BVwG W236 2238612-1

BVwGW236 2238612-113.12.2021

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:W236.2238612.1.00

 

Spruch:

 

W236 2238612-1/17EW236 2238609-1/9EW236 2238610-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Lena BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1) XXXX (auch XXXX ) XXXX , geb. XXXX ,

2) XXXX , geb. XXXX ,

3) XXXX (auch XXXX ) XXXX , geb. XXXX ,

alle StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 09.12.2020, Zlen.

1) 732649303-200432515,

2) 732648709-200432370,

3) 732649009-200432582,

nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.09.2021 zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern der Drittbeschwerdeführerin (alle gemeinsam werden als Beschwerdeführer bezeichnet). Die Beschwerdeführer sind russische Staatsangehörige und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe.

2. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin reisten gemeinsam mit der damals minderjährigen, nunmehr volljährigen Drittbeschwerdeführerin und ihren beiden damals minderjährigen, inzwischen volljährigen Söhnen (Beschwerdeführer zu 2238452-1 und 2238450-1) im August 2003 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten für sich selbst sowie ihre mitgereisten minderjährigen Kinder Asylanträge. In der Folge wurde dem Erstbeschwerdeführer mit Bescheid des damals zuständigen Unabhängigen Bundesasylsenates vom 11.05.2007, ZI. 247.928/7/10E-XII/37/06, gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG), BGBl. I Nr. 76/1997, originär Asyl gewährt. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der Erstbeschwerdeführer am ersten Tschetschenienkrieg teilgenommen habe, Kommandant einer Gruppe von Freiheitskämpfern gewesen sei und für Maschadow gearbeitet habe; im zweiten Tschetschenienkrieg habe er die Freiheitskämpfer unterstützt, indem er Verwundete zum Arzt gebracht und an Meetings teilgenommen habe. Der Erstbeschwerdeführer sei den staatlichen Behörden als Widerstandskämpfer und Unterstützer tschetschenischer Widerstandskämpfer namentlich bekannt und konkret in das Blickfeld der russischen Behörden gelangt; im Fall einer Rückkehr habe er in seiner Herkunftsregion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit weiteren Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Die Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation sei aufgrund der in der Regel verweigerten, für die legale Wohnsitznahme und Zugang zu Beschäftigung und Sozialleistungen erforderlichen Registrierung, sowie der im Allgemeinen fremdenfeindlichen Haltung der Behörden und der Bevölkerung Tschetschenen gegenüber unmöglich bzw. unzumutbar. Der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin wurde (ebenso wie den beiden Söhnen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin) mit Bescheiden vom selben Tag jeweils gemäß § 7 iVm § 10 AsylG durch Erstreckung über den Erstbeschwerdeführer Asyl gewährt. Die Zweitbeschwerdeführerin bezog sich im Verfahren auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers, für die Drittbeschwerdeführerin wurden ebenfalls keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

3. In Folge der Erteilung von Aufenthaltstiteln „Daueraufenthalt – EU“ an die Beschwerdeführer leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl per 27.05.2020 Verfahren zur Aberkennung des den Beschwerdeführern gewährten Status der Asylberechtigten ein. Am 14.09.2020 wurden die Beschwerdeführer niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer gab dabei zusammengefasst an, an Diabetes, Thrombose und Darmkrebs zu leiden, im Krieg verletzt worden zu sein und den linken Arm nicht bewegen zu können sowie in den unteren Extremitäten Folgeschäden zu haben und außerdem Folgeschäden eines Schädelhirntraumas zu haben; ihm sei in Österreich 70% Invalidität 2. Grades zuerkannt worden und er sei nicht arbeitsfähig. Seine in Tschetschenien lebende Schwester stehe seit seiner Ausreise aus der Russischen Föderation unter Kontrolle der Kadyrow-Leute; der Erstbeschwerdeführer sei politischer Aktivist und nehme in Österreich an Demonstrationen gegen Putin und Kadyrow teil. Er habe zu vielen Leuten aus dem Widerstand Kontakt und habe unter anderem auch Kontakt zum ermordeten „ XXXX “ gehabt. Er sei geheimes Mitglied der Exilregierung; er sei im Rahmen seiner Tätigkeit verantwortlich für die Sicherheit der Tschetschenen, indem er kontrolliere, wer für Putin und wer für Kadyrow arbeite. Im Fall einer Rückkehr nach Tschetschenien würde er sofort beseitigt werden; auch in anderen Teilen der Russischen Föderation würde man ihn sofort verhaften. Er werde auch in Österreich verfolgt, wozu er auf seine Angaben vor dem Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (in der Folge: LVT) verweise, für welches er Informationen sammle. Die Zweitbeschwerdeführerin erklärte im Wesentlichen, Tabletten gegen Bluthochdruck und aufgrund ihrer Herzrhythmusstörungen zu nehmen; sie sei arbeitsfähig. In Tschetschenien habe sie elf Jahre die Schule besucht, eine Ausbildung als Lehrerin gemacht, und bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2003 rund sechzehn Jahre als Lehrerin gearbeitet; daneben habe sie 1997 ihr Fernstudium Pädagogik, Russisch und Psychologie abgeschlossen. In Tschetschenien würden nach wie vor ihre Geschwister leben; die wirtschaftliche Situation sei dort schlecht. Für den Fall einer Rückkehr habe sie Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Erstbeschwerdeführer; alle Probleme würden an diesem hängen. Die Drittbeschwerdeführerin gab ebenfalls an, dass im Fall einer Rückkehr eine Gefahr wegen des Erstbeschwerdeführers bestehe.

4. Mit Stellungnahme vom 21.09.2020 brachte der Erstbeschwerdeführer vor, in Österreich nach wie vor exilpolitisch tätig zu sein und seine Informationen an die Exilregierung weiterzuleiten. Er beteilige sich auch an politischen Prozessen der Exilregierung in Österreich und nehme an Besprechungen teil. Relevante Neuigkeiten, die ihm aus Tschetschenien berichtet würden, habe er nicht nur an seine Regierung, sondern auch an in Europa tätige Blogger weitergeleitet. So sei er mit dem ermordeten „ XXXX “ in engem Kontakt gestanden und bereits vor zwei Jahren gemeinsam mit diesem bedroht worden. Er sei durch seine Tätigkeit der Informationsweitergabe neuerlich ins Visier Kadyrows geraten; im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation würde er den Behörden schon vor seiner Ankunft am Flughafen auffallen, wobei die zu erwartende Befragung angesichts der Länderinformationen schon den Verfolgungsbegriff erfüllen würde. Weiters sei wahrscheinlich, dass er nach der Befragung an den russischen Geheimdienst (FSB) überstellt werde, wo die Befragungsmethoden jedenfalls den Grad der Folter übersteigen würden. Eine solche Befragung könnte er angesichts seines Gesundheitszustands nicht überleben. Generell fehle eine adäquate Behandlungsmöglichkeit seiner Krebserkrankung in der Russischen Föderation.

5. Am 29.10.2020 wurde der Erstbeschwerdeführer neuerlich niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Dabei erklärte er zusammengefasst, nach wie vor an den zuvor erwähnten Erkrankungen zu leiden und nunmehr auch in psychotherapeutischer Behandlung zu stehen. Zu seiner Tätigkeit der Informationsweitergabe erörterte er, dass Kadyrow in Tschetschenien geheime Gefängnisse habe, wo Menschen gefoltert würden. Sie würden von alten Bekannten aus Tschetschenien und Mitarbeitern von Kadyrow Informationen über die Tätigkeiten von Kadyrow erhalten, um sie in Österreich an Blogger zu geben; seit etwa zehn Jahren gehe er dieser Tätigkeit nach. Die Blogs würden offiziell auf YouTube veröffentlicht. Vor einigen Monaten sei ein Blogger aus Frankreich getötet worden. Er selbst sei zuletzt vor einem halben Jahr bedroht worden, was er auch der Polizei mitgeteilt habe, und zwar von Kadyrows geheimem Vertreter in Österreich, weil er Informationen an Blogger weitergebe. Ihm sei gesagt worden, dass seine Verwandten im Herkunftsstaat Probleme bekommen würden, wenn er sich nicht beruhige.

6. Mit den oben genannten, gegenständlich angefochtenen Bescheiden vom 09.12.2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Beschwerdeführern den ihnen zuerkannten Status der Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkte I.), erkannte ihnen gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkte II.) und erteilte ihnen gemäß § 57 AsylG 2005 keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkte III.).

Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin in der Russischen Föderation eine ausreichende medizinische Behandlung ihrer nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen möglich sei. Das Vorbringen hinsichtlich einer aktuellen Bedrohung des Erstbeschwerdeführers in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation sei – näher begründet – nicht glaubhaft; die Beschwerdeführer seien im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation keiner persönlichen Gefährdungslage ausgesetzt. Es sei den Beschwerdeführern auch möglich, ihren Lebensunterhalt in der Russischen Föderation zu bestreiten; es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass sie dort in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse einer existenzbedrohenden Situation ausgesetzt wären.

7. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht am 11.01.2021 gleichlautende Beschwerden.

Begründend wird zusammengefasst dargelegt, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bei der Beweiswürdigung zur Unglaubhaftigkeit des Vorbringens des Erstbeschwerdeführers hinsichtlich seiner Rückkehrbefürchtungen im Zusammenhang mit seiner exilpolitischen Tätigkeit in Österreich nicht berücksichtigt habe, dass der Erstbeschwerdeführer aufgrund eines schweren Schädelhirntraumas unter schwersten Konzentrationsstörungen leide und nur eingeschränkt in der Lage sei, Ereignisse zeitlich einzuordnen. Bereits im Verfahren über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei festgestellt worden, dass der Erstbeschwerdeführer für den damaligen Präsidenten Maschadow gearbeitet habe und in dessen Auftrag Verwundete mit Wohnraum versorgt habe; zum damaligen Zeitpunkt sei der Erstbeschwerdeführer – wie auch sein ebenfalls in Österreich als Flüchtling anerkannter Bruder – auf den Fahndungslisten der Föderativen Sicherheitskräfte gestanden. Im nunmehrigen Verfahren sei kein Beweisergebnis entstanden, das darauf hinweisen würde, dass der Erstbeschwerdeführer in der Zwischenzeit amnestiert worden wäre oder die Fahndung auf sonstige Weise beendet worden wäre. Der Nachweis einer wesentlichen Veränderung oder gar Verbesserung der Verfolgungssituation des Erstbeschwerdeführers sei daher nicht gelungen. Zudem habe der Erstbeschwerdeführer Kontakt zu dem in Belgien ermordeten Blogger „ XXXX “ und dem in Österreich ermordeten Blogger „ XXXX “ gehabt; beide seien vom Erstbeschwerdeführer regelmäßig mit Informationen aus dem Regime Kadyrow versorgt worden. Auch beteilige sich der Erstbeschwerdeführer an Demonstrationen gegen Kadyrow und sei auch in der Exilregierung bzw. der für Österreich zuständigen „Abteilung“ politisch tätig. Es sei davon auszugehen, dass derartige Großveranstaltungen der Opposition sowohl von den russischen Geheimdiensten als auch von Kadyrow-nahen Personen beobachtet würden. Der Erstbeschwerdeführer sei wegen seiner Tätigkeiten schon lange bedroht worden und habe aufgrund der Ermordung des in Belgien ermordeten Bloggers den Kontakt mit dem LVT gesucht und diesem auch Informationen über Teams aus Tschetschenien, welche mit der Ermordung des Bloggers „ XXXX “ beauftragt gewesen seien, gegeben; am Tag der Ermordung des „ XXXX “ in Österreich sei der Erstbeschwerdeführer beim LVT gewesen und habe versucht, die Beamten zu warnen, dass die Ermordung unmittelbar bevorstehe, was leider zu spät gewesen sei. Die zitierten Länderberichte würden bestätigen, dass exilpolitisch tätige Personen mit Verfolgung zu rechnen hätten; der Erstbeschwerdeführer befürchte daher für den Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation zu Recht seine Festnahme, sein Verhör unter Folter und möglicherweise seine Verurteilung zu einer überlangen Haftstrafe. Weiters leide das tschetschenische Gesundheitssystem unter extremer Korruption, was dazu führe, dass Patienten zu allen Behandlungen zumindest dazuzahlen müssten. Auch hinsichtlich der Corona-Lage bleibe der Bescheid Ausführungen schuldig, warum der Erstbeschwerdeführer, der zu einer extrem gefährdeten Gruppe gehöre, angesichts der völlig aus dem Ruder gelaufenen Corona-Situation in der Russischen Föderation dort nicht unmittelbar vom Tod bedroht sei.

8. Mit Stellungnahme vom 04.08.2021 brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass er aufgrund seiner Informationsweitergabe an Blogger in Österreich bedroht worden sei und auch auf andere Weise, insbesondere durch Teilnahme an Demonstrationen gegen Kadyrow und politische Tätigkeit in der Exilregierung, regimekritisch tätig sei. Das Regime Kadyrows sei gewillt, alle Menschen aus der Diaspora zu überwachen und zu bestrafen; die aktuellen Länderberichte der Staatendokumentation würden diese Einschätzung bestätigen. Der Erstbeschwerdeführer befürchte daher zu Recht seine Festnahme und sein Verhör unter Folter sowie möglicherweise seine Verurteilung zu einer überlangen Haftstrafe. Außerdem fehle eine adäquate Behandlung der Krebserkrankung des Erstbeschwerdeführers in der Russischen Föderation.

9. Am 01.09.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache sowie der (ausschließlich auf die mündliche Verhandlung bezogenen) Rechtsvertretung des Erstbeschwerdeführers statt, in welcher die Beschwerdeführer ausführlich zu ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen befragt wurden.

10. Mit Parteiengehör vom 22.11.2021 wurde dem Erstbeschwerdeführer Gelegenheit gegeben, zum Ergebnis der vom Bundesverwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme (insbesondere zum Verein „ XXXX “ und den vom Erstbeschwerdeführer erwähnten Aussagen vor dem LVT) sowie dem aktuellsten, am 17.11.2021 veröffentlichten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 4, Stellung zu nehmen. Diese Möglichkeit nahm der Erstbeschwerdeführer mit Schreiben vom 02.12.2021 wahr.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Aufgrund der Asylanträge, der Einvernahmen insbesondere des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie durch das Bundesasylamt und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der Bescheide, der Einsichtnahmen in die bezughabenden Verwaltungs- und Gerichtsakten, der Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister, das Grundversorgungs-Informationssystem und das Strafregister sowie insbesondere auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung am 01.09.2021 werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zum wesentlichen Verfahrensgang:

Dem Erstbeschwerdeführer wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 11.05.2007 gemäß § 7 AsylG originär Asyl gewährt, was zusammengefasst mit der ihm drohenden Verfolgung aufgrund seiner aktiven Teilnahme als tschetschenischer Widerstandskämpfer am ersten Tschetschenienkrieg, in dem er Kommandant einer Gruppe von Freiheitskämpfern gewesen sei und für Maschadow gearbeitet habe, sowie seiner Unterstützung von tschetschenischen Widerstandskämpfern im zweiten Tschetschenienkrieg begründet wurde. Der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin wurde mit Bescheiden vom selben Tag jeweils gemäß § 7 iVm § 10 AsylG durch Erstreckung über den Erstbeschwerdeführer Asyl gewährt; sie bezogen sich auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers.

Den Beschwerdeführern wurden im Februar 2020 rechtskräftig Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, erteilt.

Mit Bescheiden vom 09.12.2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Beschwerdeführern den ihnen zuerkannten Status der Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkte I.), erkannte ihnen gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkte II.) und erteilte ihnen gemäß § 57 AsylG 2005 keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkte III.).

Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht am 11.01.2021 gleichlautende Beschwerden.

1.2. Zu den Personen der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und führen die im Spruch ersichtlichen Personalien. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet (1997 traditionelle Eheschließung in Tschetschenien, 2004 standesamtliche Eheschließung in Österreich) und Eltern der Drittbeschwerdeführerin.

Der Erstbeschwerdeführer ist auf dem Gebiet des heutigen Kasachstan geboren, aber ab dem vierten Lebensjahr in Tschetschenien aufgewachsen. Er besuchte in Tschetschenien acht Jahre die Schule und arbeitete als Hilfsarbeiter auf Baustellen und als Chauffeur. Er beherrscht Russisch und Tschetschenisch. Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Tschetschenien geboren und aufgewachsen. Sie besuchte dort elf Jahre die Schule, schloss ein pädagogisches College ab, studierte Pädagogik, Russisch und Psychologie an einer Universität und arbeitete rund sechzehn Jahre als Lehrerin. Die Drittbeschwerdeführerin ist in Tschetschenien geboren. Sie beherrscht Tschetschenisch und unterhält sich mit ihren Eltern auf Tschetschenisch. Sie verfügt über grundlegende passive Russischkenntnisse und kann die kyrillische Schrift lesen, aktiv kann sie jedoch nicht Russisch sprechen. Ab dem Jahr 2000 lebten die Beschwerdeführer bis zu ihrer Reise nach Österreich im Jahr 2003 in Inguschetien. In Tschetschenien leben nach wie vor zwei Brüder und vier Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin, die zu diesen Familienangehörigen Kontakt hat.

Die Beschwerdeführer leben seit ihrer Einreise im August 2003 durchgehend in Österreich. Der Erstbeschwerdeführer besuchte Deutschkurse; er kann sich in sehr einfachem Deutsch ausdrücken. Er ging in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach. Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte ebenfalls Deutschkurse, absolvierte die Deutschprüfung auf dem Niveau A2 und kann sich in einfachem Deutsch unterhalten. Sie arbeitete in Österreich als Küchengehilfin, Putzfrau und Näherin. Die Drittbeschwerdeführerin absolvierte ihre gesamte bisherige Schulbildung in Österreich und beherrscht Deutsch; sie schloss eine Handelsschule ab und besucht derzeit eine Abendschule, um die Matura zu machen. Sie arbeitet im Kundenservice eines Versicherungsunternehmens.

Der Erstbeschwerdeführer bezieht in Österreich Pflegegeld in Höhe der Stufe 2. Er leidet an arterieller Hypertonie, Diabetes Mellitus Typ 2, Hyperlipidämie, Hepatitis C, Schmerzen am rechten Knie, Anpassungsstörung F43.2 und andauernder Persönlichkeitsänderung nach Extremtrauma F62.0. Der Erstbeschwerdeführer ist am linken Arm deutlich bewegungseingeschränkt; weiters bestehen Einschränkungen seiner Aufmerksamkeit, Auffassung und Merkfähigkeit. Der Erstbeschwerdeführer steht hinsichtlich seiner Erkrankungen in ärztlicher, psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung. Der Erstbeschwerdeführer litt im Jahr 2018 an Darmkrebs, bezüglich dessen er Chemotherapie erhielt und operiert wurde; derzeit ist er krebsfrei und bedarf regelmäßiger Kontrolluntersuchungen. Die Zweitbeschwerdeführerin leidet an Osteochondrose, arterieller Hypertonie, bezüglicher derer sie in medikamentöser Behandlung steht, Zysten an Bauchspeicheldrüse, Leber und Nieren, welche einmal jährlich kontrolliert werden, und Herzrhythmusstörungen, die medikamentös behandelt werden. Sie ist arbeitsfähig. Die Erkrankungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sind in der Russischen Föderation behandelbar; der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben in der Russischen Föderation Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Drittbeschwerdeführerin ist gesund und arbeitsfähig.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.3. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten, einer allfälligen Verfolgungsgefahr der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation zum Entscheidungszeitpunkt und einer möglichen Rückkehr dorthin:

Die Umstände, aufgrund derer dem Erstbeschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, bestehen wegen einer dauerhaften und grundlegenden Änderung der Lage in der Russischen Föderation nicht mehr.

Der Erstbeschwerdeführer hatte in Österreich Kontakt mit dem LVT und gab dort Informationen betreffend die tschetschenische Community in Österreich weiter. Er ist in Österreich Mitglied des Vereins „ XXXX “, an dessen Versammlungen er teilnimmt, und beteiligt sich auch zwei- bis dreimal im Jahr an Demonstrationen des Vereins „ XXXX “. Der Erstbeschwerdeführer nimmt im Verein „ XXXX “ bzw. im Rahmen seines dortigen Engagements keine exponierte Stellung ein, die ihn einer Gefährdung für den Fall einer Rückkehr nach Tschetschenien aussetzen würde. Er wurde in Österreich aufgrund seines Kontaktes mit dem LVT und/oder seiner Tätigkeit im Verein „ XXXX “ nicht bedroht. Der Erstbeschwerdeführer arbeitete nicht mit Bloggern zusammen, die aufgrund ihrer Kritik am tschetschenischen Regime ermordet wurden. Den Beschwerdeführern drohen aus dem Grund der Aktivitäten des Erstbeschwerdeführers in Österreich im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ungerechtfertigte konkrete und individuelle physische und/oder psychische Eingriffe erheblicher Intensität in ihre persönliche Sphäre.

Die Beschwerdeführer sind im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien nicht gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, nicht von der Todesstrafe bedroht und würden nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten.

Auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie stellt kein Rückkehrhindernis dar. COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichten (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 3) wiedergegeben:

„Covid-19-Situation

Letzte Änderung: 18.05.2021

Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO (https://covid19.who.int/region/euro/country/ru ). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).

Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon-alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).

Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac ('Sputnik V'), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).

Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).

Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).

Moskau:

In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vgl. WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vgl. Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).

[…]

Tschetschenien:

An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).

[…]

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.2.2021): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536 , Zugriff 16.3.2021

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 KMS – Kommersant (10.2.2021): Кадыров отменил обязательный масочный режим в Чечне [Kadyrow hob die Maskenpflicht in Tschetschenien auf], https://www.kommersant.ru/doc/4683493 , Zugriff 15.3.2021

 LM – Le Monde (8.2.2021): En Russie, le Covid-19 a alimenté une hausse brutale de la mortalité en 2020 [In Russland hat Covid-19 für einen brutalen Anstieg der Sterberaten im Jahr 2020 gesorgt], https://www.lemonde.fr/international/article/2021/02/08/en-russie-le-covid-19-a-alimente-une-hausse-brutale-de-la-mortalite-en-2020_6069228_3210.html , Zugriff 12.3.2021

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Politische Lage

Letzte Änderung: 26.05.2021

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).

Quellen:

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 CIA – Central Intelligence Agency [USA] (5.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/ , Zugriff 16.2.2021

 Cicero (22.2.2021): EU bringt wegen Nawalny neue Russland-Sanktionen auf den Weg, https://www.cicero.de/aussenpolitik/vermoegenssperren-einreiseverbote-eu-alexej-nawalny-russland-sanktionen , Zugriff 24.2.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 10.3.2020

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 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 16.2.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/ , Zugriff 16.2.2021

 Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm , Zugriff 10.3.2020

 Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau , Zugriff 10.3.2020

 MDR - Mitteldeutscher Rundfunk (16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html , Zugriff 21.7.2020

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 Presse.com (10.12.2020): EU verlängerte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, https://www.diepresse.com/5909916/eu-verlangerte-wirtschaftssanktionen-gegen-russland , Zugriff 24.2.2021

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 Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html , Zugriff 10.3.2020

 Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau , Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 26.05.2021

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnenTschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020).

In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021).

Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.2.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html , Zugriff 3.3.2020

 NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435?reduced=true , Zugriff 11.3.2020

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf , Zugriff 10.3.2020

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 17.2.2021

 SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf , Zugriff 10.3.2020

[…]

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 26.05.2021

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).

In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (7.4.2021a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536#content_0 , Zugriff 7.4.2021

 BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (8.2.2021): Analyse: Söldner im Dienst autoritärer Staaten: Russland und China im Vergleich, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/327198/soeldner-im-dienst-autoritaerer-staaten , Zugriff 8.4.2021

 Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824 , Zugriff 7.4.2021

 Deutschlandfunk (29.9.2020): An Russland kommt im Nahen Osten niemand mehr vorbei, https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-russischer-militaereinsatz-in-syrien-an.724.de.html?dram:article_id=484951 , Zugriff 8.4.2021

 DW - Deutsche Welle (29.9.2020): Russland im Syrien-Krieg: Gekommen, um zu bleiben, https://www.dw.com/de/russland-im-syrien-krieg-gekommen-um-zu-bleiben/a-55096554 , Zugriff 8.4.2021

 EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (7.4.2021): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html#par_textimage , Zugriff 7.4.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170 , Zugriff 7.4.2021

 SN - Salzburger Nachrichten (15.10.2020): Terrorzelle in Russland ausgeschaltet, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/terrorzelle-in-russland-ausgeschaltet-94250941 , Zugriff 8.4.2021

 SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 7.4.2021

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 26.05.2021

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).

[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).

Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 8.4.2021

 ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424 , Zugriff 9.4.2021

 Caucasian Knot (2.7.2020a): In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51356/ , Zugriff 8.4.2021

 Caucasian Knot (2.7.2020b): In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51357/ , Zugriff 8.4.2021

 Caucasian Knot (27.10.2020): In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52582/ , Zugriff 8.4.2021

 Caucasian Knot (24.12.2020): 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53177/ , Zugriff 8.4.2021

 Caucasian Knot (20.2.2021): In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53738/ , Zugriff 8.4.2021

 Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824 , Zugriff 9.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 8.4.2021

 SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf , Zugriff 9.4.2021

 SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 8.4.2021

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 26.05.2021

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2020). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020)

Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2020). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen von Ende 2018, rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen, und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen. Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 6.2020).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2020). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021). Mit Ende 2019 waren beim EGMR 15.050 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2019 wurde die Russische Föderation in 186 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2020).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 2.2.2021).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.3.2021

 AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 23.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 23.3.2021

 BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf , Zugriff 17.5.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 23.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 23.3.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 23.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 23.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 23.3.2021

Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 26.05.2021

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Die Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternative Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für die Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 2.2.2021). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechtssysteme einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagt' lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben. Er kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 6.2020). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 6.2020). Die föderalen Behörden haben nur begrenzte Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Tschetschenien zu treffen, wo das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow im Gegenzug für das Halten der Republik in der Russischen Föderation unkontrollierte Macht erlangt hat (FH 3.3.2021).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 6.2020). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 2.2.2021), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 6.2020) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan überworfen haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Elena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021). Kritik und Dissens werden nicht geduldet (HRW 13.1.2021).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige werden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 1990er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 2.2.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 8.4.2021

 CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX , Zugriff 8.4.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 8.4.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf , Zugriff 8.4.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, https://www.ecoi.net/en/file/local/1394622/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 8.4.2021

 FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 8.4.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 8.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 8.4.2021

 ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

 SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf , Zugriff 8.4.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 8.4.2021

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 28.05.2021

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamte, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 3.3.2021; vgl. AI 16.4.2020, HRW 13.1.2021).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden gegen Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 2.2.2021). Am 13.5.2020 wurde von der Regierung der Russischen Föderation ein Antrag auf Änderung des Polizeigesetzes in die russische Duma eingebracht, welche zu einer erheblichen Ausweitung von Polizeibefugnissen führt (Gebrauch der Schusswaffe bei einer Festnahme, Aufbrechen von Fahrzeugen, Absperren von Bereichen, etc.) (ÖB Moskau 6.2020).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Rebellenkämpfern. Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Gründung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Bedienstete. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramsan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch 'ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben' (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem 'langen Arm' des Regimes von Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs etwa auch in Moskau präsent. Sie berichten von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von LGBTI-Personen, die gegen ihren Willen nach Tschetschenien zurückgeholt worden sind (AA 2.2.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 24.3.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, https://www.ecoi.net/en/file/local/1394622/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 24.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 24.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 24.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 24.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 24.3.2021

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 28.05.2021

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Art. 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. EASO 3.2017). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugsbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 6.2020; vgl. EASO 3.2017, AA 2.2.2021). Folter ist jedoch noch immer allgegenwärtig, und die Täter bleiben häufig straffrei (AI 16.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020).

Immer wieder gibt es auch Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020). Laut Amnesty International und dem russischen 'Komitee gegen Folter' kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 2.2.2021). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtlichen Tötungen. Ramsan Kadyrow lässt solche Formen von Gewalt anwenden, um die Kontrolle über die Republik Tschetschenien zu behalten. Diese Aktivitäten finden manchmal über die Grenzen Russlands hinaus statt (FH 3.3.2021).

Im August 2018 veröffentlichte die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta Videos von Wachen, die in Jaroslawl Gefangene organisiert prügelten. Die Behörden verhafteten nach einem öffentlichen Aufschrei mindestens 12 Gefängniswachen, aber die NGO Public Verdict berichtete schon im Dezember 2018 über systematische Misshandlung in einem anderen Gefängnis in der Region. Im Juli 2019 veröffentlichte Public Verdict ein weiteres Video, das anhaltende Misshandlungen in Jaroslawl zeigt. Im November 2020 verurteilten Gerichte elf Gefängniswärter wegen Folter und verurteilten sie zu drei bis vier Jahren Haft. Die Gefängnisdirektoren wurden freigesprochen (FH 3.3.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 23.3.2021

 EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 23.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 23.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 23.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 23.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 23.3.2021

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Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 28.05.2021

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegende Zahl der anhängigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Stärkung des Gerichtshofs (GIZ 1.2021a). Die Verfassung postuliert die Russische Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Für die Russische Föderation gibt es, wie für jedes der Föderationssubjekte, einen Menschenrechtsbeauftragten. Die Amtsinhaberin Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland hat folgende UN-Übereinkommen ratifiziert (AA 2.2.2021):

 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

 Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

 Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

 Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

 Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

 Behindertenrechtskonvention (AA 2.2.2021).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 309 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat 94 dieser Empfehlugen nicht angenommen und weitere 34 lediglich teilweise angenommen. Die nächste Sitzung für Russland im UPR-Verfahren wird im Mai 2023 stattfinden. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert. Finanzielle Entschädigungen werden üblicherweise gewährt, dem vom EGMR monierten Umstand aber nicht abgeholfen [Anm.: Zur mangelhaften Umsetzung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 2.2.2021). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 6.2020).

Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikanierung bis hin zu Misshandlungen durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Menschen für wohltätige Projekte engagieren und Freiwilligenarbeit leisten. Zivile Kammern wurden als Dialogplattform zwischen der Bevölkerung und dem Staat eingerichtet (ÖB Moskau 6.2020). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in Bezug auf die Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt (ÖB Moskau 6.2020) und sehen sich in manchen Fällen sogar Bedrohungen oder tätlichen Angriffen bzw. strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. FH 3.3.2021, HRW 13.1.2021). Der Einfluss des konsultativen 'Rats beim Präsidenten der Russischen Föderation für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte' unter dem Vorsitz von Waleri Fadejew ist begrenzt. Er befasst sich in der Regel nicht mit Einzelfällen, sondern mit grundsätzlichen Fragen wie Gesetzesentwürfen, und seine Stellungnahmen zu dem Verlauf von Demonstrationen im Sommer 2019 in Moskau blieben ohne Folge (AA 2.2.2021).

Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine führten vorübergehend zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden jedoch verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine deutlich, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist auch die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen. Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren auch über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe. Die meisten Vorfälle gab es, wie in den Vorjahren, in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Gleichzeitig ist aber im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu bemerken, der in Zusammenhang mit sozialen Problemen (Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland seit 2013 weiterhin ausgesetzt bleibt, unterstützt die EU-Delegation in Moskau den Dialog zwischen den EU-Botschaften, mit NGOs, der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern (ÖB Moskau 6.2020).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Den Hintergrund bilden in ihrem Ausmaß weiter rückläufige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien (AA 2.2.2021). Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend 'Aufständische' und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten, soweit dies angesichts der bestehenden Einschränkungen möglich ist, aufmerksam beobachtet (ÖB Moskau 6.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 12.3.2021

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 12.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 12.3.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 12.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 12.3.2021

Tschetschenien

Letzte Änderung: 28.05.2021

NGOs beklagen regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen mitunter Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten, aber auch Einzelpersonen, die das Regime kritisieren (ÖB Moskau 6.2020). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Das Republiksoberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Jelena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021).

Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen. Nach wie vor gibt es Clans, welche Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. BAMF 11.2019).

2017 und laut der NGO LGBTI Network in geringem Ausmaß bis 2019 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020, HRW 17.1.2019). Es gibt Berichte über Personen, die nach Folterungen gestorben sind [vgl. Kapitel Homosexuelle] (FH 3.3.2021). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angeblichen außergerichtlichen Tötungen von 27 Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten (ÖB Moskau 6.2020), die nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung von LGBTI-Personen stehen sollen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AI 22.2.2018). Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Die russische Menschenrechtsombudsperson wurde Berichten zufolge bei der Untersuchung dieser Vorgänge in Tschetschenien bewusst getäuscht (ÖB Moskau 6.2020).

Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen homosexuelle Männer berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Auch 2019 blieben frühere gewalttätige Übergriffe gegen Menschenrechtsverteidiger ungeahndet (AI 16.4.2020). Im Februar 2020 wurden die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina, und eine Menschenrechtsanwältin angegriffen und mit Schlägen traktiert. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020). In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte über Personen, die bloß aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 6.2020). [Bezüglich Morde bzw. Vorfälle gegen tschetschenische Kritiker in Europa und Russland siehe Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].

Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert und kann als stabil, wenn auch volatil, bezeichnet werden. Die Stabilisierung erfolgte jedoch um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, das heißt menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige und äußerst engmaschige Kontrolle der Zivilgesellschaft. