann jederzeit explodieren, da sie durch jede noch so kleine Bewegung ausgelöst wird. Landminen, die von allen Konfliktparteien gelegt wurden, stellen in dieser Kategorie nach Streumunition die zweitgrößte tödliche Bedrohung dar. Die Überreste dieser Waffen haben zahlreiche zivile Opfer gefordert, vor allem unter Kindern, die am stärksten gefährdet sind, weil sie die Überreste nicht identifizieren oder ihre Gefahr nicht erkennen können. Diejenigen Kinder, welche durch die Explosionen dieser Überreste verletzt wurden, haben oft Gliedmaßen verloren oder sind anderweitig dauerhaft behindert und müssen für den Rest ihres Lebens mit diesen Beeinträchtigungen leben (SNHR 20.11.2021).

Anm.: Weitere Informationen zu sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen siehe Unterkapitel "Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Ehrenverbrechen".

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf , Zugriff 20.12.2022

 AI - Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; The State of the World's Human Rights; Syria 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2070230.html , Zugriff 20.12.2022

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 USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2048105.html , Zugriff 20.12.2022

 WFP - World Food Programme (11.2021): Syrian Arab Republic mVAM Bulletin Issue no. 61: November 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065320/WFP-0000135042.pdf , Zugriff 20.12.2022

 ZI - Zero Impunity (2.7.2017): How the Assad Regime Uses Child Rape as a Weapon of War, https://zeroimpunity.com/how-the-assad-regime-used-child-rape-as-a-weapon-of-war/?lang=en , Zugriff 20.12.2022

Bewegungsfreiheit

Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens

Letzte Änderung: 09.08.2022

Die Regierung, Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und andere bewaffnete Gruppen beschränken die Bewegungsfreiheit in Syrien und richteten Checkpoints zur Überwachung der Reisebewegungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein (USDOS 12.4.2022). Landesweit wurden zahlreiche Checkpoints eingerichtet. Überlandstraßen und Autobahnen werden zeitweise gesperrt (BMEIA 5.4.2022). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land (AA 5.4.2022). Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile von einander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021).

Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte "Versöhnungskarte" vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Listen. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, wenn sie aus oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder dort wohnen, oder auch wenn sie Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensgleichheit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Checkpoints führen (DIS/DRC 2.2019).

Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich (DIS 9.2019), bzw. ziemlich willkürlich, sein. Die fehlende Rechtssicherheit und die in Syrien im Verlauf des Konfliktes generell gestiegene Willkür verursacht auch Probleme an Checkpoints (FIS 14.12.2018). In den Gebieten des Regimes verlangen die Mitarbeiter der Sicherheitsdienste für eine sichere Passage durch ihre Checkpoints Bestechungsgeld. So werden z.B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben. Die ungefähr fünf Kontrollpunkte werden von verschiedenen Teilen des Sicherheitsapparats betrieben. Rückkehrende aus dem Libanon bezahlen Schmuggler, um die Checkpoints zu umgehen (HRW 20.10.2021).

Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.1.2019). Vom 24.6. bis zum 9.9.2021 wurde Dara'a al-Balad von der syrischen Regierung und russischen Streitkräften belagert. Die Hauptverbindungsstraßen zwischen Dara'a al-Balad, dem Teil von Dara'a, der noch unter der teilweisen Kontrolle der versöhnten Oppositionellen stand, und anderen Teilen der Stadt sowie zu den Außenbezirken waren abgeschnitten (COAR 5.7.2021 - für nähere Informationen siehe Unterkapitel "Südsyrien" im Kapitel "Sicherheitslage").

Die vorherrschende Gewalt und starke kulturelle Zwänge schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten stark ein. In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen und terroristischen Gruppen wie der islamistischen Miliz Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert werden, schränken diese ebenfalls die Bewegungsfreiheit ein. Die HTS greift systematisch in die Bewegungsfreiheit von Frauen ein und schreibt ihnen die Begleitung durch einen "mahram", einem nahen männlichen Verwandten, in der Öffentlichkeit vor (USDOS 12.4.2022).

Anm.: Informationen zu Zugangsbeschränkungen zu Herkunftsgebieten siehe Kapitel "Rückkehr".

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.4.2022): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand - 05.04.2022 (Unverändert gültig seit: 31.03.2022), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278 , Zugriff 5.4.2022

 BMEIA - Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.4.2022): Syrien (Arabische Republik Syrien) Stand 05.04.2022 (Unverändert gültig seit: 24.03.2022), https://www.bmeia.gv.at/reise-services/reiseinformation/land/syrien/ , Zugriff 5.4.2022

 COAR - Center for Operational Analysis and Research (5.7.2021): Dar’a Siege: Russia Abouts Face, Amps up Pressure, https://coar-global.org/2021/07/05/dara-siege-russia-abouts-face-amps-up-pressure/ , accessed 27.9.2021

 DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (9.2019): Syria - Access to Damascus Province for Individuals from Former Rebel-held Areas, https://www.ecoi.net/en/file/local/2017468/COI_report_Syria_Access+to+Damascus+Province_sept_2019.pdf , Zugriff 8.9.2020

 DIS/DRC - Danish Immigration Service [Dänemark] / Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_31012019.pdf?la=da&hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC , Zugriff 8.9.2020

 FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf , Zugriff 22.7.2020

 HRW - HRW – Human Rights Watch (20.10.2021): 'Our Lives Are Like Death'; Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2062564/syria1021_web.pdf , Zugriff 5.4.2022

 SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf , Zugriff 22.7.2020

 UNSC - United Nations Security Council (23.10.2018): Implementation of Security Council resolutions 2139 (2014), 2165 (2014), 2191 (2014), 2258 (2015), 2332 (2016), 2393 (2017) and 2401 (2018) [S/2018/947], https://www.ecoi.net/en/file/local/1450109/1226_1542035101_n1833353.pdf , Zugriff 8.9.2020

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 8.8.2022

Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen

Letzte Änderung: 09.08.2022

Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet, verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer (USDOS 12.4.2022). Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt: Insbesondere in den Gouvernements Aleppo und Idlib ist die Lage weiterhin fragil, und es kommt nach wie vor zu teils intensiven Kampfhandlungen. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 31.3.2022).

Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen „black lists“ betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt (ÖB 1.10.2021). Das stellt ein weiteres Hindernis für eine Rückkehr dar. Fälle, bei denen Rückkehrende am Grenzübergang Nasib nicht den Betrag in syrischen Pfund ausgehändigt bekamen, sind von Human Rights Watch dokumentiert. Anfang April 2021 wurden Vertriebene von der Zahlung ausgenommen (HRW 20.10.2021).

Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen das Reisen zu verbieten (USDOS 12.4.2022).

Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017) [Anm.: Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt „Bewegungsfreiheit“ und die jeweiligen LIBs zu Libanon und Jordanien, den einzigen Nachstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind [Dort finden sich auch Informationen, aus denen hervorgeht, dass ein legale Umsiedlung von staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien nicht vorgesehen ist, und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für Palästinenser illustriert].

Infolge der COVID-19-Pandemie verfügte Maßnahmen wurden bereits wieder sowohl für Reisen in das Ausland, als auch bei der Einreise nach Syrien gelockert. Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen in Damaskus wurde wieder aufgenommen (BMEIA 19.8.2020), ist aber weiterhin reduziert (BMEIA 5.4.2022). Der Flughafen Damaskus und Grenzübergänge werden regelmäßig unter Angabe drohender Gewalt als Begründung geschlossen (USDOS 12.4.2022).

Weitere Informationen siehe Kapitel "Rückkehr".

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (31.3.2022): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung, Stand - 31.03.2022 (Unverändert gültig seit: 03.03.2022), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278 , Zugriff 28.9.2021

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf , Zugriff 7.9.2020

 BMeiA - Bundesministerium für Europäische und internationale Angelegenheiten (5.4.2022): Syrien (Arabische Republik Syrien) Stand 05.04.2022 (Unverändert gültig seit: 24.03.2022), https://www.bmeia.gv.at/reise-services/reiseinformation/land/syrien/ , Zugriff 5.4.2022

 BMEIA – Bundesministerium für Europäische und internationale Angelegenheiten [Österreich] (14.9.2020): Syrien - Aktuelle Hinweise, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/syrien/ , Zugriff 14.9.2020

 FES – Friedrich-Ebert-Stiftung (7.2020): COVID-19 and the Syrian Regime, An Opportunity to tighten its authoriarian control over society, http://library.fes.de/pdf-files/bueros/beirut/16329-20200708.pdf , Zugriff 14.9.2020

 HRW - HRW – Human Rights Watch (20.10.2021): 'Our Lives Are Like Death'; Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2062564/syria1021_web.pdf , Zugriff 5.4.2022

 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html , Zugriff 13.1.2022

 STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf , Zugriff 24.7.2020

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 8.8.2022

Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge

Letzte Änderung: 29.12.2022

Binnenvertriebene (IDPs)

Seit 2011 flüchteten 12,3 Millionen Syrer und Syrerinnen, davon waren Anfang 2022 6,7 Millionen Menschen Binnenvertriebene (HRW 13.1.2022). Im Jahr 2021 registrierte UNOCHA in Syrien 455.864 Binnenvertriebene, im Zeitraum Jänner-Oktober 2022 rund 170.800. Dem gegenüber dokumentierte UNOCHA im Jahr 2021 die Rückkehr von ca. 169.000 Binnenvertriebenen, in den Monaten Jänner bis Oktober 2022 kehrten rund 102.300 von UNOCHA erfasste Binnenvertriebene zurück (UNOCHA 27.12.2022).

Die meisten Binnenflüchtlinge suchen in Gastgemeinden, Sammelzentren, verlassenen Gebäuden oder informellen Lagern Obdach (USDOS 12.4.2022).

Die Verschiebung der Frontlinien und die daraus folgenden Veränderungen der Sicherheitslage führten zu mehrmaliger Vertreibung von Personen: IDPs verließen bei einem Rückgang der Gewalt [in einem Gebiet] ihre Unterkünfte und kehrten in ihre Heimat zurück, nur um dann erneut zu fliehen, nachdem die Kämpfe wieder eskalierten (IDMC o.D.).

Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut diesen Berichten haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 29.11.2021). Die Regierung verwendete weiterhin Gesetz Nr. 10, um regierungstreue Personen zu belohnen, und Flüchtlinge und IDPs daran zu hindern, ihr Eigentum einzufordern oder in ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 2.6.2022).

Weitere Informationen zur Rückkehr von Binnenvertriebenen siehe Kapitel „Rückkehr“ sowie "Grundversorgung und Wirtschaft".

Flüchtlinge

Es wird geschätzt, dass sich 23.600 nicht-palästinensische Flüchtlinge in Syrien aufhalten. Das syrische Gesetz bietet die Möglichkeit, den Flüchtlingsstatus zu gewähren. Das Gesetz garantiert Flüchtlingen nicht explizit das Recht auf Arbeit, außer Palästinensern mit einem bestimmten rechtlichen Status. Die Regierung gewährt Nicht-Palästinensern selten Arbeitsgenehmigungen, und viele Geflüchtete finden im informellen Sektor Arbeit, z.B. als Wachpersonal, Bauarbeiter, Straßenhändler oder in anderen manuellen Berufen (USDOS 12.4.2022).

Die Regierung gewährt irakischen Flüchtlingen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, doch Aufenthaltsgenehmigungen sind nur für jene erhältlich, die legal einreisen, und über einen gültigen Pass verfügen. Diese Kriterien erfüllen nicht alle Flüchtlinge. Sie sind mit wachsenden Risiken und verstärkten Sicherheitsmaßnahmen bei Checkpoints konfrontiert (USDOS 12.4.2022).

Für weitere Informationen zu palästinensischen Flüchtlingen in Syrien siehe Kapitel „Palästinensische Flüchtlinge“.

