B-VG Art133 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:W204.2232876.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
1.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde der S XXXX S XXXX , geb. am XXXX .1964, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.06.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde der N XXXX H XXXX , geb. am XXXX .1997, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.06.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die Beschwerdeführerinnen (im Folgenden: BF1 und BF2), eine Mutter (=BF1) und deren volljährige Tochter (=BF2), beide mit afghanischer Staatsangehörigkeit, reisten in das Bundesgebiet ein und stellten am 23.01.2020 Anträge auf internationalen Schutz.
I.2. Anlässlich ihrer am selben Tag erfolgten Erstbefragung gaben die BF zu ihren Fluchtgründen an, dass der Mann der BF1 bzw. Vater der BF2 vor mehr als zwanzig Jahren von den Taliban getötet worden sei. Daraufhin hätten die Taliban die BF1 zwangsverheiraten wollen. Die BF seien in den Iran geflüchtet, wo sie der Stiefsohn bzw. –bruder bedroht habe.
I.3. Am 19.05.2020 wurden die BF vom zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari unter anderem zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität, ihren Lebensumständen in Afghanistan, ihren Familienangehörigen und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gaben sie an, Afghanistan bereits vor mehreren Jahren verlassen zu haben, nachdem der Mann der BF1, der als Polizist gearbeitet habe, von den Taliban umgebracht worden sei. Die BF1 sei damals auch der Gefahr einer Zwangsheirat ausgesetzt gewesen. Den Iran hätten sie verlassen müssen, da sie vom Stiefsohn beziehungsweise –bruder geschlagen worden seien. Dieser habe auch die BF2 zwangsverheiraten wollen.
I.4. Mit Bescheiden vom 16.06.2020 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) abgewiesen. In Bezug auf den Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ihnen stattgegeben und den BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkte II. und III.).
Soweit verfahrenswesentlich führte das BFA begründend aus, das Vorbringen der BF beziehe sich im Wesentlichen auf den Iran. Eine Asylgewährung für ihren Herkunftsstaat Afghanistan komme daher nicht in Betracht.
I.5. Mit Verfahrensanordnungen vom 16.06.2020 wurde den BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
I.6. Gegen die Spruchpunkte I. der unter I.4. genannten Bescheide richtet sich die gemeinsam ausgeführte Beschwerde vom 03.07.2020, in der beantragt wurde, eine Verhandlung durchzuführen und den BF Asyl zu gewähren, in eventu die Bescheide im angefochtenen Umfang zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.
Begründend wurde vorgebracht, dass die BF auch in Afghanistan eine Verfolgung durch den Stiefsohn beziehungsweise –bruder befürchteten. Außerdem wären die BF „westlich“ orientiert, wozu das BFA jedoch eine mangelhafte Einvernahme durchgeführt habe.
I.7. Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht diese Beschwerde und die Verwaltungsakten am 10.07.2020 vor.
I.8. Am 05.07.2021 wurde die Rechtssache der erkennenden Gerichtsabteilung aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses neu zugewiesen.
I.9. Am 01.03.2022 nahmen die BF zu zuvor übermittelten Länderinformationen Stellung und führten aus, dass sie als „westlich“ orientierte Frauen bei einer Rückkehr nach Afghanistan verfolgt wären. Außerdem wurden Integrationsdokumente vorgelegt.
I.10. Am 03.03.2022 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die BF und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden die BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu ihrer Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, ihren Familienangehörigen, ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
- Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakten des BFA betreffend die BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;
- Befragung der BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 03.03.2022;
- Einsicht in die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen und Stellungnahmen;
- Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderinformationen;
- Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.
II. Feststellungen:
II.1. Zu den BF:
Die BF1 führt als Verfahrensidentität den Namen S XXXX S XXXX und das Geburtsdatum XXXX 1964. Ihre Tochter, die BF2, führt als Verfahrensidentität den Namen N XXXX H XXXX und das Geburtsdatum XXXX .1997. Ihre Identitäten stehen nicht fest. Sie sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an und bekennen sich zum schiitischen Islam. Ihre Muttersprache ist Dari.
Die BF1 ist in Baghlan geboren und aufgewachsen. Sie hat keine Schule besucht, jedoch auf Dari lesen gelernt. In Afghanistan arbeitete die BF1 vor ihrer Eheschließung von zu Hause als Teppichknüpferin. Nach ihrer Heirat führte die BF1 den Haushalt. Die BF2 ist in Baghlan geboren.
Die BF1 zog nach dem Tod ihres Mannes, dem Vater der BF2, mit den Kindern in den Iran, wobei sie sich einer größeren Gruppe an Personen aus ihrem Dorf anschloss, die ebenfalls in den Iran auswanderten. Die BF2 war damals etwa ein Jahr alt. Danach lebten die BF mit einer weiteren Tochter der BF1 bzw. der Schwester der BF2 bis zu ihrer Ausreise nach Österreich im Iran. Zeitweise lebte auch der Sohn aus der ersten Ehe des verstorbenen Mannes der BF1 bei ihnen, den die BF1 wie ihren eigenen Sohn großzog.
Im Iran arbeiteten die BF als Erntehelferinnen und übten sonstige Gelegenheitsjobs aus. Außerdem lebten die BF von den Pacht- bzw. Mieteinnahmen ihrer Grundstücke und Häuser in der Heimatregion in Afghanistan, die nach wie vor in ihrem Eigentum stehen. Die BF2 besuchte die Schule und die Universität, die sie jedoch wegen ihrer Ausreise nach Österreich nicht abschloss. Sie war im Iran auch in einem Kickboxverein.
Die BF1 leidet an Schilddrüsenproblemen, nimmt jedoch derzeit keine Medikamente.
Die BF2 ist gesund und arbeitsfähig.
Mit Bescheiden des BFA vom 16.06.2020 wurde den BF der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
II.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Der BF1 droht, selbst wenn ihr Mann Polizist gewesen sein sollte und deswegen vor mehr als zwanzig Jahren durch die Taliban ermordet worden wäre, individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Die BF verfügen in ihrem Heimatdorf in Afghanistan nach wie vor über Grundstücke und Häuser. Es leben dort auch noch mehrere (entfernte) Verwandte und Bekannte der BF, unter anderem auch die Schwiegereltern der ältesten, ebenfalls in Österreich lebenden Tochter der BF1 bzw. Schwester der BF2. Die BF könnten und würden bei diesen bei einer Rückkehr männlichen Schutz erhalten.
Den BF droht in Afghanistan keine Gefahr durch den Stiefsohn der BF1 bzw. Halbbruder der BF2.
Die BF1 hat im Bundesgebiet zwar Deutschkurse besucht, allerdings die Prüfung nicht bestanden. Sie spricht und versteht sehr schlecht Deutsch. Die BF1 verheiratete noch vor ihrer eigenen Ausreise aus dem Iran ihre ältere, nicht am Verfahren beteiligte Tochter mit deren Einverständnis mit einem in Österreich aufenthaltsberechtigten afghanischen Staatsangehörigen. Dazu wurde auf Initiative der Schwiegerfamilie zunächst das Einvernehmen zwischen den Eltern hergestellt. Die ältere Tochter stimmte danach einer Eheschließung zu.
Die BF1 kümmert sich im Bundesgebiet im Wesentlichen um den Haushalt und erledigt die Einkäufe. Die BF1 hat sich nicht ehrenamtlich engagiert und ist und war kein Mitglied eines Vereins. Die BF1 trifft sich gelegentlich mit anderen Asylwerberinnen, die sie beim Kursbesuch kennengelernt hat. Sie tritt ansonsten in der Öffentlichkeit kaum auf. Die BF1 hat während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität wurde und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre, wenn sie diese auch in Afghanistan auslebte.
Der BF1 droht bei einer Neuansiedlung in Afghanistan keine konkret gegen sie gerichtete, individuelle physische oder psychische Gewalt.
Die BF2 hat sich hauptsächlich im Selbststudium sehr gute Deutschkenntnisse angeeignet, obwohl sie in Österreich – einerseits aufgrund der mangelnden Lernbereitschaft ihrer Kolleginnen, andererseits aufgrund des geringeren Angebots wegen der Corona-Pandemie – nur wenige Deutschkurse besuchte. Sie beherrscht Deutsch mündlich auf B2- und schriftlich auf B1-Niveau. Sie hat außerdem die Pflichtschulabschluss-Prüfung bestanden. Derzeit absolviert sie eine überbetriebliche Ausbildung zur Bürokauffrau. Außerdem ist sie Mitglied in einem Fitnessclub, den sie fallweise, jedoch nicht regelmäßig besucht.
Neben ihrer beruflichen Tätigkeit verbringt die BF2 ihren Alltag, auch am Wochenende, zuhause bei ihrer Mutter mit Lernen für Deutsch, Englisch und im Umgang mit Computern. Selten trifft sie sich mit ihren arabischen und afghanischen Freundinnen.
Die BF2 hat während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität wurde und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre, wenn sie diese auch in Afghanistan auslebte. Sie steht der Art der Eheschließung, wie sie bei ihrer Schwester erfolgt ist, nicht entgegen.
Der BF2 droht bei einer Neuansiedlung in Afghanistan keine konkret gegen sie gerichtete, individuelle physische oder psychische Gewalt.
II.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblätter der Staatendokumentation Afghanistan in den Versionen 5 und 6 (LIB)
- The Danisch Immigration Service, Country of Origin Information, Afghanistan “Recent developments in the security situation, impact on civilians and targeted individuals, September 2021 (Danish Immigration Service)
- Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, Stand 21.10.2021
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 48 Afghanistan. Die Situation von Frauen, 1996 – 2022; Stand 01/22 (BAMF)
- UNHCR: Leitlinien zum Internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022 (UNHCR)
- EASO Country Guidance November 2021
- EASO Afghanistan Country Focus, Jänner 2022 (EASO 2022)
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Humanitäre Lage [a-11758], 06.12.2021 (ACCORD)
- The Danish Immigration Service, Country of Origin Information, Afghanistan “Recent events", Dezember 2021 (DIS)
II.3.1 Politische Lage
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB).
Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Als letzte Provinz steht seit dem 5.9.2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (LIB).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (LIB).
Ende Oktober 2021, nach drei Ernennungsrunden auf höchster Ebene - am 7. September, 21. September und 4. Oktober - scheinen die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein, zumindest in Kabul. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung. Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine "inklusive" Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine Taliban-Regierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der so genannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (LIB).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB). Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt (LIB).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (LIB).
Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigung einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar, das Regierungshandeln uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab. Anfang November 2021 kündigte die Taliban-Regierung an, dass u.a. in 17 Provinzen neue Gouverneure eingesetzt worden seien. Insgesamt sind bis zu 44 Posten neu besetzt worden (LIB).
Seit ihrer Machtübernahme regieren die Taliban Afghanistan mit Dekreten und verdrängen so den parlamentarischen Prozess. Bis heute ist diese Regierungsführung von Ungewissheit, Willkür und einer Missachtung von Rechtsstaatlichkeit geprägt. Es ist noch unklar, ob die Taliban die gesetzlichen Rahmenbedingungen Afghanistans, einschließlich der Verfassung, als gültig erachten. Das formale Justizsystem ist gegenwärtig nicht funktional, während einige Berichte darauf hindeuten, dass die Taliban körperliche Strafen und die Todesstrafe als Teil der Einführung der Scharia anwenden wollen. Von einem Muster extralegaler Tötungen, einschließlich von Personen, die einer Mitgliedschaft im Islamischen Staat in der Provinz Khorasan (IS-K) verdächtigt werden, wurde berichtet. Inwieweit die Taliban beabsichtigen, die Rechte von ethnischen und religiösen Minderheiten zu respektieren, ist gegenwärtig ebenfalls unklar. Die Taliban-Führung in Kabul hat eine Reihe von Stellungnahmen abgegeben, die vulnerablen Teilen der Gesellschaft versichern sollen, dass ihre Rechte respektiert werden. Jedoch fehlt es einigen dieser Stellungnahmen an Klarheit (so wie die Versicherung, dass die Taliban Frauenrechte unter der Scharia respektieren werden), sie setzen sich nur teilweise mit menschenrechtlichen Bedenken auseinander (so wie das Taliban-Dekret zu Frauenrechten, das sich nicht mit dem Recht auf Arbeit und Bildung beschäftigt), sie stehen im Widerspruch zu den tatsächlichen Handlungen der Taliban-Mitglieder vor Ort (so wie die Versicherung, dass ehemalige Regierungsmitarbeitende von einer „Amnestie“ profitieren könnten), oder sie sind noch nicht umgesetzt worden (wie Versicherungen, dass Mädchen im Sekundärstufen-Alter wieder in die Schule zurückkehren könnten) (UNHCR).
Am 28.9.2021 kündigten Angehörige der früheren afghanischen Regierung mit einem in der Schweiz veröffentlichten Statement der dortigen afghanischen Botschaft die Gründung einer Exilregierung unter Vizepräsident Saleh an. Eine Reihe von afghanischen Auslandsvertretungen in Drittstaaten hatte zuvor die Übergangsregierung der Taliban verurteilt und auf den Fortbestand der afghanischen Verfassung von 2004 verwiesen. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder bzw. politische Akteure der ehemaligen Republik sind in unterschiedlichen Gruppierungen aus dem Ausland aktiv. Die Taliban haben bisher allen ehemaligen Regierungsvertretern Amnestie zugesagt, soweit sie den Widerstand gegen sie aufgeben und ihre Autorität anerkennen. Zur Umsetzung dieser Zusicherung im Falle der Rückkehr prominenter Vertreter der Republik ist bisher nichts bekannt (LIB).
Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse. Obwohl die Taliban eine "Generalamnestie" für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben. Es gibt auch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (LIB).
II.3.2 Sicherheitslage
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“, innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB).
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 hat sich die allgemeine Sicherheitslage im Lande verändert. Nach Angaben der UN sind konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert. Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (LIB).
Die afghanische Zivilbevölkerung ist schwerwiegend von den Entwicklungen innerhalb des Landes betroffen, die dem Sturz der bisherigen Regierung durch die Taliban am 15. August 2021 vorangegangen bzw. diesem gefolgt sind. Während der Grad willkürlicher Gewalt abnimmt und sich der Zugang für humanitäre Hilfe zu vielen Landesteilen verbessert hat, bleiben die Bedingungen in Afghanistan hochgradig unvorhersehbar bei weitverbreiteter Besorgnis über gezielte Gewalt und Menschenrechtsverletzungen (UNHCR).
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB; EASO Country Guidance November 2021, S. 115). Erste Meldungen deuten auf eine Rückkehr konfliktbedingter Binnenvertriebener in ihre Heimatgemeinden hin. Die Bedrohung durch den „Islamischen Staat – Provinz Khorasan“ (ISKP) besteht fort, mehr als 100 Zivilisten fielen im Oktober Bombenanschlägen in Kabul, Kundus und Kandahar zum Opfer, mehrere hundert wurden verletzt. Vereinzelt gibt es Berichte über Opfer von Sprengfallen und Minen. Ob es sich dabei um aktuelle Anwendungen oder zur Explosion gelangte Altbestände handelt, ist unklar. Anschläge des ISKP richten sich, wenn sie Zivilisten zum Ziel haben, zumeist gegen die Gruppen der Schiiten und Hazara (Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, Stand 21.10.2021; EASO Country Guidance November 2021, S.12).
Trotz des allgemeinen Rückgangs der Zahl der gewalttätigen Angriffe und sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangharhar und Kunar sowie in Kabul. Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung. Darüber hinaus verübt der ISKP gezielt Anschläge auf Sicherheitskräfte der Taliban, beispielsweise am 19.9.2021 in Nangarhar, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen (LIB).
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es einen Anstieg bei Straßenkriminalität und Entführungen. Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor. Der Großteil der Entführungen fand in den Provinzen Kabul, Kandahar, Nangarhar, Kunduz, Herat und Balkh statt (LIB).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchen Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen (LIB).
Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden. Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (LIB).
II.3.3 Erreichbarkeit
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB).
Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Treibstoffpreise um 20 % gestiegen. Zuvor kostete ein Liter Benzin 64 AFN, jetzt sind es 76 AFN. Jährlich sterben Hunderte von Menschen bei Verkehrsunfällen auf Straßen im ganzen Land - vor allem durch unbefestigte Straßen, überhöhte Geschwindigkeit und Unachtsamkeit (LIB). Aufgrund der seit der Machtübernahme nicht mehr stattfindenden Kriegshandlungen und der Angriffe durch die Taliban hat sich die Sicherheitslage in gewisser Weise verbessert, was auch auf die Erreichbarkeit und die Reisen innerhalb Afghanistans Auswirkungen hat. So sind Reisen innerhalb Afghanistans möglich und sicherer als früher (DIS).
Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gibt einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans). Es existierten einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan miteinander verbinden; Beispiele dafür sind Bazarak Panjshir, Herat Bus, Khawak Panjshir, Ahmad Shah Baba Abdali. Aus Bequemlichkeit bevorzugen Reisende, die es sich leisten können, die Nutzung von Gemeinschaftstaxis nach Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan. Die Machtübernahme der Taliban hatte keine oder nur geringe Auswirkungen auf die Preise der Fahrzeiten oder die Verfügbarkeit der Verbindungen (LIB).
Die vier internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Herat und Kandarhar sind für internationale Flüge geöffnet auch wenn die Anzahl der Flüge seit der Machtübernahme der Taliban abgenommen hat. Die meisten internationalen Flüge werden über die Flughäfen Kabul und Mazar abgewickelt (LIB).
II.3.4 Zentrale Akteure
Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB).
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der früheren Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movemen (LIB).
II.3.4.1 Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (LIB).
Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB).
Struktur und Führung der Taliban
Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).
Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB).
Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB).
Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied der Rahbari-Schura (Quetta-Schura). Mullah Abdul Ghani Baradar, der vormalige Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha, wurde gemeinsam mit Mawlawi Abdul Salam Hanafi zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt. Als Innenminister wurde Mawlawi Sirajuddin Haqqani ernannt, der Führer des Haqqani-Netzwerkes, der in den USA immer noch auf der "Gesucht" Liste des FBI aufscheint. Als Verteidigungsminister wurde Mawlawi Mohammad Yaqoob Mujahid ernannt und als Außenminister Mawlawi Amir Khan Muttaqi. Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. In Kandarhar hatte er im Oktober 2021 seinen ersten öffentlichen Auftritt (LIB).
Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB). Haibatullah Akhunzada warnte im November die Taliban, dass es in ihren Reihen Einheiten geben könnte, die "gegen den Willen der Regierung arbeiten" (LIB).
Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40 - 45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB).
II.3.4.2 Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/DAESH), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei "Khorasan" die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst. Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Aber auch Mitglieder anderer extremistischer Gruppierungen in der Region wechselten zum ISKP. Schätzungen zufolge verfügt der ISKP noch über eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern in kleinen Gebieten der Provinzen Kunar und Nangarhar. Er war gezwungen, sich zu dezentralisieren, und besteht hauptsächlich aus Zellen und kleinen Gruppen im ganzen Land, die autonom agieren, aber dieselbe Ideologie teilen. Im Zuge der Machtübernahme der Taliban wurden jedoch gemäß einem Sprecher des Pentagons "Tausende" bzw. "Hunderte" ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit, womit die Truppenstärke wieder steigen könnte. Trotz territorialer, führungsmäßiger, personeller und finanzieller Verluste in den Provinzen Kunar und Nangarhar im Jahr 2020 ist der ISKP in andere Provinzen vorgedrungen, darunter Nuristan, Badghis, Sari Pul, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Kabul, wo Kämpfer Schläferzellen gebildet haben. Die Gruppe hat ihre Positionen in und um Kabul gestärkt, wo sie die meisten ihrer Anschläge verübt (LIB).
Der ISKP hat in Afghanistan bislang kein Gebiet [nachhaltig] erfolgreich eingenommen. Stattdessen fokussiert seine Strategie auf Anschläge gegen zivile Ziele, wie zum Beispiel Moscheen, Schulen und Hochzeiten. UNAMA stellte auch ein Wiederaufleben vorsätzlicher sektiererisch motivierter Anschläge gegen die religiöse Minderheit der Schiiten fest, von denen die meisten auch der ethnischen Minderheit der Hazara angehören und die fast alle vom ISIL-KP beansprucht werden (LIB).
Die Taliban stehen dem IS und seinen Vorstellungen eines globalen Dschihads ablehnend gegenüber und haben ISKP in den vergangenen Jahren bekämpft. Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige', die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Die Rivalität des ISKP mit den Taliban wurde von einer Quelle auch als ein "Mikrokosmos des [internationalen] Wettbewerbs zwischen Al-Qaida und ihrem radikaleren Ableger, dem Islamischen Staat" beschrieben. Zwischen den Gruppen bestehen Generations- und ideologische Unterschiede. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele sowie afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränkten, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sie Angriffe gegen Schiiten sowie Hindus und Sikhs richten. Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung (LIB).
Experten zufolge werden die Taliban [nach ihrer Machtübernahme in Kabul] wahrscheinlich versuchen, die Gruppe zu eliminieren. Einige warnten jedoch im August 2021, dass der ISKP von einem Sicherheitsvakuum profitieren könnte, während die Taliban versuchen, ihre Macht zu konsolidieren. Ein weiterer Experte wies auch darauf hin, dass der ISKP versuchen könnte, Spannungen zwischen den verschiedenen Talibanfraktionen auszunutzen, welche beispielsweise im Rahmen der Regierungsbildung deutlich wurden. Der ISKP hat in den Monaten seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ihre Angriffe gegen die Taliban verstärkt und eine Handvoll öffentlichkeitswirksamer Selbstmordattentate auf Ziele wie Moscheen und Krankenhäuser verübt und kleinere, aber zahlreichere Anschläge mit Sprengsätzen und Handfeuerwaffen gegen die militärischen Kräfte der Taliban durchgeführt. Als Reaktion darauf haben die Taliban mehr als 1.000 Kämpfer in die Provinz Nangarhar, dem Zentrum der ISKP-Operationen, geschickt, um die Gruppe zu bekämpfen. Aktuell liegt nach Ansicht des Long War Journal der Vorteil klar bei den Taliban, da der ISKP über keine Verbündete im In- oder Ausland verfügt und die Taliban im Zuge der Machtübernahme ein großes Waffenarsenal requirieren konnten sowie über territoriale Kontrolle in alle Provinzen verfügen. Der ISKP verfügt nur über Kleinwaffen, und sein Hauptwerkzeug für Angriffe auf die Taliban sind Sprengfallen und Selbstmordattentate (LIB).
Die UNAMA-Vorsitzende Deborah Lyons sagte am 16.11.2021, ISKP sei mittlerweile nicht mehr nur im Osten, sondern im ganzen Land zunehmend aktiver (LIB).
II.3.5 Rechtsschutz/Justizwesen
Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. „Scharia“ bedeutet auf Arabisch „der Weg“ und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen. Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden. Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (LIB).
Bislang [Stand Oktober 2021] hat sich kein formelles neues Justizsystem etabliert. Bereits vor der Machtübernahme unterhielten die Taliban Schattengerichte unter strikter Auslegung der Scharia in den von ihnen kontrollierten Gebieten, die von der Bevölkerung zum Teil als effizienter und verlässlicher als das korruptionsbelastete Justizsystem der Republik empfunden wurden. Aktuell gibt es Berichte, wonach die Taliban auf lokaler Ebene gegen Kriminalität vorgehen und Täter öffentlich bestrafen. Darüber, was im Anschluss weiter mit den Tätern passiert, liegen keine Erkenntnisse vor (LIB).
Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft. Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (LIB).
II.3.6 Sicherheitsbehörden
Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme im August 2021 faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Die Ein- und Zuteilung der bisherigen Kämpfer für diese Aufgaben folgt keiner einheitlichen Regelung. Neben bewaffneten Talibankämpfern in Uniform gibt es auch weiter eine Vielzahl von Talibankämpfern in zivil, die Sicherheitsaufgaben wahrnehmen, ohne dass klar wäre, in wessen Auftrag oder auf welcher Grundlage sie dies tun (LIB).
Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban Qari Fasihuddin zufolge planen die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle. Gleiches soll auch für die Polizei gelten. Erkenntnisse über die Umsetzung dieser Planungen liegen bisher nicht vor (LIB).
Wachsende Kriminalität war bereits in den vergangenen Jahren ein Problem, insbesondere in den Städten. Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, dem entgegenzuwirken. Ihnen nahestehende Medien veröffentlichen beispielsweise Berichte über die Befreiung von Entführungsopfern oder die Gefangennahme von Dieben und Drogenschmugglern. Gleichzeitig existieren Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen gegen und Zurschaustellung von Verbrechern durch die Taliban. Dies entspricht auch dem gängigen Vorgehen des ersten Talibanregimes (LIB).
Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse. Obwohl die Taliban eine "Generalamnestie" für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben. Es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten. Es gibt weitere Berichte wonach ehemalige Polizisten oder Dolmetscher getötet wurden (LIB).
Während im Oktober afghanische Militärpiloten noch berichteten, dass ihre in Afghanistan verbliebenen Verwandten mit dem Tod bedroht würden, sollten sie nicht zurückkehren, forderte der Sprecher der Talibanregierung diese auf, im Land zu bleiben bzw. zurückzukehren. Sie würden durch eine Amnestie geschützt und nicht verhaftet werden. Dies geschah, nachdem Dutzende von in den USA ausgebildeten afghanischen Piloten Tadschikistan im Rahmen einer von den USA vermittelten Evakuierung verlassen hatten, wohin sie zuvor geflüchtet waren (LIB).
Nach einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) vom November 2021 wurden seit der Machtübernahme der Taliban mehr als 100 ehemalige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter in nur vier Provinzen (Ghazni, Helmand, Kandahar, und Kunduz) exekutiert oder waren gewaltsamem "Verschwindenlassen" ausgesetzt (LIB).
II.3.7 Folter und unmenschliche Behandlung
Über systematische staatliche Folter ist bislang nichts bekannt. Es gibt jedoch zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus. Auch gibt es Berichte über die Folter von Journalisten (LIB).
II.3.8 Allgemeine Menschenrechtslage
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verfassung der afghanischen Republik aus Sicht der Taliban aktuell fortbesteht. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen (LIB).
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021, wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen. Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet. Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien. Es existieren Berichte über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen o. Ä. durchführen (LIB).
Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban am oder um den 28.7.2021 getötet, ein Volkssänger von den Taliban erschossen und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen (LIB).
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (LIB).
II.3.9 Schiiten
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (LIB).
Direkte Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten waren vor der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan selten. Der ISKP ging vor und nach der Machtübernahme der Taliban gezielt gegen Schiiten vor mit Angriffen in Kabul, Jalalabad, Herat, Kandarhar und Kunduz (LIB).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen, von den Taliban getötet worden sein. AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden. Human Rights Watch (HRW) berichtet, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. HRW verwies auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh. In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober Hunderte von Hazara-Familien vertrieben, und in 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan wurden im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (LIB).
II.3.10 Hazara
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 23.8.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (LIB).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen. Die am 7.9.2021 gebildete Übergangsregierung der Taliban umfasste nur drei Vertreter der usbekischen bzw. der tadschikischen Minderheiten, durch weitere Ernennungen kamen mittlerweile wenige weitere, darunter ein Vertreter der Hazara, hinzu. Darüber hinaus unterliegen - soweit bislang erkennbar - ethnische Minderheiten, aber keiner grundsätzlichen Verfolgung durch die Taliban, solange sie deren Machtanspruch akzeptieren (LIB).
Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (LIB).
Die Lage der Hazara, die während der ersten Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert. Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (LIB).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (LIB).
Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 haben diese erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Sie haben insbesondere den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara, die während des ersten Talibanregimes benachteiligt und teilweise verfolgt wurden, Zusicherungen gemacht. Zum Nachweis haben die Taliban mit ihren Kämpfern die Ashura-Feierlichkeiten [Anm.: Gedenken des Martyriums von Imam Hussein, einem Enkel des Propheten Mohammed] am 19.8.2021 abgesichert und sich medienwirksam mit Hazara-Führern getroffen. Nach Angaben des in London lebenden Journalisten und eines afghanischen Rechtsprofessors werden die Hazara in Afghanistan von vielen Taliban-Mitgliedern weiterhin als minderwertig angesehen, da sie schiitische Muslime sind. Die dänische Einwanderungsbehörde verweist in einem Bericht auf zwei Quellen, denen zufolge Hazara seit der Machtübernahme durch die Taliban beim Zugang zum Rechtssystem und zu Ressourcen diskriminiert werden. Außerdem wurde die Hazara-Gemeinschaft weitgehend von der Übergangsregierung und anderen hochrangigen Positionen auf nationaler und provinzieller Ebene ausgeschlossen (LIB).
II.3.11 Medizinische Versorgung
In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischem Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig (LIB).
Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (LIB).
Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 Jahre im Jahr 2018 gestiegen (LIB).
Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (LIB).
Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (LIB).
Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (LIB).
COVID-19
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (LIB).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Mit Stand 1.12.2021 wurden insgesamt 4.396.007 Impfdosen verabreicht. Das afghanische Gesundheitssystem ist nicht in der Lage COVID-19-Patienten adäquat zu behandeln (LIB).
Mit Stand November 2021 gibt es in Afghanistan keine Restriktionen im Hinblick auf COVID-19 (LIB).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban war das afghanische Gesundheitssystem seit Jahren fragil und wies große Lücken auf und ist nun, nach Angaben von Ärzten ohne Grenzen (MSF), vom Zusammenbruch bedroht. Auch der Zugang zur Gesundheitsversorgung war schon vor der Machtübernahme durch die Taliban ein großes Problem in Afghanistan, wobei sich die Situation nun noch weiter verschlechtert, da der Großteil der internationalen Hilfe eingestellt wurde. Gesundheitseinrichtungen beispielsweise in Herat haben geschlossen oder laufen auf Minimalbetrieb und die Menschen sind meistens zu arm, um in private Kliniken zu gehen. Anfang November 2021 meldete das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) man habe mithilfe von 15 Mio. USD das Sehatmandi Projekt aufrechterhalten und Medizin für Kranke bezahlt sowie alle Gehälter der Ärzteschaft und des Personals für den Vormonat direkt auf deren Konten eingezahlt (insgesamt acht Mio. für 23.500 Angestellte in 31 Provinzen), da viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems in ganz Afghanistan seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten haben (LIB).
Angesichts der jüngsten Entwicklungen hat auch die Weltbank alle Hilfen für Afghanistan eingefroren. Mehr 2.500 Gesundheitseinrichtungen und die Gehälter von mehr als 2.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen, die im Rahmen des von der Weltbank kofinanzierten Sehatmandi-Projekts unterstützt wurden, sind davon betroffen. Derzeit sind mehr als 3.800 Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, ganz oder teilweise nicht funktionsfähig. Die reduzierte Unterstützung des Projektes hat zur sofortigen Aussetzung einiger Dienste in den Gesundheitseinrichtungen, einschließlich Überweisungen und ambulanter Essensversorgung geführt. Einige wenige Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, verfügen über genügend medizinische Vorräte, um die Versorgung für einige Monate aufrechtzuerhalten. In Ermangelung einer ausreichenden Finanzierung könnte die Kürzung der Hilfe Hunderttausende Afghanen ohne medizinische Versorgung zurücklassen und unverhältnismäßig viele Frauen betreffen (LIB).
Vor allem außerhalb der großen Städte ist die Lage der medizinischen Einrichtungen sehr schlecht. Zwar erhielten viele Mitarbeiter der Krankenhäuser im Dezember nach fünf Monaten erstmalig ihr Gehalt, jedoch waren die Medikamentenvorräte noch gefährlich knapp. Die meisten Patienten sind angewiesen, ihre eigenen Medikamente in nahe gelegenen Apotheken zu kaufen. Aber auch größere Krankenhäuser, die ein höheres Versorgungsniveau bieten, wie beispielsweise 39 COVID-19 Krankenhäuser, leiden an Unterfinanzierung. Den meisten fehlt es an grundlegenden Leistungen wie Sauerstoff und den für die Behandlung von COVID-19 wichtigen intravenösen Medikamenten. Das COVID-19-Krankenhaus in Kabul (Afghan-Japan-Hospital) leidet beispielsweise an einem Mangel an lebenswichtigen Medikamenten, und das Verfallsdatum der verfügbaren Arzneimittel ist weit überschritten (LIB).
In ganz Afghanistan wurde mit viertem Quartal 2021 ein starker Anstieg der Fälle von Unterernährung, vor allem betreffend Mütter und Kleinkinder, sowie schwerer Lungenentzündung verzeichnet. Die Vereinten Nationen und NGOs warnten davor, dass eine Million Kinder in den folgenden Monaten an den Auswirkungen des Hungers zu sterben drohten (LIB).
Ab dem 8.11.2021 war geplant in Afghanistan landesweit gegen Kinderlähmung zu impfen. Zum ersten Mal seit drei Jahren sollte die Tür-zu-Tür-Impfkampagne auch Kinder in bisher nicht zugänglichen Gebieten erreichen. Die Taliban-Führung unterstützte das Vorhaben. In einigen Gebieten werden Impfungen allerdings nicht mehr im Rahmen von Haus-zu-Haus-Kampagnen durchgeführt, da die Taliban den Aufenthalt von Männern und nicht verwandten Frauen in Häusern verbieten. In diesen Gebieten werden die Menschen gebeten, zur Impfung in die nächste Moschee zu gehen, wobei die Frauen von einem männlichen Verwandten begleitet werden. Die erneute Bereitstellung von Mitteln bedeutet auch, dass Ausbrüche von Denguefieber, Cholera und Malaria wieder bekämpft werden können (LIB).
Die WHO bestätigte am 8.11.2021, dass sie sieben Tonnen an Medizin und medizinischem Gerät nach Kabul geliefert hat. Dies beinhalte Hilfe für 5.000 unterernährte afghanische Kinder (LIB).
Gemäß einer im Auftrag der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie, haben 43,3 % (45 % der männlichen und 42,3 % der weiblichen) Befragten, Zugang zu Ärzten. 42,3 % haben Zugang zu Fachärzten, 37,3 % zu Zahnärzten und 31,3 % zu Krankenhäusern, während der Rest nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen hat. Insgesamt 17,7 % der Befragten haben Zugang zu Impfungen. Dies bezieht sich jedoch auf ein rein städtisches Publikum. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in städtischen Ballungszentren ist aufgrund einer umfangreicheren medizinischen Infrastruktur, nachhaltiger öffentlicher und privater Investitionen, der Verfügbarkeit von Ärzten und Krankenschwestern, der Beschäftigungsmöglichkeiten für Ärzte und medizinisches Hilfspersonal, sowie der höheren Entlohnung, deutlich besser ist als in ländlichen oder halbländlichen Gebieten des Landes (LIB).
II.3.12 Grundversorgung und Wirtschaft
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index. Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Jedoch konnte die vormalige afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (LIB).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (LIB).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%), was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9% (LIB).
Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste zivile Hilfe, finanzielle Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (LIB).
Bevor sie die Macht übernahmen, hatten die Taliban große Teile des Landes kontrolliert oder in ihrem Einfluss und konnten die Bevölkerung und die verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten, denen die Menschen dort nachgingen, "besteuern". Dazu gehörten unter anderem: die landwirtschaftliche Ernte (Ushr) [Anm.: 10 % Steuer auf landwirtschaftliche Produkte nach islamischem Recht], insbesondere Opium; der grenzüberschreitende Handel, sowohl legal als auch illegal; Bergbau; Gehälter, auch von Beamten und NGO-Mitarbeitern. Sie erzielten auch Einnahmen in Form von Schutzgeldern sowie durch die Einhebung von Geld von Reisenden an Kontrollpunkten. Die Taliban erhielten auch Spenden von afghanischen und ausländischen Anhängern (LIB).
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt. Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wieder aufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (LIB).
Die Regierung der Taliban hat einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NRG und UN-Organisationen aufgenommen. Anfang Dezember wurde berichtet, dass die Taliban begonnen haben, landesweit eine Ushr einzutreiben (LIB).
Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen ist ebenso wie eine Reihe von UN-Unterorganisationen (z. B. WHO, WFP, UNHCR, IOM) vor Ort – mit Abstrichen – weiter arbeitsfähig. Bei einer internationalen Geberkonferenz am 13. September 2021 hat die internationale Gemeinschaft über 1 Milliarde US-Dollar an Nothilfen für Afghanistan zugesagt (LIB).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 4 % der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familien mit den grundlegendsten Gütern zu versorgen. In Kabul gaben 80 % der Befragten an, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Haushalt zu versorgen, gefolgt von 66 % in Mazar-e Sharif und 45 % in Herat. Ebenso gaben 8 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien mit grundlegenden Gütern zu versorgen, gefolgt von 24 % in Mazar-e Sharif und 42 % in Herat (LIB).
Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört. 405 Familien wurden landesweit aus ihren Häusern vertrieben (LIB).
Im Jahr 2021 kam es zur zweiten schweren Dürre innerhalb von drei Jahren, welche zu Missernten, einem drastischen Verfall der Viehpreise und zu Trinkwasserknappheit geführt hat. Besonders schlimm sind die Bedingungen im Süden, Westen und Nordwesten des Landes. Für den Winter droht angesichts der anhaltenden Dürre und des Hungers eine weitverbreitete Hungersnot (LIB).
Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps. COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering (LIB).
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (LIB).
Da keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen (LIB). Von Juni bis September 2021 sind die Preise für Weizen um 28% und für Speiseöl um 28% gestiegen (EASO 2022). Dieser Trend setzte sich auch im Dezember 2021 fort, als die afghanische Währung gegenüber dem Dollar in nur einer Woche 30 % des Wertes verlor (LIB).
95% der afghanischen Bevölkerung meldeten einen Rückgang des Haushaltseinkommens im Vergleich zu 2020. Fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung leidet unter einem hohen Level an Lebensmittelunsicherheit. Davon sind sowohl städtische als auch ländliche Regionen gleichermaßen betroffen (EASO 2022).
Das World Food Program (WFP), die Food and Agriculture Organization (FAO), die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) sowie die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) warnten im Oktober 2021, dass im kommenden Winter fast 23 Millionen Afghanen unter "akuter Ernährungsunsicherheit" leiden werden. Grund dafür sind die kombinierten Auswirkungen von Dürre, Konflikten, der Coronavirus-Pandemie und einer Wirtschaftskrise, die sich durch die Unruhen nach der Machtübernahme der Taliban im Land noch verschärft hat. Der im Oktober 2021 veröffentlichte IPC-Bericht zeigt, dass die Zahl der Afghanen, die von akutem Hunger betroffen sind, seit der letzten Bewertung im April 2021 um 37 % gestiegen ist. Unter den Gefährdeten sind 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die bis Ende des Jahres an akuter Unterernährung leiden dürften. NGOs warnten, dass eine Million Kinder an schwerer akuter Unterernährung zu sterben drohen, wenn sie nicht umgehend lebensrettende Maßnahmen erhalten (LIB).
Drei von vier Haushalten müssten die Größe der Essenrationen reduzieren, Erwachsene würden weniger zu sich nehmen, damit den Kindern mehr bliebe, und frauengeführte Haushalte würden auf Mahlzeiten verzichten und die Größe der Portionen noch stärker rationieren als männergeführte Haushalte. Mit Stand Ende September 2021 seien fünf von zehn Haushalten mindestens einmal in den vorangegangenen zwei Wochen die Lebensmittel ausgegangen und nur fünf Prozent der Afghan·innen hätten noch ausreichend zu essen gehabt. Laut REACH hätten 34 Prozent der von REACH im Oktober 2021 befragten Haushalte berichtet, auf Wasser aus bedenklichen Wasserquellen („unimproved water source“) angewiesen zu sein, während 23 Prozent der Haushalte berichtet hätten, nicht genug Wasser für den Haushaltsgebrauch, also zum Trinken, Kochen und Baden, zur Verfügung zu haben. Die primäre Wasserquelle von 25 Prozent der Haushalte sei weiter als 500 Meter von der Unterkunft entfernt gewesen, und 12 Prozent der Haushalte hätten keine Möglichkeit gehabt, sich die Hände zu waschen (ACCORD). Während das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten bestand, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen (LIB).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (LIB).
Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (LIB).
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat, wobei abhängig vom Verbrauch diese Kosten auch höher liegen konnten. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen als in den Städten (LIB).
Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Mieten um 20-40 % gesunken. Die durchschnittliche Miete für eine Wohnung wird mit November 2021 auf 110 USD bis 550 USD (10.000 AFN bis 50.000 AFN) für Kabul, Herat und Mazar-e Sharif geschätzt; je nach Standort und Art der Einrichtung (LIB).
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht. Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken (LIB).
Arbeitsmarkt
Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer - etwa 1,5 Millionen in den letzten zwei Jahren - und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich (LIB).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (LIB).
Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (LIB).
Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (LIB).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (LIB).
Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor: Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (LIB).
Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (LIB).
Die Arbeit von Tagelöhnern ist nach der Machtübernahme gleich geblieben, allerdings ist es schwerer, Arbeit zu finden. Viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten. Das UNDP (United Nations Development Program) erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10 % sinken werden. Die Markt- und Preisbeobachtung des Welternährungsprogramms (WFP) ergab einen drastischen Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten: Im Juli waren es zwei Tage pro Woche, im August nur noch 1,8 Tage und im September nur noch ein Arbeitstag. Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit finden, lag Ende November 2021 bei 1,4 Tagen pro Woche (LIB).
Bank- und Finanzwesen
Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer sind und Geldwechsel nicht möglich ist und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern (LIB).
Mit Stand November 2021 sind die Banken wieder geöffnet. Aktuell sind Einzahlungen, begrenzte Abhebungen sowie begrenzte inländische und (sehr) begrenzte internationale Überweisungen möglich. Geldautomaten sind geschlossen, und in den meisten Banken muss man in langen Schlangen warten, was einen halben oder ganzen Tag dauert, um die begrenzte Geldsumme abzuheben. Aktuell kann man 30.000 AFN (ca. 400 USD) pro Woche abheben. Bei Geldüberweisungen aus dem Ausland kann es sein, dass die Mittelsbank die Überweisung nicht zulässt. Überweisungen von Western Union und MoneyGram sind für Einzelpersonen auf 20.000 AFN (220 USD) pro Woche begrenzt und erfordern lange Warteschlangen (LIB).
Anfang November 2021 hat die Taliban-Regierung die Nutzung fremder Währungen im Land verboten. Einzig der Afghani solle für den Zahlungsverkehr benutzt werden (LIB).
Hawala-System
Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welcher Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen. Das System funktioniert folgendermaßen: Person A übergibt ihrem Hawaladar (X) das Geld und nennt ihm ein Passwort. Daraufhin teilt die Person A der Person B, die das Geld bekommen soll, das Passwort mit. Der Hawaladar (X) teilt das Passwort ebenfalls seinem Empfänger-Hawaladar (Y) mit. Jetzt kann die Person B einfach zu ihrem Hawaladar (Y) gehen. Wenn sie ihm das Passwort nennt, bekommt sie das Geld, z.B. in Afghani, ausbezahlt. So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2%, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten (LIB). Das System funktioniert auch derzeit problemlos.
II.3.13 Frauen
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu lernen, zu studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass 'im Namen der Frauenrechte' Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres ersten Regimes [Anm.: 1996-2001] afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (LIB).
Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, unter anderem durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die gemeldeten Zahlen das wahre Ausmaß der konfliktbedingten sexuellen Gewalt in Afghanistan widerspiegeln. Tief konservative Geschlechternormen, Stigmatisierung und ein Mangel an speziell auf Opfer ausgerichteten Diensten tragen dazu bei, dass es wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt (LIB).
Der Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen ist bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig, es zeichnen sich aber deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten ab. Berichte über unterschiedlich ausgeprägte Repressionen und Einschränkungen für Frauen betreffen Kleidungsvorschriften, die Pflicht zu männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschränkung von Schulbesuch und Berufsausübung bis hin zur Zwangsverheiratung mit Talibankämpfern. Bei der Ernennung der Übergangsregierung wurde das unter der Vorgängerregierung vorhandene Frauenministerium nicht berücksichtigt. Am 17.9.2021 wurde der ehemalige Sitz des Frauenministeriums in den Sitz des neuen „Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters“ umgewandelt. Diese Institution hatte bereits im ersten Talibanregime Verstöße gegen die Einhaltung religiöser Vorschriften verfolgt (LIB).
Im vergangenen Jahr bekannten sich die Taliban dazu, Frauen Arbeit und Bildung im Einklang mit der Scharia bzw. des islamischen Systems der Taliban zu gewähren. Doch auch wenn die Taliban-Führer eine sanftere Rhetorik in Bezug auf die Rechte der Frauen an den Tag legen, gibt es oft eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Aussagen und der Realität vor Ort, wo Befehlshaber der Taliban oft harte Regeln durchsetzen, die im Widerspruch zu den Beteuerungen ihrer Führer stehen (LIB).
Es gibt Berichte wonach die Taliban weibliche Angestellte einiger Banken aufgefordert hätten, nicht an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Einige Frauen konnten ihre Arbeit fortsetzen, andere wurden von Taliban-Kämpfern am Betreten ihres Arbeitsplatzes physisch gehindert; viele andere sind vorsichtshalber zu Hause geblieben. Frauen, die vor der Machtübernahme durch die Taliban in der Regierung waren, sind größtenteils aus dem Land geflohen. Allerdings gab es bereits mehrere Fälle von Repressalien gegen ihre Mitarbeiter, Kollegen und Familienmitglieder, die in Afghanistan geblieben sind. Ein Erlass der Regierung vom 17.9.2021, dessen Authentizität bisher nicht bestätigt werden konnte, soll die öffentliche Verwaltung anweisen, männlichen Kandidaten prioritär Zugang zu bestimmten Laufbahnen im öffentlichen Dienst zu gewähren. Frauen werden aufgefordert, ihre Kündigung einzureichen (LIB).
Es kam mit September 2021 zu Protesten von Frauen in mehreren Städten, darunter Kabul und Herat, gegen die Taliban. Es gibt Berichte wonach einige Proteste, unter anderem solche von Frauen, durch die Taliban aufgelöst wurden, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten, Tränengas und Pfefferspray. Am 11.9.2021 kam es zu einem Pro-Taliban Protest durch einige Hundert komplett verschleierte Frauen. Die Taliban erklärten, die Demonstration an der Shaheed Rabbani Education University sei von Dozentinnen und Studentinnen der Universität organisiert worden (LIB).
Lehrkräfte und Studierende an Universitäten in den größten Städten Afghanistans - Kabul, Kandahar und Herat - berichteten der Nachrichtenagentur Reuters, dass Studentinnen im Unterricht getrennt werden, separat unterrichtet werden oder auf bestimmte Bereiche des Campus beschränkt sind. In einigen Fällen wurden Schülerinnen durch Vorhänge oder Bretter in der Mitte des Klassenzimmers von ihren männlichen Kollegen getrennt. Am 5.9.2021 erließ das nun von den Taliban kontrollierte Bildungsministerium einen Erlass, dass alle Studentinnen, Lehrerinnen und Mitarbeiterinnen an Hochschulen und Universitäten ein islamisches schwarzes Abaya und Niqab tragen müssen, die das Haar, den Körper und den größten Teil des Gesichts bedecken, sowie Handschuhe (LIB).
Staatliche Universitäten sind derzeit sowohl für Männer als auch für Frauen geschlossen. Die Taliban begründen dies damit, dass neben neuen Lehrplänen noch Konzepte für die strikte Geschlechtertrennung erarbeitet werden müssen. Die Wiedereröffnung der Universitäten wird immer wieder angekündigt, jedoch ohne konkreten Zeitplan. Viele Privatuniversitäten haben mit den oben genannten Regelungen zur Geschlechtertrennung ihren Betrieb wieder aufgenommen (BAMF).
Ende Oktober berichtete Human Rights Watch (HRW), dass die Taliban strengere Tugendregeln aufstellen, als zunächst öffentlich angekündigt. In vielen Provinzen gelten per Gesetz die Regeln eines "Tugendhandbuches", welches z.B. vorgibt, welche Frauen als Anstandsdamen für andere Frauen gelten dürfen und Parties mit Musik sowie Ehebruch und gleichgeschlechtliche Beziehungen verbietet. Zusätzlich gibt es Berichte wonach in den meisten Provinzen Entwicklungshelferinnen an der Ausübung ihrer Arbeit hindern würden (LIB).
Anfang Dezember verkündeten die Taliban in einem Dekret ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister der Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären. Währenddessen sind weiterhin Tausende Mädchen vom Besuch der siebenten bis zwölften Schulstufe ausgeschlossen und der Großteil der Frauen ist seit der Machtübernahme der Taliban nicht an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt (LIB). Das Dekret wird viel kritisiert, da es keinen Bezug auf die Rechte auf Bildung, Arbeit und andere politische und gesellschaftliche Partizipation von Frauen nimmt. Außerdem sind die Auswirkungen des Dekrets eingeschränkt, da gerade Frauen, die gegen ihren Willen verheiratet werden, oft in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt sind und keine Möglichkeit haben, ihre Rechte einzufordern (BAMF).
Trotz des Dekrets der Taliban, das Zwangsehen verbietet, gibt es vermehrt Berichte von Ehen, die aus finanzieller Not arrangiert oder eingegangen werden. Dazu gehören Berichte von Familien, die ihre Töchter (teilweise noch Kleinkinder) als Bräute verkaufen, um andere Kinder ernähren zu können oder um Schulden zu begleichen. Oft sind auch die zukünftigen Ehemänner noch minderjährig und die Mädchen bleiben vorerst noch bei ihren Familien. In anderen Fällen ziehen sie jedoch auch direkt zur Familie des (volljährigen) Bräutigams. Ein anderer Bericht zeigt, dass auch Talibankämpfer Zwangsehen mit Minderjährigen eingehen. Auch erwachsene Frauen sehen sich gezwungen zu heiraten, wenn sie unverheiratet sind und ihre Familie nicht mehr ernähren können. Die Zeitung The Diplomat berichtet von einem Fall, in dem eine verwitwete Polizistin wegen des fehlenden Einkommens ihre Kinder nicht mehr ernähren konnte und letztendlich den Drohungen eines Talibankämpfers, der sie heiraten wollte, nachgegeben hat, da sie keine andere Möglichkeit gesehen hat zu überleben (BAMF).
Seit ihrer Machtübernahme haben die Taliban mehrere Dekrete erlassen, die jedoch alle viel Raum für Interpretation lassen, da Formulierungen wie „Verstoß gegen die Scharia“, „entsprechend dem Islam“ und auch „Hijab“ nicht klar definiert sind. Die fehlende Klarheit bestärkt die auf Erfahrungen und Berichten aus der ersten Talibanzeit basierende Angst vor einer starken Einschränkung der Rechte von Frauen Diese Angst führt auch zu vorausseilendem Gehorsam, der das Leben vieler Frauen stark einschränkt (BAMF).
Nach einem Dekret zur Mobilität vom 26.12.21 sind Fahrer angewiesen, Frauen nur mit Hijab (ohne Konkretisierung) zu transportieren und Frauen dürfen nur maximal 72 km ohne die Begleitung eines männlichen Verwandten (mahram) reisen. Da es keine klaren Regelungen gab, wurden schon vor dem Dekret Frauen, die ihr Haus ohne mahram verlassen hatten, angehalten und bedroht oder Busfahrer hatten sich geweigert, sie mitzunehmen (BAMF).
Auch jenseits von Bildung und Arbeit sind Frauen durch Dekrete, willkürliche Bedrohung und Angst weitgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. So hatten die Taliban schon im September verkündet, dass Frauen keinen Sport machen dürfen, wobei das Afghan Cricket Board (ACB) nach internationalem Druck am 24.11.21 ankündigte, dass das Frauenteam weiterspielen dürfe. Ende Dezember 2021 erklärte das Tugendministerium, dass Frauen nicht unbegleitet in Sport- und Gesundheitseinrichtungen gehen dürften. Nach Berichten wurden öffentliche Bäder in den Provinzen Balkh und Baghlan für Frauen geschlossen – womöglich ist dies auch in anderen Provinzen der Fall. Es dürfen keine Bilder von Frauen in der Öffentlichkeit gezeigt werden (BAMF).
Zugangsbedingungen von Frauen zu medizinischer Versorgung
Derzeit ist es für Frauen und Mädchen schwierig, auch nur die grundlegendsten Informationen über Gesundheit und Familienplanung zu erhalten. Das Zusammenwirken von Krieg, Armut, häuslicher Gewalt und sozialer Marginalisierung führt dazu, dass Frauen überproportional von psychischen Problemen und psychosozialen Behinderungen betroffen sind, während der Mangel an psychischen Gesundheitsdiensten für Frauen als besonders besorgniserregend gilt. HRW (Human Rights Watch) dokumentierte in Interviews mit Frauen über ihre Erfahrungen bei der Suche und Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung sowie mit Gesundheitspersonal und Experten große Hindernisse für Frauen beim Zugang zu Dienstleistungen, selbst in der Hauptstadt Kabul, wo sich die meisten der qualitativ besten Dienstleistungen des Landes befinden. Dort, wo Dienste verfügbar sind, führen kulturelle Barrieren, Stigmatisierung und die begrenzte Anzahl weiblicher Anbieter psychischer Gesundheitsdienste häufig dazu, dass Frauen vom Zugang zu geeigneten Diensten ausgeschlossen sind. Medizinische Einrichtungen auf dem Land sind oft unterbesetzt oder haben wenig oder kein weibliches Personal. Gemäß afghanischer Gesellschaftsnormen sollten Frauen von Ärztinnen untersucht werden. Es kommt somit zu Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung von Frauen, wenn keine Ärztinnen verfügbar sind. Manche Frauen konsultierten in den Dörfern oder Distrikten [Anm.: vor der Machtübernahme der Taliban] allerdings unter Umständen auch Ärzte (LIB).
Frauen und Mädchen in Afghanistan sind stark gefährdet, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden und sehen sich mit erheblichen Hindernissen beim Zugang zu Gesundheitseinrichtungen konfrontiert, um nach solcher Gewalt Hilfe zu suchen (LIB).
Nach der Übernahme des Landes durch die Taliban haben sich die grundlegenden gesundheitsdienstlichen Dienste für Frauen und Mädchen, speziell für jene die geschlechtsspezifische Gewalt erlebt haben, weiter reduziert. Es wird berichtet, dass Taliban Schutzeinrichtungen für Frauen geschlossen, in einigen Fällen auch deren Personal drangsaliert haben. Durch die Schliessungen waren die Mitarbeiter gezwungen viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken, andere wurden von Familienmitgliedern gewaltsam zurückgeholt oder waren gezwungen, bei den Mitarbeitern der Unterkünfte oder auf der Straße zu leben. Taliban haben Gefangene aus dem Gefängnis entlassen, darunter viele, die wegen geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt wurden (LIB).
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie, gaben 42,3 % der befragten Frauen an, Zugang zu einem Arzt zu haben. 40 % gaben an, Zugang zu einem Spezialisten, z.B. einem Gynäkologen zu haben (LIB).
III. Beweiswürdigung:
III.1. Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und dem Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts.
III.2. Zu den Feststellungen zu den BF:
Die Feststellungen zu den Verfahrensidentitäten der BF ergeben sich aus den insoweit übereinstimmenden Aussagen der BF. Die Identität der BF kann nicht festgestellt werden, weil diese keine unbedenklichen Dokumente aus Afghanistan oder dem Iran vorlegten und die Angaben überdies teils Fragen aufwarfen.
Hierzu ist festzuhalten, dass die BF2 angab, sie wisse ihr Geburtsdatum (wahrscheinlich) von ihrer Mutter. Seit sie fünf Jahre alt gewesen sei, sei dieses Datum auch auf den von den iranischen Behörden ausgestellten Dokumenten gestanden. Ihre Mutter habe den Koran gelesen, worin ihr Vater das Geburtsdatum vermerkt habe (S. 5 VP). Demgegenüber behauptete ihre Mutter noch vor dem BFA und auch wiederholt vor dem BVwG, sie sei Analphabetin und kenne sich mit Zahlen und Daten nicht aus. Sie habe zudem Schwierigkeiten mit Jahreszahlen. Mehrmals konnte sie in ihrer Beschwerdeverhandlung nicht einmal das ungefähre eigene Alter oder das ihrer Töchter zu bestimmten einprägsamen Ereignissen angeben (zB S. 21 VP), obwohl ihr dies vor dem BFA noch gelang. Folglich machte sich die BF1 vor dem Bundesverwaltungsgericht durchaus unwissender und vulnerabler, als sie tatsächlich ist. Es ist bereits nicht nachvollziehbar, wie sie mit ihren Kindern alleine im Iran leben und arbeiten sowie die Pachteinnahmen und das Familienvermögen verwalten konnte, jedoch nicht einmal rudimentär rechnen können soll. Dies umso mehr, als ihr derartige Angaben vor dem BFA noch ohne Probleme gelangen. Zudem musste die BF1 vor dem Bundesverwaltungsgericht auf konkrete Rückfrage einräumen, sie habe den Koran in Afghanistan zwar überhaupt noch nicht gelesen, jedoch im Iran von unterschiedlichen Personen, auch von ihren Töchtern, gelernt, den Koran in ihrer Muttersprache Dari zu lesen. Folglich gab die BF1 letztlich auch selbst zu, doch nicht gänzliche Analphabetin zu sein.
Die weiteren Feststellungen zu den BF, insbesondere zur Staatsangehörigkeit, der Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, den Sprachkenntnissen, den Lebensumständen in Afghanistan und im Iran, dem (fehlenden) Schulbesuch und der Arbeitstätigkeit, gründen allesamt auf den das gesamte Verfahren über gleichbleibenden, lebensnahen Aussagen der BF. Auch hier ist aber festzuhalten, dass die Angaben der BF nicht völlig überzeugend waren. Nachdem in der Beschwerdeverhandlung bereits einige Zeit lang auf Dari übersetzt worden war, wobei die BF2 völlig problemlos alles verstanden und sie Dari ja auch selbst als ihre Muttersprache bezeichnet hatte (S. 8f VP), gab die BF2 an, sie wolle lieber auf Persisch wechseln, da sie auch mit ihrer Mutter in dieser Sprache spreche (S. 9 VP). Die BF1 sprach jedoch, auch wenn sie ihre Sprache landesüblich als „Farsi“ bezeichnete, Dari ohne jeglichen iranischen Einfluss (S. 22 VP), wie die Dolmetscherin überzeugend angab und von den BF nicht widersprochen wurde (auch nicht von der anwesenden und sprachkundigen BF2). Es ist dann aber nicht glaubhaft, dass die BF untereinander ausschließlich Persisch sprechen. Dies umso mehr, weil sich an ihrem Wohnort im Iran ja auch zahlreiche weitere Familien aus ihrem Dorf in Afghanistan, mit denen sie gemeinsam geflüchtet waren, aufhielten.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand und der Arbeitsfähigkeit der BF gründen auf ihren eigenen Aussagen in der Beschwerdeverhandlung (S. 5, 19 VP).
III.3. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der BF:
Die BF1 gab das ganze Verfahren über als Fluchtgrund an, ihr Mann sei Polizist gewesen und von den Taliban ermordet worden. In weiterer Folge sei ihr mit einer Zwangsverheiratung gedroht worden, weswegen sie Afghanistan habe verlassen müssen. Die BF1 stellte die angebliche Tätigkeit ihres Mannes jedoch stets nur völlig unsubstantiiert in den Raum, ohne ihre Angaben auch nur annähernd zu konkretisieren. Es ist daher bereits wenig glaubhaft, dass ihr Mann überhaupt als Polizist tätig war. Selbst wenn das aber zutreffen sollte und ihr Mann deswegen vor mehr als zwanzig Jahren von den Taliban ermordet worden wäre, besteht jedenfalls nunmehr bei einer Rückkehr keine diesbezügliche Gefahr für die BF, irgendwelchen Racheakten oder einer Zwangsverheiratung ausgesetzt zu sein.
So gab die BF1 vor dem BFA an, dass ihr Mann nicht aufgrund einer persönlichen Feindschaft, sondern im allgemeinen Kampf gegen die Taliban gefallen sei (BS 8). Es ist daher bereits nicht lebensnah, dass die Taliban damals überhaupt irgendein persönliches Interesse an der BF1 hatten. Erst recht ist dann beinahe ein Vierteljahrhundert später nicht mehr davon auszugehen. Die BF1 schilderte vor dem BFA auch noch keine konkrete persönliche Bedrohung, sondern lediglich die allgemeine spekulative Befürchtung, dass sie aufgrund ihrer Bekanntheit jederzeit hätte mitgenommen werden können (BS 9). Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ergibt sich aus diesen Aussagen gerade nicht. Selbst in der Beschwerdeverhandlung konnte die BF1 keine direkte Betroffenheit aufzeigen (S. 28 VP).
Die BF1 widersprach sich zudem bei ihren Aussagen. So gab sie vor dem BFA noch an, sie sei 40 Tage nach dem Tod ihres Mannes ausgereist (BS 5). Demgegenüber seien nach ihren Angaben vor dem BFA ungefähr drei Monate bis zur Ausreise vergangen (S. 28 VP). Auch das spricht gegen eine glaubhafte Verfolgung vor mehr als zwanzig Jahren und erst recht bei einer nunmehrigen Rückkehr. Vielmehr zeigt die dort nach dem Tod verbrachte Zeit, unabhängig davon, ob es nun 40 Tage oder drei Monate waren, dass die BF1 keiner Gefahr ausgesetzt war. Nach ihren Angaben wurde ihr Mann im Kampf gegen die Taliban getötet. Diesen Kampf hätten die Taliban gewonnen. Es kann damit davon ausgegangen werden, dass die Taliban auch das Dorf beherrschten. Wenn sie also ein Interesse an der BF1 gehabt hätten, hätten sie auch direkten Zugriff auf sie gehabt. Trotzdem berichtete die BF1 von keinen konkreten Bedrohungen. Auch die Einnahmen aus der Verpachtung / Vermietung ihrer Immobilien flossen ihnen im Iran zu (S. 9 VP), folglich wurden auch ihre Grundstücke nicht von den Taliban enteignet, wie bei einer direkten Verfolgung anzunehmen wäre. Es ist daher nicht glaubhaft, dass sie bei einer Rückkehr einer Gefahr durch die damaligen Taliban-Kommandanten ausgesetzt ist.
Dieser Schluss wird auch dadurch unterstützt, dass es vor dem Hintergrund der afghanischen patriarchalen Lebensverhältnisse lebensfremd ist, dass die BF1 nach dem Tod ihres Mannes und der angeblichen Bedrohung nicht (zumindest kurzzeitig, um eventuell die weiteren Schritte zu besprechen) zu ihrem Bruder als einzigem männlichen – und zudem unverheirateten – Verwandten gezogen ist, um sich unter dessen männlichen Schutz zu stellen, sondern das Land ohne männliche Verwandtschaft verlassen hat. Auch ihre Ausführungen zur Flucht gemeinsam mit vielen anderen Dorfbewohnern (ua S. 29 VP), die aufgrund der allgemein volatilen Sicherheitslage geflohen sind, spricht gegen eine persönliche Bedrohung. Insgesamt ist damit weder eine damalige noch eine jetzige Bedrohung durch die BF1 glaubhaft gemacht worden.
Dazu kommt, dass die BF auch nicht glaubhaft machen konnten, dass sie in ihrem Heimatdorf keine Familienangehörigen oder Bekannten haben oder dass sie nicht wissen, was mit ihren Grundstücken passiert ist. Zu diesem Komplex sind die Angaben der BF zueinander widersprüchlich und zudem teils nicht nachvollziehbar. Dass die Familie der BF nach wie vor Verbindungen ins Heimatdorf hat und dort auch aufgenommen wird, zeigt sich zunächst bereits daran, dass nach den übereinstimmenden Angaben der BF, die ältere Tochter/Schwester in das Heimatdorf reisen konnte. Dort konnte diese nicht nur einige Tage problemlos verbringen, sondern es war ihr auch möglich, einen Pass und eine Todesbestätigung ausstellen zu lassen. Es ist aber wiederum vor dem Hintergrund der afghanischen Lebensverhältnisse völlig lebensfremd, dass die Tochter der BF1 dazu ohne männliche Unterstützung in der Lage gewesen wäre, zumal sie auch beinahe ihr gesamtes Leben im Iran verbrachte und daher auch nicht von vornherein mit den afghanischen Örtlichkeiten vertraut wäre. Diese Rückreise der älteren Tochter in das Heimatdorf spricht zudem auch gegen eine Bedrohung der Familie der BF aufgrund der angeblichen Tötung des Mannes der BF1.
Die BF1 gab vor dem BFA an, sie habe in Afghanistan mit ihren Eltern und ihrem Bruder gemeinsam gewohnt. Weitere Angehörige habe sie nicht (BS 5). Vor dem BFA gab sie dann allerdings zusätzlich an, dass sie auch noch eine Schwester habe. Auch wenn es sich dabei nicht um ihre leibliche Schwester gehandelt habe, habe sie diese seit Jahren als Schwester bezeichnet (S. 24 VP). Es ist dann aber nicht nachvollziehbar, warum die BF1 diese „Schwester“ nicht auch vor dem BFA auf Nachfrage erwähnte. Bereits dieser Punkt spricht gegen eine Unglaubhaftigkeit der Angaben der BF zu ihren Verwandten in Afghanistan.
Die BF2 gab zu ihren Verwandten an, sie habe keine Onkel, Tanten, Cousins oder Cousinen. Ihr Vater habe, soweit sie wisse, keine Geschwister gehabt. Ihre Mutter habe nur einen Bruder gehabt, dieser sei aber längst verstorben (S. 8 VP). Auf Vorhalt der Unplausibilität dieser Angaben gab die BF2 an, sie habe von weitschichtigen Verwandten noch nie etwas gehört und wisse gar nicht, was damit gemeint sei. Nach Erklärung gab sie dann an, wahrscheinlich habe sie solche Verwandte, kenne sie jedoch nicht (S. 8 VP). Die BF2 ist aber, wie sie nicht nur im Iran durch den Schul- und Universitätsbesuch, sondern auch durch ihre Leistungen in Österreich zeigte, durchaus intellektuell in der Lage zu verstehen, was weitschichtige Verwandte sind. Dies umso mehr vor dem Hintergrund der typischen afghanischen Lebensverhältnisse. Die Angaben der BF2 stellen damit offensichtlich Schutzbehauptungen dar.
Gleiches gilt auch für die Angaben, dass die BF2 nicht wisse, an wen die Grundstücke verpachtet seien, ihre Schwester habe diese Einnahmen verwaltet (S. 8f VP). Dass es sich dabei um eine Schutzbehauptung handelte, zeigte sich deutlich an der körperlichen Reaktion der BF2 in der Beschwerdeverhandlung (S. 9 VP). Auch die Aussage der BF1, dass sie nichts über die Grundstücke und Häuser der Familie (jenen ihres Mannes wie auch des ledigen verstorbenen Bruders, einem Gärtner) wisse, ist als bloße Schutzbehauptung zu werten. So bezogen die BF auch im Iran die Gelder aus diesen Grundstücken, wie sie selbst einräumten, und konnte die älteste Tochter auch laut Aussagen der BF trotz einer jahrelangen Abwesenheit ohne Probleme ins Heimatdorf zurückkehren, dort bei Nachbarn/Freunden unterkommen und die Dokumente für sich selbst und die BF beschaffen. Die BF brachten nichts vor, weshalb der Kontakt seitdem abgebrochen wäre, weshalb davon auszugehen ist, dass nach wie vor Kontakt besteht und sie noch Zugriff auf ihre Grundstücke haben bzw. sich diesen bei einer Rückkehr leicht verschaffen können. Auch die Schwiegerfamilie der Tochter der BF1, zu der ebenfalls Kontakt besteht, wohnt im Übrigen im Heimatdorf und könnte über den Verbleib der Grundstücke Auskunft geben.
Dass die BF bei ihren Verwandten und Bekannten unglaubhafte Angaben machten, um dadurch (noch) vulnerabler zu erscheinen, zeigt sich auch daran, dass die BF2 angab, die Familie des Schwagers sei bei der Hochzeit nicht anwesend gewesen. Die Eltern des Schwagers wären in Afghanistan geblieben (S. 12 VP), sie stammten aus demselben Dorf wie ihre eigene Familie. Dagegen gab die BF1 an, dass jedenfalls die Mutter des Bräutigams bei der Hochzeit anwesend gewesen sei (S. 25 VP).
Auch die BF1 widerspricht sich bei den Angaben zu ihren Verwandten. So gab sie, befragt zu ihrer eigenen Hochzeit, unter anderem an, dass damals die Neffen und Nichten ihres Mannes (beides im Plural) anwesend gewesen seien (S. 23 VP). Bereits damit widerspricht sie der Angabe der BF2, dass diese keine Cousinen oder Cousins habe. In weiterer Folge gab die BF1 dann zudem an, dass nur ein Neffe mit seiner Frau und eine Nichte bei der Hochzeit anwesend gewesen seien, da ihr Mann nur eine bereits verstorbene Schwester gehabt habe (S. 24 VP), womit sie ihrer früheren Aussage zu mehreren Nichten und Neffen widersprach. Die Aussagen der BF zu ihren Verwandten in Afghanistan sind daher gesamthaft nicht glaubhaft. Vielmehr war festzustellen, dass im Heimatdorf noch mehrere männliche Verwandte und Bekannte der BF (wozu auch die Schwiegerfamilie zu zählen ist) leben, unter deren männlichen Schutz sie sich stellen können. Insoweit ist daher auch den Ausführungen in der Stellungnahme, die BF seien alleinstehende Frauen, der Boden entzogen.
Dass den BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Gefahr durch den Stiefsohn der BF1 droht, konnte – unabhängig davon, ob die von den BF behauptete Drohung im Iran überhaupt den Tatsachen entspricht – festgestellt werden, weil dieser im Iran lebt und seit mehreren Jahren kein Kontakt mehr zu ihm bestehen soll. In der Beschwerde wurde zwar vorgebracht, die BF befürchteten, der Stiefsohn sei psychisch krank und werde die BF auch in Afghanistan suchen. In der Beschwerdeverhandlung brachten sie aber Derartiges in keiner Weise vor. Befragt nach den Befürchtungen bei einer Rückkehr nach Afghanistan wurde dies vielmehr mit keinem Wort erwähnt. Überhaupt wurden der Stiefsohn bzw. Halbbruder und von ihm möglicherweise erfolgte Bedrohungen durch die BF nur sehr am Rande und beiläufig erwähnt. Dabei handelt es sich zudem um einen Familienstreit, der selbst nach der Schilderung der BF kein asylrelevantes Ausmaß erreicht. Der Vollständigkeit halber sei zudem erwähnt, dass die BF sich auch hierbei widersprachen, etwa bei der Frage, ob der Stiefsohn der BF1 nun vom Iran nach Afghanistan abgeschoben wurde (S. 28 VP) oder nicht (S. 15 VP). Vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht machten sie auch sehr unterschiedliche Angaben, von wann bis wann der von der BF1 wie ihr eigener Sohn großgezogene Stiefsohn mit ihnen in der gemeinsamen Wohnung gelebt haben soll und ob bzw. ab wann dieser vom Studium der Mädchen etwas wusste. Nach der BF1 soll es zudem erst nach dem Gefängnisaufenthalt zu körperlichen Auseinandersetzungen (S. 27 VP) gekommen sein, während diese nach dem Vorbringen der BF2 vor dem BFA auch bereits davor stattgefunden hätten (BS 8). Vor dem Bundesverwaltungsgericht ließ die BF2 körperliche Übergriffe oder eine angeblich vom Halbbruder geplante Zwangsheirat gänzlich unerwähnt. Auch dieses Vorbringen ist daher nicht glaubhaft.
Die Feststellungen zum Leben der BF1 in Österreich waren genauso wie die Feststellungen zu den Umständen der Hochzeit der älteren Tochter aufgrund der Aussage der BF1 in Verbindung mit den vorgelegten Unterlagen zu treffen. Aus diesen folgt auch die Feststellung zur Nichtannahme einer „westlichen“ Orientierung. Die BF1 verbringt ihren Tag beinahe ausschließlich alleine zu Hause. Sie kann sich ohne ihre Tochter nicht zurechtfinden, was sich etwa daran zeigt, dass diese auch die Befragung der Mutter abwarten musste, um diese heimzubringen, obwohl sie eigentlich zur Arbeit musste. Die BF2 führte hierzu aus, dass die Mutter nicht alleine heimgehen könne (S. 19 VP). Ebenso zeigt sich das daran, dass die BF1 nicht in der Lage oder willens ist, alleine Ärzte aufzusuchen, um ihre gesundheitlichen Probleme abzuklären (S. 19 VP). Insgesamt sind aus den Angaben der BF1 keinerlei Eigenständigkeit oder sonstige Initiativen, diese zu erreichen, zu entnehmen. So gab die BF1 etwa an, sie habe zwar vom AMS Unterlagen bekommen, müsste diesen Kurs jedoch erst finden. Sie wisse nicht genau, wo das sei (S. 22 VP). Eine „westliche“ Orientierung ist daraus aber nicht einmal im Ansatz ableitbar. Das zeigt sich etwa auch daran, dass die BF1 nicht in der Lage war, anzugeben, welche Probleme sie aufgrund ihrer Lebensweise bei einer Rückkehr nach Afghanistan hätte (S. 29 VP).
Der BF1 ist eine Integration in die österreichische Gesellschaft offenbar auch kein besonderes Anliegen. So habe sie zwar eine Deutschprüfung gemacht, diese aber nicht bestanden. Sie müsse daher diesen Kurs noch einmal besuchen (S. 22 VP). Dass sie aber auch irgendwelche Schritte in diese Richtung unternimmt, ist ihrer Aussage in keiner Weise zu entnehmen.
Besonders zeigt sich die fehlende „westliche“ Orientierung der BF1 an der Schilderung der Verheiratung ihrer älteren Tochter. Nach ihren Angaben kam eine Verwandte oder Bekannte des nunmehrigen Schwiegersohnes im Iran auf die BF1 zu, ob sie ihre Tochter verheiraten wolle (S. 25 VP). Sie habe dann ihrer Tochter gesagt, dass dies eine gute Wahl sei. Die Tochter habe das auch so gesehen (S. 26 VP). Wie sich aus der Aussage der BF2 ergibt, kannte ihre Schwester den späteren Ehemann vor der Eheschließung nicht persönlich, sondern – wenn überhaupt – nur telefonisch (S. 13 VP). Auch wenn die BF1 dann weiter beteuerte, die BF2 sei noch niemandem versprochen, diese könne heiraten, wen sie möchte, da sie nicht wie die restlichen Afghaninnen sei, die bestimme, wen ihre Töchter heiraten müssten, ergibt sich aus dieser Schilderung klar, dass sie nach wie vor nach den afghanischen Verhältnissen lebt und nicht „westlich“ orientiert ist. Andernfalls würde sie die Verheiratung ihrer älteren Tochter mittlerweile durchaus kritisch sehen. Selbst aus ihrer Aussage, sie habe die BF2 noch niemandem versprochen, ist das ersichtlich. Wäre die BF1 nämlich „westlich“ orientiert, würde sie nicht nur sagen, dass sie die BF2 noch niemandem versprochen habe, sondern dass ihr das nicht zustehe, weil ihre Tochter diese Entscheidung alleine ohne ihr Zutun zu treffen habe.
Aus den Aussagen der BF1 kann damit eine „westliche“ Orientierung nicht einmal im Ansatz abgeleitet werden. Vielmehr ist sie bis auf die seltenen Kursbesuche und Einkäufe zu Hause. Sie geht kaum alleine aus dem Haus, sondern benötigt beinahe ständig die Begleitung ihrer Tochter. Lediglich mit ihren Kolleginnen aus dem Kurs trinkt sie gelegentlich Tee (S. 29 VP), während sie ansonsten am öffentlichen Leben in keiner Weise teilnimmt. Ebenfalls ist keine Selbstständigkeit der BF1 zu sehen und kleidet sich diese nach wie vor sehr traditionell. Da die BF1, wie oben näher ausgeführt, bei einer Rückkehr unter männlichem Schutz stehen würde, wäre die BF1 auch als Witwe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keiner Gefahr ausgesetzt.
Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen, deren Aneignung durch die BF2, wie auch ihren Pflichtschulabschluss, der begonnenen Ausbildung und der Tagesgestaltung der BF2 gründen weitestgehend auf ihren eigenen Angaben in Verbindung mit den vorgelegten Unterlagen. Nicht gefolgt werden kann jedoch der Aussage der BF2, dass sie jedes Wochenende ins Fitnessstudio gehe (S. 17 VP), zumal das von der BF1 nicht bestätigt wurde. Diese betonte vielmehr, dass die BF2 die Wohnung bzw. ihr Zimmer praktisch nicht verlasse (S. 29 VP).
Die BF2 ist, wie die Beschwerdeverhandlung und die darauf gegründeten Feststellungen zeigen, durchaus zielstrebig und auch eigenständig in Bezug auf ihre Ausbildung, was vom Bundesverwaltungsgericht keineswegs verkannt, sondern ausdrücklich anerkannt wird. Alleine daraus kann jedoch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts eine asylrelevante „westliche“ Orientierung noch nicht folgen. Insbesondere ist es nach den Länderfeststellungen nach einer Übergangszeit Frauen auch in Afghanistan wieder möglich Universitäten zu besuchen. Dieser Besuch ist zwar an einige Voraussetzungen geknüpft (insbesondere Trennung von Männern und Beachtung der Kleidungsvorschriften), nichtsdestotrotz ist ein solcher in Afghanistan ohne die Gefahr einer Verfolgung, vor allem an Privatuniversitäten, möglich. Auch der BF2 wäre das vor dem Hintergrund ihrer auch in Österreich getragenen Kleidung (S. 10 VP) und ihrer sonstigen Einstellung möglich und zumutbar. Die Kosten hierfür könnte die BF2 wie bereits zuvor im Iran durch die Einnahmen aus dem familiären Grundbesitz und familiärer Unterstützung (beispielsweise auch durch die Schwester und den Schwager aus Österreich) bestreiten.
Aus den sonstigen Aussagen der BF2 lässt sich eine asylrelevante „westliche“ Orientierung ebenfalls nicht ableiten. Außer ihrem Einsatz hinsichtlich ihrer Ausbildung nimmt sie nämlich im Wesentlichen nicht am öffentlichen Gesellschaftsleben teil. Sie verlässt das eigene Haus/Wohnung, abgesehen von ihrer Ausbildung, nur beim seltenen Besuch des Fitnesscenters oder dem gelegentlichen Treffen mit ihren Freundinnen, die aus ihrem Kulturkreis stammen. Einen größeren gemischtgeschlechtlichen Freundeskreis aus verschiedenen Kulturen hat die BF dagegen nicht.
Auch sonst sind aus der Aussage der BF2 keine besonderen Anstrengungen zur Integration in die Gesellschaft ersichtlich. Ebenso wenig ist dieser sonst eine „westliche“ Orientierung zu entnehmen, die sie bereits verinnerlicht hätte und einer Rückkehr entgegenstehen würde. Die BF2 schilderte auf die Frage nach ihren Fluchtgründen etwa nicht von selbst ihre Meinung zu Frauenrechten und den Umgang der Taliban damit, sondern fragte zunächst nach, ob sie ihre Meinung sagen dürfe. Auch dieser Umstand spricht gegen eine verinnerlichte „westliche“ Orientierung, zumal sie ansonsten nicht erst hätte nachfragen müssen. Vielmehr hätte sie ihre Meinung von sich aus kundgetan. Die Aussage der BF wirkte dadurch zudem aufgesetzt und vorbereitet, nicht aber als Darstellung ihrer tatsächlichen inneren Einstellung.
Wie bei der BF1 spricht auch bei der BF2 ihre Einstellung zu den Umständen der Heirat ihrer Schwester gegen eine „westliche“ Orientierung. Vor dem BFA befragt, sagte sie dazu noch aus, dies sei ihre Tradition. Man sage ja und lerne dann den Partner kennen (BS 5). Vor dem Bundesverwaltungsgericht schilderte die BF2 ebenso, dass ihre Schwester von ihrer Mutter in die Ehe gegeben worden sei, auch wenn die Schwester dann zugestimmt habe. Neuerlich berief sie sich dabei auf die Tradition (S. 12f VP) und verurteilte diese Vorgehensweise nicht einmal ansatzweise. Die BF2 hat damit offensichtlich über diese Art der Eheschließung noch nicht ausreichend reflektiert. Sie befürwortet nach wie vor ein System, in dem zunächst bei den Eltern für den der Braut im Wesentlichen unbekannten Bräutigam um deren Hand angehalten wird. Nur wenn diese zustimmen, sollte dann aus ihrer Sicht zusätzlich die zukünftige Braut gefragt werden. Die BF2 hat, wie aus ihrer Aussage (S. 13 VP) zu schließen ist, auch kein Problem damit, wenn sich die Eheleute vor der Eheschließung noch nie gesehen, sondern nur miteinander telefoniert haben. Ein solches Eheverständnis entspricht aber nicht dem heutzutage im westlichen Europa Gelebten und einer „westlichen“ Orientierung.
Die BF2 hat damit durchaus erfolgreiche und anerkennenswerte Schritte im Bereich der Bildung gesetzt, ansonsten hat sie jedoch keine Schritte zu einer „westlichen“ Orientierung getan. Im Gegenteil, ist sie außer bei ihrer Ausbildung zu Hause und tritt nicht in der Öffentlichkeit auf, bis auf gelegentliche Besuche im Fitnessstudio oder bei Treffen mit Freundinnen. Daneben hängt die BF2 alten afghanischen Traditionen (vor allem bei der Eheschließung) an, die die Freiheiten von Frauen einschränken. Auch das Kopftuch hat sie in Österreich noch nicht abgelegt. Bei einer Rückkehr würde und könnte sie sich deshalb durchaus in das System einfügen, ohne ihre Identität zu verleugnen, könnte dennoch ihre universitäre Ausbildung fortsetzen und wieder – wie teils schon zuvor – sportliche Betätigungen zu Hause trainieren.
Zusammengefasst konnten damit weder die BF1 noch die BF2 eine derartige „westliche“ Orientierung glaubhaft machen, die sie unter dem Talibanregime einer Verfolgung aussetzen würde. Dagegen kann auch nicht eingewendet werden, dass die BF2 Fußballfan sein will, zumal sie diese Sportart selbst nicht ausübt, sondern nur fallweise wichtige Spiele zu Hause anschaut. Dabei sind ihr auch die Spielernamen ihres Lieblingsteams nicht sehr geläufig (S. 18 VP). Abgesehen davon, dass ihr das Zusehen mit einem Smartphone auch in Afghanistan möglich wäre, wäre selbst eine Verweigerung der Verfolgung des Fußballgeschehens kein asylrelevanter Grund.
III.4. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u.a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingetreten ist.
Die BF sind diesen Berichten nicht entgegengetreten (S. 16 VP). Die in der Stellungnahme vorgelegten Berichte, auf die in der Beschwerdeverhandlung verwiesen wurde, schildern die Lage für Frauen übereinstimmend mit den hier getroffenen Feststellungen. Teils sind sie zudem nicht (gänzlich) entscheidungsrelevant, zumal es sich bei den BF – entgegen ihren Aussagen – nicht um alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz handelt. Vielmehr leben in Afghanistan noch mehrere männliche Verwandte und Bekannte, nicht zuletzt auch die Schwiegereltern der älteren Tochter der BF1, unter deren Schutz sie sich stellen können (siehe oben III.3.). Es haben sich daher keine Zweifel an der Richtigkeit der verwendeten Länderinformationen ergeben.
IV. Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, was im gegenständlichen Verfahren nicht der Fall ist.
Es handelt sich gegenständlich um kein Familienverfahren nach § 34 AsylG, da die BF2 bereits bei der Einreise volljährig war. Aus Zweckmäßigkeitsgründen, insbesondere aufgrund des zumindest teilweise gleichen Vorbringens, waren die Verfahren jedoch gemäß § 17 VwGVG iVm § 39 Abs. 2 AVG zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung zu verbinden.
IV.1. Zu Spruchpunkt A)
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge dieser Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472; 29.01.2020, Ra 2019/18/0228).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Mitbeteiligte bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn daher der Fremde im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, dass er im Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (Aktualität der Verfolgung; vgl. VwGH 06.04.2020, Ra 2019/01/0443; 25.09.2018, Ra 2017/01/0203).
Im gegenständlichen Fall sind diese Voraussetzungen, nämlich eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wie oben beweiswürdigend ausführlich dargelegt, nicht gegeben, zumal sie ihr Vorbringen nicht glaubhaft machen konnten und auch nicht „westlich“ orientiert sind.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bis zur Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt jedoch dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte. Auf ein intellektuelles Durchdringen des Wesens der Grundfreiheiten von Frauen kommt es hingegen nicht an (VwGH 15.09.2021, Ra 2021/18/0143).
Zur Situation von Frauen unter dem Taliban-Regime von 1996 bis 2001 judizierte der Verwaltungsgerichtshof, dass die Eingriffe der Taliban in die Lebensbedingungen der afghanischen Frauen in ihrer Gesamtheit ein derartiges Ausmaß erreichten, dass ohne Zweifel einer der Fälle vorlag, in denen eine Summe von Vorschriften gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe in Verbindung mit der Art ihrer Durchsetzung von insgesamt so extremer Natur war, dass die Diskriminierung das Ausmaß einer Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention erreichte. Wesentlich hatte der Verwaltungsgerichtshof damals vor allem auf die systematische Behinderung der medizinischen Versorgung und das Fehlen von Ausnahmen von den verordneten Regeln hingewiesen, was zumindest im Umkreis der zuvor auch der weiblichen Bevölkerung zugänglichen Einrichtungen eine unmittelbare Bedrohung des Lebens bedeutete (VwGH 20.06.2002, 99/20/0172; 16.04.2002, 99/20/0483). Diese Rechtsprechung hat er auch in den letzten Jahren hinsichtlich von den Taliban beherrschten Gebieten aufrecht gehalten. Demnach können in den von Taliban beherrschten Regionen die gegenüber Frauen verhängten Einschränkungen und Beschränkungen des täglichen Lebens gepaart mit den bei Zuwiderhandlung vollzogenen drakonischen Strafen als Verfolgung im Sinne der GFK qualifiziert werden (VwGH 22.02.2018, Ra 2017/18/0357).
Die Länderfeststellungen legen nicht dar, dass Frauen allein aufgrund ihrer Eigenschaft als Frauen in Afghanistan Verfolgung fürchten müssten. Den Länderberichten ist aber zu entnehmen, dass mit der Machtübernahme der Taliban die früheren vor allem in städtischen Regionen vorherrschenden Freiheiten für Frauen nicht mehr in diesem Ausmaß bestehen. Vielmehr sind die Rechte der Frauen weiter beschränkt worden, auch wenn diese nach anfänglichen Schwierigkeiten durch die Machtübernahme durchaus wieder Zugang zu Bildung haben. Dementsprechend muss auch ein geringeres Ausmaß an „westlicher“ Orientierung ausreichen, um nunmehr asylrechtlich relevante Verfolgung zu begründen. Die BF konnten allerdings auch unter diesem Maßstab keine „westliche“ Orientierung glaubhaft darlegen.
Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. waren daher abzuweisen.
IV.2. Zu Spruchpunkt B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Ob den BF der Status der Asylberechtigten zu gewähren ist, ist – unter Beachtung der vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien insbesondere zur „westlichen“ Orientierung – eine Tatfrage, zu deren Lösung der Verwaltungsgerichtshof nicht berufen ist.
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