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html , Zugriff 27.12.2022

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066477.html , Zugriff 27.12.2022

 IDMC - Internal Displacement Monitoring Centre (o.D.): Countries - Syria, http://www.internal-displacement.org/countries/syria , Zugriff 27.12.2022

 UNOCHA Türkiye - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs Türkiye (27.12.2022): Syrian Arab Republic: IDP Movements and IDP Spontaneous Return Movements Data Oct. 2022, https://data.humdata.org/dataset/syrian-arab-republic-idp-movements-and-idp-spontaneous-return-movements-data , Zugriff 27.12.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2073954.html , Zugriff 27.12.2022

 USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html , Zugriff 27.12.2022

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 29.12.2022

Der seit 2011 andauernde Krieg in Syrien hat massive Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung, die Sicherheitslage und die humanitäre Lage im Land. Die Regierung Syriens sieht sich mit internationalen Sanktionen, einer breiten Zerstörung der Infrastruktur, geringen Devisenreserven, der weiterhin nicht vollständigen territorialen Kontrolle aller Landesteile, einer hohen Anzahl an Binnenflüchtlingen sowie der Präsenz kleinerer terroristischer Gruppen konfrontiert (WKO 13.9.2021). Mit 2021 belief sich der wirtschaftliche Schaden des Kriegs auf 1,2 Billionen USD, hauptsächlich durch die Zerstörung von Infrastruktur und die massiven Vertreibungen durch Einsatz verbotener Kriegstaktiken primär durch die syrischen und russischen Streitkräfte (HRW 13.1.2022). Das BIP schrumpfte [Anm.: Stand September 2021] auf ein Fünftel gegenüber 2010. Die Ölproduktion fiel von 380.000 auf 25.000 Barrel pro Tag. Die Handelsbilanz war 2020 mit 4,3 Mrd. USD stark defizitär. Ein Drittel des Wohnungsbestandes wurde ganz oder teilweise zerstört. Allein registrierte Arbeitslosigkeit beläuft sich auf 50 %. Andererseits gibt es einen Mangel an qualifiziertem Personal in bestimmten Sektoren und Gebieten, u.a. bedingt durch die Vertreibung. Der Konflikt hat die soziale Ungleichheit verschärft: 90 % der Menschen leben in Armut. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Syrer bildeten mit 1,6 Mrd. USD einen wesentlichen Plusposten; diese dürften sich COVID-bedingt und aufgrund der Verschärfung der Sanktionen um 50 % halbieren (ÖB 1.10.2021). Laut Economist stellen Produktion und Schmuggel von Drogen - besonders von Captagon - mittlerweile die Hauptquelle Syriens für Devisen dar. Die Produktion und der Schmuggel erfolgen durch Elemente mit Verbindungen zu Regimefunktionären und der Hizbollah: Der New York Times zufolge dominiert dabei die Vierte Gepanzerte Division der Syrischen Armee, welche von Bashar al-Assads Bruder Maher al-Assad kommandiert wird. In Europa und dem Nahen Osten erfolgen große Beschlagnahmungen von Captagon, die aus regimekontrollierten Häfen in Syrien stammten (USDOS 12.4.2022).

Nach zwei Jahren Wachstum brach die Wirtschaft um 8 % ein. Die Inflation betrug mehr als 110 %. Der Verfall des syrischen Pfunds hat sich in den beiden letzten Jahren beschleunigt; ein Grund dafür ist die Liquiditätskrise/Limitierung der Ausgaben von USD durch die Banken im Libanon. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind derzeit nicht gegeben; die Perspektiven haben sich vielmehr verschlechtert. Mit Iran sieht sich ein wichtiger Kreditgeber und Erdöllieferant aufgrund der US-Sanktionen selbst massiv unter wirtschaftlichem Druck (ÖB 1.10.2021). Die im November 2018 und März 2019 erfolgte Verschärfung der US-Sanktionen und das Auslaufen der iranischen Kredite für Ölimporte 2018 führten zu einem massiven Versorgungsengpass an Öl (WKO 17.10.2019).

Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, weil die Situation regional unterschiedlich ist und davon abhängt, unter wessen Kontrolle das jeweilige Gebiet steht (BS 29.4.2020). Auch basiert das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019). Die syrische Regierung kontrolliert auch die Sammlung von Daten (EIP 6.2019).

Währung und Inflation

Syriens Wirtschaftsleistung hat sich stark verschlechtert während des Konflikts und ist von 2010 bis 2017 um mehr als 70 % gesunken (CIA 13.12.2022). Das Jahr 2020 erlebte einen besonders rapiden wirtschaftlichen Niedergang, vor allem in den vom Regime kontrollierten Gebieten. Auf den Märkten kam es zu Einschränkungen bei lebenswichtigen Produkten und einer enormen Preisinflation. Der Wert der syrischen Lira [auch "Pfund"] sank auf ein während des gesamten Krieges noch nie da gewesenes Niveau (SHRC 1.2021). Sie hatte seit Konfliktbeginn bis Ende 2020 bereits 97 % ihres Wertes verloren – und allein von 2019 bis 2021 78 % (TNH 28.6.2021, vgl. WB 9.3.2021).

Internationale Sanktionen, große strukturelle Schäden, der verringerte Konsum und die geminderte Produktion, reduzierte Subventionen und die hohe Inflation senken unter anderem den Wert des syrischen Pfunds und die Kaufkraft privater Haushalte (CIA 13.12.2022; vgl. TS 22.1.2020). Im Jänner 2020 erließ Assad ein Dekret, wonach das syrische Pfund bei geschäftlichen Transaktionen als Währung zwingend vorgeschrieben ist. Geschäfte mit ausländischen Währungen werden mit bis zu sieben Jahren Zwangsarbeit bestraft (TS 22.1.2020).

Die Lebensmittelpreise stiegen in den beiden letzten Jahren um mehr als 500 %, was die Deckung der Grundbedürfnisse für die 12 Millionen SyrerInnen in Lebensmittelunsicherheit unerreichbar macht (WFP 8.2022). Der Anteil an Menschen mit Bedarf an humanitärer Hilfe stieg im Jahr 2021 um 21 % und erreichte eine Gesamtzahl von 13,4 Millionen Menschen, von denen sich laut UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) 1,48 Millionen in schwerster Not befinden (HRW 13.1.2022).

Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich: Mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine elektronische Karte zu beziehen. Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021). Die Nachrichtenagentur des syrischen Regimes SANA gab an, dass sich der Preis für Dieselkraftstoff am 10.7.2021 verdreifacht und der Preis für Brot verdoppelt hat - wenige Tage, nachdem Damaskus eine 25 %-ige Erhöhung des Benzinpreises angekündigt hatte (DS 11.7.2021; vgl SO 12.7.2021, AJ 11.7.2021). Dieser Schritt ging einher mit einem von al-Assad erlassenen Dekret, das die Gehälter im öffentlichen Dienst um 50 %, sowie das Mindesteinkommen von 19 auf 28 USD erhöht (SO 12.7.2021).

Rücküberweisungen der syrischen Diaspora, die bisher eine wichtige Einnahmequelle darstellen, sinken. Die andauernde politische und wirtschaftliche Krise im benachbarten Libanon hemmt die Aussichten auf wirtschaftliche Erholung in Syrien zusätzlich, da auf umfangreiche syrische Vermögenswerte in libanesischen Banken nicht mehr zugegriffen werden kann und die Abwicklung von Importen nach Syrien über den Hafen und Finanzplatz Beirut auch weiterhin nur in begrenztem Maße möglich ist. Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020). Eine erhebliche Abwertung der türkischen Lira hat die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Menschen im Nordwesten Syriens dabei zuletzt verschlechtert. Die türkische Lira hat im Jahr 2021 über 40 % ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren und erreichte Mitte Dezember [Anm.: Stand 16.12.2021] ihren bisherigen Tiefststand . Da die türkische Lira im Nordwesten Syriens eine weitverbreitete Währung ist, hat die Abwertung negative Auswirkungen auf die Menschen und die humanitäre Hilfe (UNOCHA 16.12.2021). Im Dezember 2021 wurde von Panikkäufen aufgrund des Währungsverfalls der türkischen Lira berichtet (TN 8.12.2021). Die selbst ernannte "syrische Errettungsregierung" hat daraufhin beschlossen, die Preise für Ölprodukte, die in den von Hay'at Tahrir ash-Sham kontrollierten Teilen des Gouvernements Idlib verkauft werden, in US-Dollar statt in türkischen Lira anzugeben (TSR 14.12.2021).

Wasser- und Stromversorgung

Die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung ist infolge gezielter Zerstörung vor allem in umkämpften Gebieten eingeschränkt. 12,2 Mio. Menschen benötigten 2020 dringend Zugang zu Trinkwasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen (2019: 15,2 Mio.), für 7,5 Mio. Menschen bedeutet der Kauf von Trinkwasser eine große finanzielle Belastung. Insbesondere im Süden (Dara‘a, Quneitra) sowie im Norden (Idlib, Aleppo) besteht bei fast allen BewohnerInnen von Zeltlagern im hohen Maße der Bedarf an Wasserlieferungen per LKW im Rahmen der humanitären Hilfe (AA 29.11.2021). Laut UNDP haben 70 % der syrischen Bevölkerung keinen regulären Zugang zu sicherem Trinkwasser aufgrund von Wasserausfällen und der Zerstörung grundlegender Infrastruktur (UNDP o.D.). Medienberichten zufolge erreicht die Verschmutzung wichtiger Gewässer ein kritisches Niveau. In vielen Gebieten ist das verschmutzte Wasser nicht mehr für den Konsum geeignet (COAR 31.5.2021; vgl. TNH 20.12.2021) [Anm.: zum Cholera-Ausbruch siehe Kapitel "Medizinische Versorgung"].

Seit Sommer 2021 wird der Nordosten von einer Wasserkrise heimgesucht, wie sie zuletzt 2008 stattfand – und welche als ein wichtiger Grund für die Revolution und den Konfliktbeginn gewertet wurde (AA 29.11.2021). In Hassakah haben eine Million Menschen seit fast zwei Jahren keinen Zugang mehr zu Wasser, weil die Versorgung durch die Wasserstation Alouk, die unter der Kontrolle der türkischen Behörden steht, wiederholt und nun dauerhaft unterbrochen wurde. Die Menschen im Nordosten Syriens sind ebenfalls von einem starken Rückgang der Wassermenge des Euphrat betroffen, der die wichtigste Wasserquelle für das Gebiet darstellt (MSF 27.9.2021; vgl. TNH 20.12.2021). Neben einem Sommer mit extrem wenig Niederschlag im Jahr 2021 machten Vertreter der kurdisch geführten Verwaltung die türkische Regierung für die Verlangsamung der Wassermenge, die über den Euphrat ins Land fließt, verantwortlich (TNH 20.12.2021).

In den letzten Monaten wurde im Nordosten auch die Stromversorgung beeinträchtigt, unter anderem in Ras al-Ain, al-Hassakah, ar-Raqqa und Deir ez-Zour Stadt. Stromunterbrechungen sind für lebenswichtige zivile Infrastruktur, wie Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen essenziell (UNOCHA 15.7.2021). Regime-kontrollierte Gebiete erhalten nur zwei Stunden täglich Strom. In manchen Gebieten halten die Stromausfälle bis zu 48 Stunden an (COAR 5.7.2021). Die regenarme Saison, die zu Wasserknappheit und dürftiger Ernte geführt hat, hat in Nordsyrien bereits zu Spannungen geführt. Die Wasserknappheit verschlimmert sich durch den Einsatz von Wasserversorgung als Waffe durch die Konfliktparteien, besonders durch das Regime, die Autonome Administration und die Türkei, sowie durch das Missmanagement und die Übernutzung des Grundwassers (COAR 5.7.2021).

Lebensmittelversorgung und Zugang zu humanitärer Hilfe

Die Kosten für Grundnahrungsmittel für eine Familie haben sich seit Kriegsbeginn verdreißigfacht. 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aus, in drei Viertel der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei. Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, steigen tendenziell aber landesweit weiter an. 87 % der Bevölkerung haben keinerlei Ersparnisse mehr, 71 % der Haushalte haben sich seit 2019 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung macht von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch, z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten. Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich, mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine elektronische Karte zu beziehen (AA 29.11.2021). Aktuell benötigen 14,6 Millionen Menschen in Syrien humanitäre Hilfe - 9 % mehr als im Jahr 2021 (UNHCR 2022).

In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage besonders angespannt. Die kritische Versorgungslage hat in Regionen mit einem besonders hohen Anteil Binnenvertriebener (z.B. Provinz Idlib, aber auch Zufluchtsorte in den Provinzen Homs, Damaskus, Lattakia und Tartus) darüber hinaus vereinzelt zu Ablehnung und Abweisung von Neuankömmlingen geführt, die als Konkurrenten in Bezug auf die ohnehin sehr knappen Ressourcen gesehen werden. Nach wie vor verhindert die syrische Regierung Hilfslieferungen über die Konfliktlinien hinweg in Oppositionsgebiete. Laut Angaben der Vereinten Nationen vom März 2021 benötigen 13,4 Mio. Menschen in Syrien humanitäre Hilfe. Dies stellt eine Steigerung von 21 % gegenüber dem Jahr 2020 dar (UNOCHA 3.2021b). Ausreichender humanitärer Zugang und Schutz der Zivilbevölkerung stellen weiter die größte Herausforderung dar. Die syrische Regierung gewährt weiterhin keinen ausreichenden Zugang zu den zurückeroberten Gebieten (AA 19.5.2020).

Im Jahresverlauf 2020 ist die Zahl der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist, dramatisch gestiegen. Zu den Gebieten mit der größten Ernährungsunsicherheit gehören Lattakia, Raqqa und Aleppo (UNFAO 13.8.2020). Anfang 2021 waren 12,4 Mio. Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen (WFP 3.2021), eine Steigerung um 56 % von 7,9 Millionen 2019 (UNOCHA 3.2021a). 1,27 Millionen Syrer sind von „schwerer“ Ernährungsunsicherheit betroffen oder können nicht ohne Nahrungsmittelhilfe überleben, 600.000 Kinder sind chronisch unterernährt und 90.000 Kinder sind akut unterernährt (UNOCHA 3.2021a; vgl. COAR 5.7.2021). In Damaskus und den Gouvernements Lattakia und Tartus ist der Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung grundlegend gewährleistet, während sich die Versorgungslage aufgrund der Wirtschaftskrise wieder deutlich verschlechtert hat (AA 4.12.2020). Einer Mitte Oktober 2022 durchgeführten Befragung hauptsächlich im Bevölkerungssegment von 16 bis 35 Jahren zufolge stehen z.B. in Homs 9 % genug Essen zur Verfügung, während es in Aleppo 23 % und in Damaskus 33 % der Befragten sind. 3 % in Damaskus sowie 12 % in Aleppo und 20 % in Homs schaffen es nicht, ihre Familien mit ausreichend Lebensmittel zu versorgen. In Damaskus kommen 21 % gerade noch bei der Lebensmittelversorgung über die Runden. In Aleppo sind es 27 % und in Homs 28 % (COID/SL 2022). Vulnerable Bevölkerungsgruppen, darunter Vertriebene und Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand, sind einem größeren Risiko der Ernährungsunsicherheit ausgesetzt (UNFAO 13.8.2020).

Trotz der Brotkrise weigerte sich das Regime oft, private Bäcker in Gebieten, die zuvor von der Opposition kontrolliert wurden, zuzulassen. Seit Kriegsbeginn zerstörten das Regime- und Pro-Regime-Kräfte systematisch Bäckereien und Öfen, was die Produktion und Verteilung von Brot in umstrittenen Gebieten einschränkte. Auch der Wiederaufbau von Bäckereien durch die Regierung erfolgt nach politischer Ausrichtung eines Viertels statt nach dem Bedarf. Human Rights Watch (HRW) berichtete, dass Regierungskräfte den Bäckereien Brot wegnahmen, um es am Schwarzmarkt zu verkaufen. Bäckereien mit Regierungsunterstützung haben separate Warteschlangen für Einwohner, IDPs, Militärs und Angehörige der Geheimdienste, wobei Kunden mit Regierungszugehörigkeit Vorrang haben (USDOS 12.4.2022). Bereits im September 2020 berichtet wurde, dass die Benzin- und Brotknappheit typisch für Regierungsgebiete ist. Die Lebensmittelpreise sind erheblich gestiegen, wobei urbane Regionen stärker betroffen sind - auch Damaskus (UNHCR 3.2021).

Im Juli 2020 setzte die Russische Föderation für ihren Verbündeten Syrien im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch, dass humanitäre Hilfslieferungen in den hauptsächlich von Rebellen kontrollierten Nordwesten des Landes nur mehr über einen Grenzübergang von der Türkei aus geliefert werden dürfen (EN 12.7.2020). Das aktuelle UN-Mandat für die humanitäre Hilfe über den Grenzübergang (Bab al-Hawa) gilt bis einschließlich Jänner 2023 (UNN 12.7.2022) und wird sowohl von Russland als auch der syrischen Regierung abgelehnt, das alleinige Kontrolle über die Verteilung humanitärer Hilfe erhalten möchte (VOA 12.7.2022). Mit der fortgesetzt steigenden Zahl an Syrern und Syrerinnen in Not wird die Regierung al-Assad immer versierter darin, humanitäre Unterstützung als politisches Instrument zu verwenden, weshalb Hilfe, die dem syrischen Volk helfen soll, in wachsendem Maß die Regierung politisch und finanziell stärkt. Sie schöpft Hilfe ab, zweckentfremdet sie und leitet sie für eigenen Zwecke um - sowohl in den Gebieten unter seiner Kontrolle wie auch in anderen Landesteilen, indem es den internationalen Zugang lenkt (RW 15.2.2022). Die syrische Regierung hat immer wieder auch humanitäre Hilfe als strategische Waffe eingesetzt, um ihre Konfliktziele zu erreichen, wie zum Beispiel während der Belagerung von Dara’a Stadt zwischen 24.6. und 26.7.2021 (COAR 19.7.2021).

Die lange andauernden kriegerischen Handlungen führten auch zu einer Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur. Die COVID-19-Krise hat dies noch weiter verschärft (UNFAO 13.8.2020). Syrien als ehemaliger Agrarexporteur ist mittlerweile auf Nahrungsmittelimporte angewiesen. Ein wesentlicher Teil der syrischen Agrarprodukte (Weizen, Oliven(-öl), Gemüse) wird in (ehemals) oppositionellen Gebieten produziert (Idlib, Hassakeh, Dara‘a, Ghouta). Für die Nahrungsversorgung der syrischen Bevölkerung spielt Weizen eine tragende Rolle. Die Dürre im Nordosten, wo 80 % der jährlichen Getreideproduktion Syriens angebaut wird, hatte fatale Auswirkungen auf die Ernteerträge 2021. Eine Situation wie diese gab es seit 30 Jahren nicht mehr, denn 40 % der Ackerflächen konnten 2021 nicht mehr bestellt werden, und schwere Ernteausfälle werden auch für die Folgejahre erwartet: Ackerflächen sind weiterhin durch Kampfmittel schwer kontaminiert, was ihre Nutzung teilweise unmöglich macht. Die Transportwege in Regimegebiete sind teils blockiert oder aufgrund der zahlreichen Straßensperren sehr teuer. Das syrische Regime hat nach glaubhaften Berichten gezielt die Zerstörung von Anbaugebieten, Lebensmittelvorräten und Saatgut in von der Opposition gehaltenen Gebieten als Mittel der Kriegsführung eingesetzt, versucht aber inzwischen so viel der Weizenernte im Nordosten wie möglich aufzukaufen – aufgrund der knappen Devisen mit nur mäßigem Erfolg (AA 29.11.2021).

Zur wachsenden Bedeutung religiöser Stiftungen für die Grundversorgung siehe Kapitel "Religionsfreiheit".

Infrastruktur

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 20.7.2020). Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren, und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 7.4.2020).

Die syrische Regierung bemüht sich, den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient eher der internen Propaganda, bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden, und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten IS befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzukommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartus und Lattakia (AA 4.12.2020). Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche, und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).

Zugang zu Einkommen und Arbeit

Im Verlauf des Konflikts hat sich eine Kriegsökonomie herausgebildet, von der die syrische Regierung und ihr nahestehende Individuen und Gruppen profitieren. Die syrische Regierung verwendet einen Großteil des bereits limitierten Staatshaushalts für die Instandhaltung der Armee und der Sicherheitsbehörden sowie für laufende Militäroperationen. Staatspräsident Assad kündigte im Juli 2021 eine Gehaltserhöhung um 50 % für Beamte und Angehörige des Militärs an (AA 29.11.2021). Durch den Bürgerkrieg haben sich bestehende Einkommens- und Vermögensungleichheiten verschärft, indem gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben, und die Konsolidierung einer wohlhabenden Wirtschaftselite in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ermöglicht wurde. Die Mittelschicht ist landesweit verschwunden. Es zeichnet sich ein Muster der Ungleichheit innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete ab: Ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind anfälliger für die Verletzung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten (durch Plünderungen und Einschüchterungen) und haben weniger Chancen, von Wiederaufbaugeldern zu profitieren. Die Entwicklungsungleichheit folgt zunehmend der historischen Loyalität einer Region gegenüber dem Regime Assads und nicht mehr dem ethnischen oder religiösen Status (BS 29.4.2020).

Der Zugang zu Sozialleistungen wird häufig durch die geografische Lage und die politische Kontrolle bestimmt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten waren bestimmte Sozialleistungen eine wichtige Stütze für die "Leistungsfähigkeit des Staates", vor allem der fortgesetzte Zugang zu subventioniertem Brot [Anm.: zu der Rangordnung beim Zugang siehe weiter oben Abschnitt "Lebensmittelversorgung und Zugang zu humanitärer Hilfe"]. Das Regime versucht jedoch auch, den Zugang zu Sozialleistungen in Rebellengebieten zu verhindern. Dies geschieht häufig durch die Ausbeutung von Hilfslieferungen an Checkpoints durch Regimekräfte sowie durch andere bewaffnete Gruppen. Mangelnde Überwachung bedingt außerdem, dass die Hilfe, selbst wenn sie die betroffenen Gebiete erreicht, oft nach politischen Loyalitäten oder familiären Verbindungen verteilt wird. Die Regierung verlässt sich zunehmend auf Wohltätigkeitsverbände bei der Vergabe von Sozialleistungen und Unterstützungen (BS 29.4.2020).

Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die katastrophale wirtschaftliche Lage und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen (ÖB 1.10.2021). Wirtschaftliche Verluste führten zum Verlust von Arbeitsplätzen. Inzwischen gehen laut GIZ drei von vier Erwachsenen keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach (GIZ 9.2020). Das deutsche Auswärtige Amt berichtet hingegen, dass 50 % der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos sind (AA 4.12.2020). Der Think Tank Middle East Institute berichtete schon 2018, dass es in Damaskus immer schwieriger würde, ohne Beziehungen (wasta) eine Arbeitsmöglichkeit zu finden (MEI 6.11.2018). Aufgrund von Treibstoffknappheit verteuern sich auch viele Grundprodukte, und die Preise öffentlicher Verkehrsmittel erhöhten sich teilweise um bis zu 200 % (AA 4.12.2020). Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021). Von Jänner bis Mai 2022 stieg der Preis von Treibstoff um weitere 40 % (AM 29.6.2022).

Das Operations and Policy Center veröffentlichte Daten, die darauf hindeuten, dass obwohl Menschen in Damaskus eine der längsten Arbeitswochen der Welt haben, ihre Ausgaben unter die globale Armutsgrenze fallen. Ein großer Teil der Menschen in Damaskus (und de facto ganz Syriens) sind auf externe Einkommensquellen angewiesen, um sich zu versorgen. Ein Viertel der im Rahmen des OPC-Berichts Befragten gaben an, dass Überweisungen aus dem Ausland eine Haupteinkommensquelle sind, während 41 % auf Bargeldzahlungen von Hilfsorganisationen angewiesen sind (OPC 22.6.2021).

Wohnsituation sowie Enteignungen

Einer Untersuchung der Weltbank zufolge ist ein Drittel des gesamten Bestandes an Häusern und Wohnungen im Rahmen des Konfliktes in Mitleidenschaft gezogen worden, wobei knapp 10 % völlig zerstört und 23 % beschädigt wurden. 5,9 Mio. Menschen leben in von UNHCR als unzulänglich kategorisierten Unterkünften, vielfach ohne Heizung und entsprechende Isolierung gegen Kälte und Regen. Laut Vereinten Nationen können rund 1,2 Mio. Menschen keine Miete bezahlen. Mit Stand März 2021 lebten in Syrien rund zwei Mio. Menschen in Zeltlagern, 85 % davon in Nordwestsyrien (2018: 670.000). 50 % aller Rückkehrerinnen und Rückkehrer leben in beschädigten oder ungeeigneten Gebäuden (ehemalige Schulen, Bürogebäude) (AA 29.11.2021).

In Damaskus haben sich fast eine Million Binnenvertriebene vorübergehend oder dauerhaft niedergelassen, während ein großer Teil der Wohnhäuser am ehemals von den Rebellen gehaltenen östlichen und südlichen Stadtrand zerstört ist (Wind/Ibrahim 2.2020). Die Nachfrage nach Wohnraum ist enorm, während das Angebot auf dem Wohnungsmarkt begrenzt ist. Neue Stadtentwicklungsprojekte sind luxuriös und unerschwinglich für Familien, die ihr Zuhause aufgrund des Krieges verloren haben. Daher hat der informelle Wohnungsbau am südlichen und nördlichen Rand der Stadt stark zugenommen (Wind/Ibrahim 2.2020; vgl. ST 21.6.2020). Aufgrund der Abwertung des syrischen Pfunds sind die Wohnungspreise im Laufe des Jahres 2020 stark gestiegen (ST 21.6.2020). Für die Gültigkeit von Kauf- oder Mietverträgen wird eine Sicherheitsüberprüfung verlangt. Personen, die an Immobilientransaktionen interessiert sind, werden vom Sicherheitsapparat dahingehend überprüft, ob "Familienmitglieder unter dem Verdacht terroristischer Aktivitäten stehen, ob sie aus dem Land geflohen sind oder ob der Antragsteller aus einem von Rebellen kontrollierten Gebiet umzieht" (AA 29.11.2021).

Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 29.11.2021). In wiedereroberten Teilen von Idlib und Hama konfiszieren so z.B. die syrischen Behörden mittels Pro-Regime-Milizen und der staatlich kontrollierten Bauerngewerkschaft ungesetzlicherweise die Heime und das Land von SyrerInnen, welche vor den syrisch-russischen Angriffen geflüchtet waren. Der Besitz wird dann durch Auktionen versteigert (HRW 13.1.2022).

Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, welche die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Bereits im September 2012 hat die syrische Regierung mit Präsidialdekret 66/2012 eine rechtliche Grundlage für die Ausweisung von Stadtentwicklungsgebieten in zwei informellen Siedlungen in Damaskus (Marota City im Stadtteil Basateen al-Razi und Basilia City in mehreren südlichen Stadtvierteln) geschaffen. Da viele geflohene oder vertriebene Bewohner nicht nach Syrien zurückkehren konnten, um ihre Eigentumsrechte geltend zu machen, bzw. keine Eigentumsdokumente vorweisen konnten, verloren in Marota rund 50.000 Menschen ihr Zuhause ohne angemessene Entschädigung oder Erhalt einer alternativen Unterkunft (AA 29.11.2021).

Das Gesetz Nr. 10, das im April 2018 in Kraft trat, sieht vor, dass örtliche Behörden die Kontrolle über ausgewiesene Gebiete für den Wiederaufbau übernehmen und auch Enteignungen vornehmen können. Die Eigentümer werden innerhalb einer einmonatigen Ankündigungsfrist verständigt und haben dann ein Jahr Zeit, ihre Eigentumsansprüche einzubringen, damit sie Anspruch auf Kompensation (auch Eigentumsansprüche auf neu errichtete Wohneinheiten auf ihren Grundstücken) erheben können. Anvisierte Bezirke oder Gebiete waren mehrheitlich in der Hand der Rebellen. De facto stellt dies auch eine Enteignung jener Flüchtlinge dar, die wegen der Angst vor politischer Verfolgung oder anderer Gründe, nicht nach Syrien zurückkehren können, um ihre Ansprüche anzumelden (WKO 10.2019). Informelle Siedler werden verdrängt und erhalten nur begrenzte Entschädigungen, während die ehemaligen formellen Grundeigentümer nur begrenzte Möglichkeiten haben, von der Wertsteigerung zu profitieren (Wind/Ibrahim 2.2020). Die in Dekret 10/2018 festgelegte Vorgehensweise bei der Berechnung des Entschädigungswerts bei Neubebauung kommt laut UN-Experten einer „marktbasierten Enteignung“ gleich. Die meisten Binnenvertriebenen oder Flüchtlinge haben weder ausreichend Ressourcen, noch die notwendigen Urkunden, um ihren Anspruch zu registrieren (AA 29.11.2021).

Dekret 42/2018 wurde bislang nicht umgesetzt. Stattdessen findet zunehmend Dekret 23/2015 Anwendung, demzufolge Grundstücke auch in Abwesenheit der ursprünglichen Eigentümer genutzt werden können. Insbesondere informelle Viertel, die aufgrund der rapiden Urbanisierung in den 1980er und 1990er Jahren in den meisten syrischen Städten entstanden waren, sind der Regierung ein Dorn im Auge. Eigentumsverhältnisse sind für von dort geflohene Bewohner nur schwer nachweisbar. Zahlreiche syrische Staatsangehörige scheuen zudem den Kontakt mit offiziellen staatlichen Stellen, weil sie Befragungen durch die Sicherheitsbehörden befürchten. Menschen aus ehemals belagerten Gebieten trauen sich oftmals aus Angst vor Repressionen nicht, persönlich die Ausstellung eigener Personenstandsdokumente zu beantragen. Bei Anwendung von Gesetz 10/2018 könnten daher zahlreiche Rückkehrerinnen und Rückkehrer kurz- bis mittelfristig enteignet werden. Es gibt außerdem immer wieder Berichte über Rückkehrende, die verhaftet wurden, als sie ihre Besitzansprüche gegenüber syrischen Behörden geltend machen wollten (AA 29.11.2021).Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. Auf der Grundlage des Dekrets 63/2012 wurde die vorsorgliche Beschlagnahme von Eigentum und Vermögen von mindestens 10.000 Personen gerechtfertigt. Diese Form der Bestrafung führt nicht nur zu Repressalien gegen die Inhaftierten, sondern dient auch als kollektive Bestrafung ihrer Familien. Zudem erlaubt Dekret 63/2012 dem Finanzministerium den Besitz und das Vermögen aller, die unter die Anti-Terror-Gesetzgebung fallen, zu beschlagnahmen. Laut eines Berichts des SNHR wurden mindestens 3.970 solcher Fälle zwischen 2014 und Oktober 2020 dokumentiert. Die Konfiszierungslisten sollen neben den Daten der Betroffenen selbst, auch die Namen ihrer Familienmitglieder enthalten. Die Anwendung des Dekrets kann auch auf diese ausgedehnt werden (AA 29.11.2021).Das Regime konfisziert Eigentum nicht nur unter rechtlichem Vorwand, sondern beschlagnahmt auch Grundstücke von Gefangenen, Oppositionellen und Vertriebenen für militärische Zwecke und zum Verkauf an iranische Milizionäre. In Ost-Ghouta und Douma hat die Regierung viele Grundstücke beschlagnahmt, die in erster Linie Personen gehören, die nach Nordsyrien oder in die Türkei vertrieben wurden oder die vom Militär übergelaufen sind. Diese Grundstücke wurden an Familien von Militärangehörigen vergeben oder werden als militärische Quartiere genutzt (AA 29.11.2021).

Während des gesamten Konflikts gab es zudem Berichte über Luftangriffe, die direkt auf Standes- und Katasterämter abzielten. Dadurch wurden in großem Umfang Personenstands – und Eigentumsdokumente zerstört, sodass es für viele Menschen schwierig ist, ihre Eigentumsansprüche nachzuweisen. Mit dem Gesetz 10/2016 hat Damaskus bestimmte Gebiete - insbesondere Gebiete außerhalb der staatlichen Kontrolle - als "Sicherheitsrisiko" eingestuft, um damit Änderungen in den Eigentumsregistern in diesen Gebieten zu verbieten. Immobilientransaktionen von Syrerinnen und Syrern in Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung werden damit nicht anerkannt. Weiterhin wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 29.11.2021).

Eine Änderung des syrischen Wehrpflichtgesetzes (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern. Im Februar 2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).

Zu Beginn 2021 konfiszierte das Regime mehr als 44.000 ha landwirtschaftliche Flächen in den Gouvernements Hama, Aleppo und Idlib – und gab diese öffentlich zur Versteigerung frei. Diese Flächen waren als Land in Staatseigentum ("Amiriland") zur langfristigen Nutzung im Besitz von im Konflikt vertriebenen Syrern, von den sich die meisten außerhalb des Landes befinden und deshalb ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Bewirtschaftung des Bodens nicht nachkommen konnten (AA 29.11.2021).

In Gebieten, welche von der Regierung zurückerobert wurden, berichtete die Mehrheit der von Human Rights Watch interviewten Personen über komplett oder teilweise zerstörte Häuser, der Wiederaufbau oder Renovierung sie sich nicht leisten konnten. Die syrische Regierung stellt keine Wiederaufbauhilfe zur Verfügung - auch nicht Jahre nach der Rückeroberung. Daher leben viele BewohnerInnen in behelfsmäßigen Zelten, weil sie es sich nicht leisten können, anderswo etwas zu mieten (HRW 13.1.2022).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1 , Zugriff 3.3.2022

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt ,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf , Zugriff 7.9.2020

 AJ - Al Jazeera (11.7.2021): Syrian government announces steep rise in bread, diesel prices, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/11/syria-government-raises-bread-diesel-prices-as-crisis-deepens , Zugriff 21.12.2022

 AM - Al Monitor (29.6.2022): World Bank official: Lebanon, Yemen, Syria most food-insecure in region, https://www.al-monitor.com/originals/2022/06/world-bank-official-lebanon-yemen-syria-most-food-insecure-region , Zugriff 20.12.2022

 BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report – Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf , Zugriff 21.12.2022

 CIA - Central Intelligence Agency [USA] (13.12.2022): The World Factbook: Syria, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/syria/#transnational-issues , Zugriff 21.12.2022

 COAR - Center for Operational Analysis and Research (19.7.2021): https://coar-global.org/2021/07/19/spotlight-on-aid-sector-wages-as-damascus-increases-salaries/ , Zugriff 21.12.2022

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Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 29.12.2022

2021 benötigten in Syrien 12,5 Mio. Menschen (2020: 13,2 Mio.) Pflege- bzw. Gesundheitsleistungen. 25 % der Bevölkerung haben – mehrheitlich konfliktbedingte – Behinderungen, doppelt so hoch wie der internationale Durchschnitt. Davon sind mindestens 62 % arbeitslos und 75 % ohne Zugang zu medizinischer oder finanzieller Unterstützung (AA 29.11.2021). Tausende von Kindern leiden an schwerer Unterernährung. Tausende weitere leiden an Krebs, Diabetes und anderen chronischen Erkrankungen, für die es nur begrenzte Behandlungsmöglichkeiten gibt (WHO 2.2021).

Das syrische Regime und seine Verbündeten zielten im Verlauf des Konfliktes klar und bewusst auf den medizinischen Sektor (USDOS 12.4.2022) und die Notfallrettung ab. Solche Angriffe stellen eine der wichtigsten militärischen Strategien des syrischen Regimes und seiner Anhänger dar (SHRC 1.2020; vgl. AI 11.5.2020, TNYT 3.6.2019, BS 29.4.2020). Die Spitäler im Nordwesten gelten weiterhin als Ziele von Angriffen (BS 23.2.2022) - wie z.B. in Idlib (USDOS 12.4.2022). Syrische Regierungstruppen und ihre Verbündeten waren für 90 % von 600 verifizierten Angriffen auf medizinische Einrichtungen verantwortlich. Diese machten medizinische Einrichtungen sowohl für das medizinische Personal als auch für die Patienten zu tödlichen Orten und dezimierten den Gesundheitssektor im ganzen Land (PHR 7.2021).

Im Jahr 2020 wurde von der Menschenrechtsorganisation Syrian Human Rights Committee (SHRC), verglichen mit früheren Jahren, ein merkbarer Rückgang der Angriffe auf den medizinischen Sektor und die Notfallrettung dokumentiert (SHRC 1.2021). Jedoch beschädigten und zerstörten die syrische Regierung und die verbündeten russischen Streitkräfte während der Militäroffensive zur Rückeroberung von Idlib zwischen April 2019 und März 2020 mindestens 77 Gesundheitseinrichtungen bei Luftangriffen, die von der UN-Untersuchungskommission für Syrien (COI) als wahllos bezeichnet wurden und zu einer weitreichenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur führten (SHCC 5.2021; vgl. USDOS 30.3.2021). Diese Luftangriffe zerstörten Krankenhäuser, beschädigten medizinische Vorräte und Ausrüstung und legten lebenswichtige Gesundheitsnetzwerke lahm; sie folgten einem gut dokumentierten Muster von Angriffen mit schwerwiegenden humanitären und zivilen Auswirkungen (USDOS 30.3.2021).

In den von der Regierung kontrollierten Gebieten wurden Mitarbeiter des Gesundheitswesens von den Kräften des syrischen Regimes systematisch inhaftiert und gefoltert, häufig wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Bereitstellung von Gesundheitsdiensten für Menschen in von der Opposition kontrollierten Gebieten (USDOS 12.4.2022). Die syrische Regierung betrachtet medizinisches Personal als Staatsfeinde, wenn dieses diskriminierungsfrei medizinische Versorgung in Gebieten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, anbieten (NMFA 5.2020). Dabei wird Folter eingesetzt, z.B. um Informationen über Aktivitäten zur Gesundheitsversorgung oder über anderes medizinisches Personal zu erhalten. Verhaftungen betrafen auch Gesundheitspersonal, das mit internationalen Medien über COVID-19 gesprochen hatte oder sonst der strengkontrollierten offiziellen Narrative über die Pandemie widersprach. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR) waren weiterhin mindestens 3.360 Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs von Verschwindenlassen oder Haft betroffen, wobei die syrischen Regimekräfte für mehr als 3.300 Fälle verantwortlich waren (USDOS 12.4.2022).

Von 2011 bis November 2021 wurden laut SNHR 861 Mitarbeiter des Gesundheitssektors getötet, davon fünf seit Anfang 2021. Die NGO Physicians for Human Rights (PHR) gibt die Anzahl der Getöteten mit 930 an, wobei das Regime sowie die russischen Truppen für mehr als 90 % der Fälle die Verantwortung trugen. In Idlib wurden weiterhin im Laufe des Jahres Mitarbeiter der Gesundheitsversorgung getötet (USDOS 12.4.2022).

Gewalt gegen Mitarbeiter im Gesundheitsbereich und Angriffe auf medizinische Einrichtungen, verbunden mit den Folgen von Covid-19, erschweren den Zugang zu medizinischer Versorgung, auch für Personen mit konfliktbedingten Behinderungen (USDOS 12.4.2022). Der Zugang zu medizinischer Versorgung war schon vor der COVID-19-Pandemie stark eingeschränkt; medizinische Grund- und Notversorgung waren aufgrund der gezielten Angriffe auf das Gesundheitswesen kaum gewährleistet. Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) aus 2021 zufolge sind rund 47 % der Gesundheitseinrichtungen und 42 % der Krankenhäuser als Folge militärischer Auseinandersetzungen und fehlender Instandhaltung nicht oder nur eingeschränkt funktionstüchtig. Aufgrund der Kampfhandlungen in Idlib und der Abwanderung des Gesundheitspersonals mussten seit Dezember 2019 mindestens 83 Gesundheitseinrichtungen schließen. Zahlreiche Ärzte und Pflegekräfte wurden zudem bei Angriffen getötet. Notfalltransporte sind durch einen Mangel an Krankenwagen stark beeinträchtigt, circa 40 % der Ambulanzfahrzeuge sind beschädigt oder zerstört. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) können komplexere Operationen und spezialisierte Behandlungen für chronische Krankheiten derzeit ausschließlich in Damaskus oder den Küstenorten Tartus und Latakia durchgeführt werden. In Dara‘a-Stadt und Idlib-Stadt ist jeweils nur ein Krankenhaus funktionsfähig (AA 29.11.2021). Neun von zehn Patienten in Damaskus kommen aus anderen Provinzen, um Gesundheitsversorgung zu erhalten. Aufgrund des hohen Bedarfs ist das Gesundheitswesen überlastet. Zum Beispiel müssen sich Verwandte an der Pflege von Kindern in der Notfallversorgung beteiligen, weil das medizinische Personal nicht über ausreichende Ressourcen verfügt, und die Krankenhäuser überbelegt sind. Eine Mitarbeiterin einer internationalen Organisation in Damaskus berichtete, dass in der Kinder-Notbetreuung fünf Kinder in einem Bett liegen (IO C 2.4.2019).

Zur komplexen Lage kam im Frühjahr 2020 die Herausforderung durch COVID-19 hinzu (bpb 18.6.2020). Bei lebensrettenden Arzneimitteln, medizinischem Personal und Ausstattung sind erhebliche Engpässe ermittelt worden, insbesondere im Hinblick auf die medizinische Behandlung Verletzter und chronisch kranker Personen. Dies hat auch zur Rückkehr übertragbarer Krankheiten wie Polio geführt (AA 29.11.2021; vgl. bpb 18.6.2020). Die verfügbaren Daten für nicht-COVID-19-bezogene Krankheiten zeigen, dass grippeähnliche Erkrankungen, akute Diarrhö, Leishmaniose und mutmaßlich Hepatitis in allen Altersgruppen die Hauptursachen für Sterblichkeit sind. Dies gilt insbesondere für Lager von Binnenvertriebenen, in denen die Indikatoren für den Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygienediensten durchwegs schlechter sind als außerhalb. Vertriebene sind aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, Überbevölkerung und anderen Risikofaktoren einem erhöhten Risiko von Infektionskrankheiten ausgesetzt. Menschen mit Behinderungen benötigen Rehabilitations- und Hilfsdienste. Die grundlegende Infrastruktur des Gesundheitswesens, wie Krankenhäuser und Gesundheitszentren, ist in einem baufälligen Zustand und erfordert umfangreiche Instandhaltungs- und Sanierungsarbeiten, um ein Mindestmaß an Dienstleistungen zu gewährleisten (WHO 3.2021).

Mehr als die Hälfte aller Gesundheitseinrichtungen sind geschlossen oder nur teilweise in Betrieb (USDOS 12.4.2022). Die folgende Grafik der WHO mit Stand Ende Juni 2020 zeigt die Verteilung und den Funktionalitätsstatus öffentlicher Gesundheitszentren:

WHO 2020

In den nicht vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten ist die Not bezüglich Gesundheitsversorgung besonders groß. Die Menschen im Nordwesten leiden unter Kampfhandlungen, Vertreibung und großer Armut, von den rund 4 Mio. Menschen dort leben knapp 1,8 Mio. notdürftig in Zelten, 3,1 Mio. brauchen Gesundheitsversorgung. Humanitäre Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Sicherstellung einer Basisgesundheitsversorgung der Menschen dort werden vom Regime gezielt behindert bzw. verhindert. Auch gezielte Angriffe des Regimes gegen zivile Gesundheitseinrichtungen dauern an. Zwischen 2016 und 2019 wurden im Nordwesten 337 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gezählt, von den 606 durch die WHO erfassten Gesundheitseinrichtungen in Nordwestsyrien sind 131 funktionsunfähig. Laut Aid Worker Security Database stand Syrien 2020 mit 44 Angriffen auf Gesundheitspersonal auf Platz 3 weltweit (2019 auf Platz 1). Hauptursachen waren Luftangriffe, Beschuss sowie Detonationen von Kampfmitteln (IEDs) (AA 29.11.2021, vgl. AWSD 10.2022).

Seit September 2022 wird Nordwest- und Nordostsyrien von einem größeren Cholera-Ausbruch heimgesucht. Zunächst wurde dieser sowohl mit verschmutztem Wasser nahe des Euphrats als auch mit massiven Wassermangel im nördlichen Syrien in Verbindung gebracht, aber mittlerweile hat er fast das gesamte Land erfasst (MSF 21.10.2022). Der erste Cholera-Fall vom 22.8.2022 gilt als der erste bekannte Fall seit mehr als einer Dekade (WHO 4.10.2022, vgl. MSF 21.10.2022, WHO 18.10.2022). Stand 22.10.2022 meldete das syrische Gesundheitsministerium Cholera-Ausbrüche in 13 der 14 Regierungsbezirken mit insgesamt 942 bestätigten Fällen und 44 Todesfällen (WHO 26.10.2022), wobei die nordöstlichen Gouvernements Aleppo, Deir ez-Zour, Ar-Raqqa und Al-Hassakah immer noch am Stärksten betroffen sind (WHO 18.10.2022). Schätzungen zufolge sind die Zahlen jedoch höher: die NGO Ärzte ohne Grenzen spricht, Stand 14.10.2022 von mehr als 13.000 mutmaßlichen Fällen (MSF 21.10.2021). Laut der WHO stellen das fragile Gesundheitssystem Syriens, der andauernde bewaffnete Konflikte, daraus resultierende politische Instabilität und die mangelhafte Wasser-, Sanitäts- und Hygienesituation (Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit von Wasser) die derzeit größten Herausforderungen dar (WHO 18.10.2022). Hinzu kommen Berichte, dass die Türkei keinen geregelten Wasserfluss in den Euphrat garantiert und daher das Problem des Wassermangels zusätzlich verstärkt (APa 7.11.2022, vgl. HRW 7.11.2022).

Im Oktober 2022 wurden zudem Zeitungsartikel publiziert, die von Korruption, Betrug und Übergriffen im Syrien-Büro der WHO berichten. So soll die Leiterin Akjemal Magtymova laut der Associated Press Hilfsgelder in Millionenhöhe veruntreut und Regierungsvertreter mit kostspieligen Geschenken beeinflusst haben. Des Weiteren beschuldigen WHO-Mitarbeiter ihre Chefin inkompetente Verwandte von teils fragwürdigen Staatsfunktionären angestellt und während der COVID-19-Pandemie dringend benötigte Gelder, die für humanitäre Hilfeleistungen vorgesehen waren, anderweitig ausgegeben zu haben. Dadurch konnte und kann die WHO laut eigenen Mitarbeitern in Syrien das Gesundheitssystem, welches beinahe gänzlich auf internationale Hilfeleistungen angewiesen ist, nicht adäquat unterstützen, vor allem da das letztjährige Budget nur ca. 115 Millionen US-Dollar betrug. Eine interne Untersuchung der WHO der berichteten Missstände läuft seit mehreren Monaten (APb 20.10.2022, vgl. TG 20.10.2022).

WHO-Hilfsprogramme in von der bewaffneten Opposition (Idlib) oder der kurdischen sog. „Selbstverwaltung“ kontrollierten Gebieten werden vom Regime durch Androhung einer Einstellung aller WHO-Operationen regelmäßig verhindert. Die Gesundheitsversorgung in oppositionellen Gebieten wird weitestgehend von Nichtregierungsorganisationen geleistet, die von Zuwendungen der internationalen Gebergemeinschaft abhängig sind. Durch die Vertreibungen aus belagerten Gebieten wird das ohnehin extrem angespannte Gesundheitssystem im nicht vom Regime kontrollierten Nordwesten des Landes weiter belastet. Die Vereinten Nationen bemühen sich, schützenswerte zivile Einrichtungen gemeinsam mit den Konfliktparteien zu identifizieren, um sie vor Angriffen zu schützen. Das Regime und Russland halten sich oftmals nicht daran, sodass mehrfach Krankenhäuser in oppositionellen Gebieten, die Teil dieses Verfahrens sind, von Angriffen betroffen waren. Mit Hinweis auf Freiwilligkeit und den informellen Charakter gab Russland am 29.6.2020 den einseitigen Rückzug aus dem „humanitarian deconfliction mechanism“ bekannt (AA 29.11.2021).

Laut UN-Angaben leiden 27 % der Bevölkerung unter traumatisch bedingten psychischen Krankheiten (2020: 15 %), langfristige Traumata bleiben unbehandelt. 47 % aller jungen Menschen haben den Todesfall eines engen Familienmitgliedes oder Freundes erlebt. Eine psychosoziale Betreuung der hohen Anzahl traumatisierter Menschen wird nur punktuell und fast ausschließlich durch Maßnahmen der WHO gewährleistet (AA 29.11.2021). Einer Studie zufolge leiden 60 % der syrischen Bevölkerung an Symptomen, die auf eine mittelschwere bis schwere psychische Störung hindeuten. Schätzungen zufolge leiden 1 Million Syrer an schweren psychiatrischen Störungen, wobei 2018 nur 80 Psychiater im Land tätig waren (1 pro 100.000 Einwohner) (BJPSYCH 8.2021).

25 % der Über-12-Jährigen in Syrien haben eine Beeinträchtigung und 36 % der Binnenvertriebenen. 50 % der Binnenvertriebenen zwischen zwölf und 23 Jahren mit Beeinträchtigung besuchen die Schule im Vergleich zu 69 % der Binnenvertriebenen ohne Beeinträchtigung (HNAP 7.4.2021). Frauen und Menschen mit Beeinträchtigung scheinen im Nordwesten stärker betroffen zu sein, wo mehr als die Hälfte der Frauen und mehr als 40 % der Menschen mit Beeinträchtigung von einem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten sprechen, im Vergleich zu etwas mehr als 35 % der Frauen und fast 20 % der Menschen mit Beeinträchtigung im Nordosten (USAID 16.04.2021).

Anm.: Siehe hierzu auch Kapitel „COVID-19“.

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 MSF - Medecins Sans Frontieres (21.10.2022): Cholera spreads across Syria putting vulnerable people at serious risk, https://www.msf.org/cholera-spreads-across-syria-putting-vulnerable-people-serious-risk , Zugriff 21.12.2022

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 WHO - World Health Organization (18.10.2022): Syrian Arab Republic: WHO Syria Situation Report #9 Cholera Outbreak, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syrian-arab-republic-who-syria-situation-report-9-cholera-outbreak-18-october-2022 , Zugriff 21.12.2022

 WHO - World Health Organization (4.10.2022): Norway lends first-hand support to WHO in response to the cholera outbreak in Syria, https://www.emro.who.int/syria/news/norway-lends-first-hand-support-to-who-in-response-to-the-cholera-outbreak-in-syria.html , Zugriff 21.12.2022

 WHO - World Health Organization (3.2021): WHO Emergency Appeal, March - 2021, Syrian Arab Republic, http://www.emro.who.int/images/stories/syria/2021-whole-of-syria-appeal.pdf?ua=1 , Zugriff 21.12.2022

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Rückkehr

Letzte Änderung: 29.12.2022

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: Siehe weiter unten für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen!], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Einem Bericht von Amnesty International zufolge betrachten die syrischen Behörden Personen, welche das Land verlassen haben, als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen (AI 9.2021). Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Offiziell gibt der Staat zwar vor, Syrer zur Rückkehr zu ermutigen, aber insgeheim werden jene, die das Land verlassen haben, als "Verräter" angesehen. Aus Sicht des syrischen Staates ist es besser, wenn diese im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo hat der syrische Staat laut einem befragten Syrien-Experten jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021). Das Regime will Rückkehrer mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021).

Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften gegenüber Rückkehrenden, die sich in verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassten Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).

Hindernisse für die Rückkehr

Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 % aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutze das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar in den Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).

Die katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021). Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Viele Menschen haben ihre Häuser zurückgelassen, die mittlerweile von jemandem besetzt wurden. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst (mukhabarat) auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021).

Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung gesehen als Leute, die davon gelaufen sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich "sauber" sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021). Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).

Neben den fehlenden sozio-ökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB 1.10.2021). Die Meinungen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern sind uneinheitlich. Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, da es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat auf Social Media), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen nicht sehr ernst oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021). Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein "erweitertes Syrien", und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon Korruptionsnetzwerke zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021). Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als "Krankheitserreger" sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021). Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht zurückkommen, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für politische Flüchtlinge. Auch besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021). Laut Khaddour sind Entführungen, um Geld zu erpressen, nur individuelle Akte (Khaddour 24.12.2021).

Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z.B. Rakka, Deir Ez-Zor). Laut UNMAS (United Nations Mine Action Service) sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 % der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben. Zwei Drittel der Überlebenden sind lebenslang eingeschränkt. 39 % der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 % auf landwirtschaftlichen Flächen, 10 % auf Straßen oder am Straßenrand. 26 % der Opfer seit 2019 waren Binnenvertriebene IDPs (ÖB 1.10.2021).

Die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums lässt sich weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus als Indikator beschränken, noch ist ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen können nach geografischen Kriterien daher weiterhin nicht getroffen werden. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des Auswärtigen Amts insofern für keine bestimmte Region Syriens und für keine Personengruppe grundsätzlich gewährleistet und überprüft werden (AA 29.11.2021). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).

Für weitere Informationen siehe auch Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".

Inhaftierung, Folter, Vergewaltigung und Verschwindenlassen von Rückkehrern

Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang UNHCRs und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist (AA 29.11.2021; vgl. DIS 5.2022). Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022).

Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von Rückkehrern (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat haben immer wieder Personen verfolgt, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021).

Die syrische Regierung führt Listen mit Personen, die ihrer Meinung nach auf die eine oder andere Weise oppositionell sind. Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z.B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit (FIS 14.12.2018). Jeder Nachrichtendienst führt seine eigenen Fahndungslisten und es gibt keine Koordination oder Zentralisierung. Daher kann es trotz einer positiven Sicherheitsüberprüfung durch einen Dienst jederzeit zu einer Verhaftung durch einen anderen kommen (AA 4.12.2020; vgl. EASO 6.2021). Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Nach Angaben der Regierungskonferenz ist das Konzept des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern; es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020).

Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegen Personen, die nach Syrien zurückgekehrt sind (IT 17.3.2018). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung unterzeichnet haben. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 6.2019). Neben der allgemein instabilen Sicherheitslage bleibt die mangelnde persönliche Sicherheit in Verbindung mit der Angst vor staatlicher Repression das wichtigste Hindernis für die Rückkehr (AA 19.5.2020; vgl. SACD 21.7.2020, ICG 13.2.2020). Amnesty International hat in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vorgelegt, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des "Terrorismus", da sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 Rückkehrer, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen (AI 9.2021).

Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).

Rückkehr an den Herkunftsort

Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens lässt die Regierung derzeit keinen Wohnsitzwechsel zu. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die Rückkehrer von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 4.12.2020).

Syrer, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen. Die Einrichtung eines Wohnsitzes ist nur mit Genehmigung der Behörden möglich (ÖB 21.8.2019). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann. Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen dürfen. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB 29.9.2020). Auch Jahre nach der Rückeroberung von Homs durch die Regierung benötigen die Bewohner immer noch eine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr und den Wiederaufbau ihrer Häuser (TE 28.6.2018; vgl. CMEC 15.5.2020).

Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) sowie Betroffenen zufolge finden Verstöße gegen Wohn,- Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt statt. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, die die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen verweigern den Vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte (AA 29.11.2021). Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie ISIS-Angriffen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). Eine Reihe von Stadtvierteln in Damaskus sind nach wie vor teilweise oder vollständig gesperrt, selbst für Zivilisten, die kurz nach ihren ehemaligen Häusern sehen wollen (SD 19.11.2018). So durften die Bewohner des palästinensischen Camps Yarmouk in Damaskus auch nach der Wiedererlangung der Kontrolle durch das Regime weitgehend nicht zurückkehren (EB 8.7.2020; vgl. AI 9.2021). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können und eine Sicherheitsfreigabe besteht. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten rund 1.2 Millionen Menschen in Yarmouk, davon 160.000 Palästinenser) (TOI 17.11.2022). Nach Angaben von Aktivisten durften bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen nicht zurück, oder, da sie keine Häuser mehr haben, in die sie zurückkehren könnten. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem "Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur" (TOI 17.11.2022).

Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (WB 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (MOFANL 7.2019). So berichtet UNHCR von einer "sehr begrenzten" und "abnehmenden" Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94% um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022).

Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft" im Abschnitt "Wohnsituation und Enteignungen".

Bedingungen der Rückkehr

Die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge zurückkehren, und die Mechanismen dieses Prozesses sind nur unzureichend bekannt - auch bei den Flüchtlingen selbst. Da Präsident al-Assad die Kontrolle über immer größere Gebiete festigt, sind immer weniger Informationen verfügbar (EIP 6.2019). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB 29.9.2020).

Administrative Verfahren der syrischen Behörden für Rückkehrer

Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der Rückkehrer durch. Während des als "Sicherheitsüberprüfung" (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens wird der Antragsteller mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten "Statusregelungsverfahren" (arabisch: taswiyat wade) beantragt ein Antragsteller, wie es in einigen Quellen heißt, "Versöhnung", sodass sein Name von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022).

Sicherheitsüberprüfungen vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzversprechen

Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht [Anm.: Siehe weiter unten für Informationen über verschiedene Behördengänge in Syrien, welche eine Sicherheitsfreigabe erfordern!] (AA 19.5.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebiet zu bewegen sowie es zu verlassen und darf gemäß Artikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen Staatsbürgern vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsfreigabe verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsfreigabe jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische Staatsbürger haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Darüber hinaus haben die Vereinten Nationen und die EU die Rückkehr von syrischen Flüchtlingen nur unterstützt, wenn dies freiwillig geschieht und Syrien als sicher gelten kann. Darauf basierend, und da die syrische Regierung auch bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des "General Security Office (GSO)" [Libanesischer Nachrichtendienst, der auch für die Überwachung von ausländischen Staatsbürgern im Libanon zuständig ist.] im Libanon mit den syrischen Behörden. D.h., bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der Rückkehrer an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen. Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den Antragsteller, Familienmitglieder und eventuell auch seine erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des letzten Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen Staatsbürgern vor dem 30.4.2022 verübten terroristischen Verbrechen ohne Todesopfer miteinschließt, dass syrische Staatsbürger im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der Antragsteller vorbereitet und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu "terroristischen" Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.9.2022).

Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der ICG stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS) auf der Grundlage von Befragungen, dass Syrer, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS, dass nur Syrer im Libanon, die über eine "organisierte Gruppenrückkehr" nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020). Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z.B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht. Es sind jedoch viele Fälle bekannt, bei denen Personen inhaftiert wurden, die offiziell nicht vom Regime gesucht wurden, und die Sicherheitsüberprüfung gemacht hatten, zum Teil um Geld zu erpressen (Balanche 13.12.2021). Berichten zufolge gab es Fälle, in denen Rückkehrer trotz positiver Sicherheitsüberprüfung Opfer von willkürlicher Verhaftung, Folter oder gewaltsamem Verschwindenlassen wurden, auch wurde von vereinzelten Todesfällen in Haft berichtet (AA 19.5.2020; vgl. EASO 6.2021, HRW 20.10.2021).

Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. Syrer aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.) stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsüberprüfung zu bekommen und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichten müssen (Üngör 15.12.2021).

Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vgl. Khaddour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.9.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021).

"Versöhnungsanträge", Statusregelungsverfahren

Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der "Versöhnung" und Rückkehr geschaffen, der als "Regelung des Sicherheitsstatus" (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 9.5.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu "regularisieren", bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019). Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf "Versöhnung" stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen "Versöhnungsantrag" ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen Syrer, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vgl. EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen berichteten EASO, dass, wenn ein Rückkehrer durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. "wasta") herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).

Rückkehrverweigerungen

Die Regierung verweigert oft manchen Bürgern die Rückkehr, während andere Syrer, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.4.2022). Der Prozentsatz der Antragsteller, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen auf 5 % (SD 16.1.2019), 10 % (Reuters 25.9.2018), 20 % (Qantara 2.2.2022) oder bis zu 30 % (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integrations von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige Beobachter und humanitäre Helfer geben an, dass die Bewilligungsquote für Antragsteller aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).

Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu können. In vielen Fällen hält sich die Regierung nicht an die in den "Versöhnungsabkommen" vereinbarten Garantien, und die Rückkehrer sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019).

Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen

Syrerinnen und Syrer benötigen in verschiedenen Lebensbereichen eine behördliche Sicherheitsfreigabe, z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäfts, eine Heirat und die Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnort zu wechseln, für Wiederaufbaumaßnahmen oder auch für den Erwerb von Eigentum (FIS 14.12.2018; vgl. EIP 6.2019). Die Sicherheitsüberprüfung könnte Fragen wie den Aufenthaltsort der Person während ihrer Abwesenheit aus einem Gebiet umfassen. Für eine Person, die die Zeit in Damaskus verbracht hat, könnte die Sicherheitsüberprüfung einfacher sein, aber Orte wie Deir ez-Zour könnten zusätzliche Kontrollen oder Befragungen nach sich ziehen. Während des Sicherheitsüberprüfungsverfahrens wird eine Person befragt, ob es in ihrer Großfamilie Personen gibt, die von der Regierung gesucht werden (FIS 14.12.2018).

Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, die die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).

Umsetzung und Rechtssicherheit

Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass die Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung für Betroffene wie Dritte extrem komplex bis unmöglich ist. Rückkehrende sehen sich mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass eine positive Sicherheitsüberprüfung keine Garantie für eine sichere Rückkehr ist. Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits auch dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z.B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, absolut betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher interner Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter (AA 29.11.2021)

Exilpolitische Aktivitäten, bzw. nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung über im Ausland lebende Syrer und Syrerinnen

Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten (ÖB 29.9.2020; vgl. TWP 2.6.2019, EASO 6.2021). Es gab Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste Drohungen gegen in Syrien lebende Familienmitglieder einsetzten, um Druck auf Verwandte auszuüben, die z.B. in Deutschland leben (AA 13.11.2018). Die syrische Regierung ist an den politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland interessiert. Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren ab, wie dem Hintergrund der Familie und den der Regierung zur Verfügung stehenden Ressourcen (STDOK 8.2017). Einem Syrien-Experten des Europäischen Friedensinstituts zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei Arten überwacht: informell und formell. Bei der informellen Überwachung melden Einzelpersonen andere Personen an die syrischen Behörden. Diese Informanten sind nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere Personen, um der Regierung gegenüber loyal zu erscheinen. Auf diese Weise versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit von sich abzuwenden. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche Einrichtungen wie Botschaften und Sicherheitsdienste Informationen über im Ausland lebende Dissidenten sammeln (EASO 6.2021).

Der Sicherheitssektor nutzt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um seinen historischen Einsatz lokaler Informanten zur Sammlung von Informationen und zur Kontrolle der Bevölkerung wieder zu verstärken und zu institutionalisieren. Die Regierung baut weiterhin eine umfangreiche Datenbank mit Informationen über alle Personen auf, die ins Land zurückkehren oder im Land bleiben. In der Vergangenheit wurde diese Art von Informationen genutzt, um Personen zu erpressen oder zu verhaften, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung oder Problem wahrgenommen wurden (EIP 6.2019). Das Verfassen eines "Taqrir" (eines "Berichts", d. h. die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden) war im baathistischen Syrien jahrzehntelang gang und gäbe und wird laut ICG auch unter Flüchtlingen im Libanon praktiziert. Die Motive können persönlicher Gewinn oder die Beilegung von Streitigkeiten sein, oder die Menschen schreiben "Berichte", um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Selbst Regimevertreter geben zu, dass es aufgrund unbegründeter Denunziationen zu Verhaftungen kommt (ICG 13.2.2020).

Das im April 2022 erlassene "Cyber-Kriminalitätsgesetz" (Nr. 20/2022) hat die Definition von "Internetverbrechen" ausgeweitet (TIMEP 5.10.2022) und sieht harte Strafen für das Verfassen, Kommentieren, Teilen oder Erwähnen von Online-Beiträgen vor, die vorgeblich das Prestige des syrischen Staates beschädigen, die nationale Einheit gefährden oder eine negative öffentliche Meinung schüren (TAW 17.5.2022).

Syrische Rückkehrende aus Libanon, Jordanien und der Türkei

Im November 2022 wurde die syrische Bevölkerung auf 21,6 Millionen Menschen geschätzt (CIA 15.11.2022). Im Jahr 2021 registrierte UNOCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) etwa 456.000 Binnenvertriebene in Syrien, im Jahr 2022 bis einschließlich August rund 131.000. Demgegenüber kehrten 2021 rund 169.000 Binnenvertriebene zurück, im Zeitraum Jänner-August 2022 waren es rund 80.000 (UNOCHA 7.10.2022). Mitte November 2022 waren 5.534.620 Personen als syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens und Nordafrikas registriert. Nach Angaben des UNHCR kehrten im Jahr 2022 (bis einschl. Oktober) insgesamt rund 43.000 Flüchtlinge nach Syrien zurück, im Jahr 2021 waren es rund 36.000 (UNHCR 17.11.2022). Weder Binnenvertriebene noch Flüchtlinge sind unbedingt in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).

Am 5.11.2022 erfolgte die zweite große Rückkehraktion nach Syrien, die die libanesischen Behörden als freiwillige Rückkehr reklamieren. - Etwa 350 Personen wurden zur syrischen Grenze gebracht. Am 26.10.2022 waren bereits etwa 500 Personen auf diese Weise außer Landes verbracht worden. Seit 2018 gibt es immer wieder Versuche, zahlreiche syrische Staatsangehörige zur Rückkehr zu bewegen. Hierbei wird eine weite Palette von Druckmitteln eingesetzt, die internationale Beobachter an der Freiwilligkeit vieler der berichteten Rückreisen zweifeln lässt. Die beiden Aktionen im Oktober und November 2022 sind die ersten derartigen Verbringungen seit über zwei Jahren. Die Krise im Libanon hat allerdings nachweislich zu freiwilligen Rückkehrbewegungen von Syrern und Syrerinnen geführt. Syrische Flüchtlinge im Libanon sind im Regelfalle den Folgen des ökonomischen Zusammenbruchs des Landes stärker ausgesetzt als libanesische Staatsangehörige, da sie zu vielen Dienstleistungen keinen Zugang haben und ihnen der Arbeitsmarkt nur sehr begrenzt legal zur Verfügung steht. Libanon ist kein Signatarstaat der Genfer Flüchtlingskonvention (BAMF 7.11.2022). Eine kleine Zahl von Flüchtlingen ist im Rahmen lokaler Vereinbarungen nach Syrien zurückgekehrt, die jedoch nicht vom UNHCR überwacht werden. Einige Flüchtlinge erklärten, sie kehrten wegen der strikten Politik und der sich verschlechternden Bedingungen im Libanon zurück, nicht weil sie Syrien für sicher hielten. Gemeinden im Libanon haben Tausende von Flüchtlingen ohne Rechtsgrundlage und ohne ordnungsgemäßes Verfahren gewaltsam vertrieben. Zehntausende sind weiterhin von Vertreibung bedroht (HRW 17.1.2019). Die libanesischen Statistiken weisen darauf hin, dass Syriens Sicherheitsapparat bisher lediglich 20 % der AntragstellerInnen für eine Rückkehr aus dem Libanon eine Heimkehrerlaubnis gewährt hat (Qantara 2.2.2022).

Obwohl die wirtschaftliche Lage vieler syrischer Flüchtlinge in Jordanien schwierig ist (TN 1.10.2019; vgl. SD 6.5.2020), ist aufgrund der Sicherheits- und Wirtschaftslage in Syrien bisher nur eine geringe Zahl von Syrern nach Syrien zurückgekehrt (SD 6.5.2020). Im Jahr 2021 normalisierten mehrere Staaten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate und Jordanien trotz der Menschenrechtsverletzungen in Syrien ihre Beziehungen zum syrischen Regime. Dabei wurden Kooperationszusagen gemacht, welche die Frage einer verfrühten Rückkehr von Flüchtlingen und das eventuelle Ermöglichen von Menschenrechtsverletzungen aufwarfen (HRW 13.1.2022).

Die Türkei beherbergt mit Stand 17.11.2022 3.585.447 Millionen syrische Flüchtlinge (UNHCR 17.11.2022). Im Juli 2019 änderte sich die Haltung der türkischen Regierung ihnen gegenüber. Die türkischen Sicherheitskräfte begannen, syrische Flüchtlinge zusammenzutreiben, und sie in die türkischen Provinzen zurückzuschicken, in denen sie registriert waren. Sie fingen damit an, einige von ihnen abzuschieben, und andere zu ermutigen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, einschließlich der Konfliktzone Idlib, zu ziehen (SWP 5.2.2020). NGO-Berichten zufolge haben die türkischen Behörden immer wieder Flüchtlinge inhaftiert, und sie gezwungen, "freiwillige" Rückkehrdokumente zu unterschreiben, manchmal durch Schläge und Drohungen (SJAC 8.10.2020). Auch die Organisation Syrians for Truth and Justice erhob in ihrem jüngsten Bericht vom Februar 2022 ebenfalls diesen Vorwurf (STJ 14.2.2022).

Für nähere Informationen siehe auch COI-CMS-LI Türkei, Kapitel "Binnenvertriebene und Flüchtlinge" sowie zur völkerrechtswidrigen Verbringung von syrischen Gefangenen in die Türkei und deren dortige Verurteilung siehe Kapitel "Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland".

Syrische Rückkehrende aus Europa

Die verfügbaren Informationen über Syrer, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn Syrer bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 Syrer mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).

Quellen:

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 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2059734.html , Zugriff 1.12.2022

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf , Zugriff 1.12.2022

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf , Zugriff 1.12.2022

 ABC - ABC News - Australian Broadcasting Cooperation (6.10.2018): Syrians return home after years as unwelcome refugees, but there’s little cause for celebration, https://www.abc.net.au/news/2018-10-06/syria-refugees-returning-home-from-lebanon/10319154 , Zugriff 1.12.2022

 AI - Amnesty International (9.2021): 'You're going to your death - Violations against Syrian Refugees returning to Syria', https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Bericht-Syrien-Folter-Inhaftierungen-Rueckkehrende-Abschiebung-Geheimdienst-September-2021.pdf , Zugriff 1.12.2022

 Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall

 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (7.11.2022): Briefing Notes - Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, per E-Mail

 BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf , Zugriff 1.12.2022

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 ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (21.8.2019): Auskunft, via E-mail

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 Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (27.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

 Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

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 Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall

 UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (17.11.2022): Syria Regional Refugee Response: Durable Solutions, https://data.unhcr.org/en/situations/syria_durable_solutions , Zugriff 24.11.2022

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 UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (3.2021): Humanitarian Needs Overview - Syrian Arab Republic, https://www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/documents/files/syria_2021_humanitarian_needs_overview.pdf , Zugriff 1.12.2022

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 WB - World Bank (2020): The Mobility of Displaced Syrians, https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/31205/9781464814013.pdf , Zugriff 1.12.2022

 

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person des BF und zu dessen Fluchtvorbringen:

2.1.1.Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft, insbesondere zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit stützen sich auf die Angaben des BF im Verfahren vor dem BFA und bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 27.02.2023 (AS XXXX , AS XXXX und VHP S. XXXX ).

2.1.2. Die Feststellung, wonach der BF zumindest die siebte Schulklasse abgeschlossen hat gründet auf seiner dahingehenden Angabe vor dem BVwG, die in der divergierenden Angabe hierzu bei der Erstbefragung (9 Jahre Grundschule, AS XXXX Deckung findet und als wahr unterstellt wird.

2.1.3. Dass der BF traditionell verheiratet ist ergibt sich aus der diesbezüglich übereinstimmenden Angabe vor dem BFA (AS XXXX ) und dem BVwG (VHP S. XXXX ). Die Divergenz der hierzu getätigten Datumsangaben, so gab der BF beim BFA als Zeitpunkt der traditionellen Eheschließung Mai 2016 an (AS XXXX ) während er in der mündlichen Verhandlung April 2015 nannte (VHP S. XXXX ), mag zwar seiner Glaubwürdigkeit abträglich sein (zumal das Abstreiten dieser Angabe gegenüber dem BFA und der damit verbundene Vorwurf, die Befragung habe nur 20 Minuten gedauert, vor dem Hintergrund, dass die Dauer der Amtshandlung mit Beginn 08:30 Uhr und mit Ende 09:55 Uhr protokolliert wurde [AS XXXX und AS XXXX ], nicht glaubhaft ist), ist jedoch für das gegenständliche Verfahren von keiner Entscheidungsrelevanz.

Dass sich die Kernfamilie des BF derzeit in der Türkei aufhält beruht auf den Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung (VHP S. XXXX ), dass dieser zusammen mit seiner Frau zwei Söhne hat aus den diesbezüglich gleichbleibenden Angaben bei der Erstbefragung (AS XXXX ) und beim BFA (AS XXXX ).

2.1.4. Die Feststellung, wonach sich der Ort, in welchem der BF bis 2012 bzw. nach Rückkehr aus der Türkei bis zu seiner neuerlichen Flucht aus Syrien im Jahr 2019 gelebt hat, sich südlich von Idlib, im Gouvernement Idlib, befindet und dieses Gebiet nicht unter der Kontrolle des syrischen Gebiets liegt, gründet darin, dass der BF im Beisein des Dolmetschers und seines Rechtsvertreters in der Verhandlung auf einer Syrienlandkarte (Maßstab 1:750 000) bzw. auf der zur Kontrolle in der Verhandlung erfolgten Einsichtnahme in die öffentlich abrufbare und allgemein zugängliche Website https://syria.liveuamap.com seinen Herkunftsort eindeutig aufzeigen konnte.

Die Zwischenzeitigen anderen Aufenthalte sowie der Grund für die neuerliche Ausreise beruhen auf den Ausführungen des BF in der Verhandlung (VHP S. XXXX ) die, insbesondere was die Bombardierung des Haues anbelangt, mit dessen Angaben im behördlichen Verfahren korrelieren ( XXXX ).

2.1.5. Die Stellung eines Asylantrages in Österreich und die hierüber vom BFA ergangene bescheidmäßige Absprache ergibt sich aus den unbedenklichen Inhalt des vorgelegten Verfahrensaktes.

2.1.6. Soweit Feststellungen zur Wehrpflicht in den Streitkräften des syrischen Regimes getroffen werden, beruhen diese auf den aktuellen Länderinformationen zu Syrien, die dem BF vorab zur Kenntnis gebracht wurden und den der BF nicht substantiiert entgegengetreten ist.

2.1.7. Dass der Herkunftsort respektive die Herkunftsregion des BF unter der Kontrolle oppositioneller Rebellengruppierungen und Milizen wie der HTS (Hayat Tahrir Al-Sham [ehemals Al-Nusra]), der Ahrar Al Sham, der Jaish al Islam bzw. der FSA befindet, ergibt sich aus der Einsichtnahme in die öffentlich abrufbare und allgemein zugängliche Website https://syria.liveuamap.com zum Entscheidungszeitpunkt.

Dass das syrische Regime mangels direkter Zugriffsmöglichkeit in diesem Gebiet keine Rekrutierungen durchführen kann, gründet auf der diesbezüglichen Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, die in das gegenständliche Verfahren eingebracht wurde ( XXXX zum Verhandlungsprotokoll) und der bestätigenden Aussage des BF hierzu (VHP S. XXXX ).

Die Feststellung, dass – unbeschadet eines bestehenden sozialen Drucks – von den maßgeblichen Akteuren in der Herkunftsregion des BF, sohin in dem von diesen kontrollierten Gebieten, keine Wehrpflicht gegen Zivilisten besteht, beruht auf den aktuellen Länderberichten.

2.1.8. Das gegenteilige, diese Feststellung abstreitende, Vorbringen des BF in der Verhandlung (VHP S. XXXX ) ist nicht geeignet, die diesbezüglichen Länderberichte, die auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, in Frage zu stellen.

Im konkreten Fall ist zwar das Profil eines wehrdienstfähigen jungen Mannes erfüllt, eine Zwangsrekrutierung im Falle einer hypothetischen Rückkehr in der Herkunftsregion der BF in der sich der BF seinen eigenen Angaben zuletzt 2019 aufgehalten hat, jedoch als nicht verfahrensmaßgeblich wahrscheinlich zu qualifizieren.

2.1.9. Im gesamten Verfahren sind somit keine ausreichenden Hinweise hervorgekommen, bzw. hat der BF es nicht glaubhaft machen können, dass dieser wegen einer unmittelbar konkreten asylrelevanten Bedrohung, etwa einer ihn tatsächlich in seiner Herkunftsregion unmittelbar drohenden Rekrutierung, oder sonstigen ausreichend nachvollziehbaren und glaubhaften unmittelbaren maßgeblichen Bedrohung zum Entscheidungszeitpunkt ausgesetzt ist.

2.1.10. Wenn der BF in einer Steigerung seiner Verfolgungsgefahr erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG angibt, an Demonstrationen teilgenommen zu haben, so kann diesem keine Glaubhaftigkeit zugemessen werden und war diesbezüglich festzustellen, dass dies nicht passiert ist. Die belangte Behörde führte ein ordentliches und vollständiges Ermittlungsverfahren und hatte der BF in der Erstbefragung als auch bei seiner Einvernahme vor dem BFA ausreichend Gelegenheit, sämtliche Fluchtgründe und Rückkehrbefürchtungen vorzubringen. Es haben sich für den erkennenden Richter keine Anhaltspunkte ergeben, die ein Unterlassen des Vorbringens eines derartigen Fluchtgrundes, sofern dieser denn tatsächlich gegeben gewesen wäre, schlüssig erscheinen ließen. Vielmehr handelt es sich hierbei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit um eine Schutzbehauptung.

2.1.11. Dass die syrischen Sicherheitsbehörden jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte, da auch dem syrischen Staat bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat.

Sonstige ausreichend glaubhaft vorgebrachte Gründe, die die Annahme einer asylrelevanten Verfolgung rechtfertigen würden, sind weder vorgetragen, noch ersichtlich. Die allgemein prekäre Lage in Syrien wurde bereits im Rahmen der Gewährung des subsidiären Schutzes mitberücksichtigt.

Die strafrechtliche Unbescholtenheit geht aus einem aktuellen Auszug aus dem Strafregister hervor.

2.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die unter Pkt. 1.2. wiedergegebenen Ausführungen stützen sich auf die angeführten Länderinformationen der Staatendokumentation zu Syrien, bzw. wurden auch unter besonderer Berücksichtigung allenfalls im Detail aktualisierter einzelner Länderinformationen der Staatendokumentation zu Syrien, denen jedenfalls kein verfahrensrelevant anders zu beurteilender Inhalt in Bezug auf die verfahrensgegenständlich vorzunehmende Beurteilung einer den BF unmittelbar konkret mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit persönlich betreffenden asylrelevanten Gefährdung iSd. §3 AsylG entnommen werden kann, vorgenommen.

Da sämtliche Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das BVwG kein Anlass, an der Richtigkeit dieser Berichte zu zweifeln. Die zu den Feststellungen erhobenen Länderberichte wurde dem BF vorgehalten; dieser ist dessen Ausführungen ausreichend substantiell im gesamten Verfahren nicht entgegengetreten. Die allfällig in der Beschwerde ins Treffen geführten Quellen weisen zudem eine geringere Aktualität als die hier herangezogenen Berichte auf. Aus diesen Erwägungen stellt das BVwG fest, dass es von örtlichen Gegebenheiten im Herkunftsstaat ausgeht, wie sie in den wiedergegebenen Abschnitten des angeführten Länderinformationsblattes der Staatendokumentation ausgeführt wurden.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A):

3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten):

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

3.1.2. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am BF, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.1.3. Wie festgestellt, konnte im Herkunftsgebiet des BF (Gouvernement Idlib), das sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, sohin unter der Kontrolle oppositioneller Rebellengruppierungen und Milizen wie der HTS (Hayat Tahrir Al-Sham [ehemals Al-Nusra]), der Ahrar Al Sham, der Jaish al Islam bzw. der FSA befindet, keine Verfolgung durch das syrische Regime oder durch andere Gruppen, insbesondere auch nicht durch die zuvor angeführten Akteure in diesem Gouvernement festgestellt werden.

Der NF wurde in Syrien niemals bedroht oder verfolgt. Es sind keine Hinweise auf eine Verfolgung des BF und insbesondere auch keine Verfolgungsgefahr aus einem Konventionsgrund erkennbar.

Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte zur Herkunftsregion des BF erlaubt es nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen.

Sohin kann nicht erkannt werden, dass dem BF aus den von ihm ins Treffen geführten Gründen in der Herkunftsregion eine asylrelevante Verfolgung droht. Ausführungen zur Erreichbarkeit der Herkunftsregion des BF konnten unter Hinweis auf die diesbezügliche Entscheidung des VwGH, vom 3.1.2023, Ra 2022/01/0328 unterbleiben.

Auch sind keine sonstigen Hinweise für eine Verfolgung aus einem GFK-Grund zu Tage getreten.

Auch wenn der BF ein oder mehrere Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien erfüllen würde, führt dies nicht per se zu einer asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung. Vielmehr erfordern die gegenständlichen UNHCR-Richtlinien eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass zu keinem Zeitpunkt eine konkrete auf Beschwerdeführer bezogene Verfolgung in seiner Herkunftsregion in Syrien festgestellt werden konnte.

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war daher als unbegründet abzuweisen.

 

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A) wiedergegeben.

Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

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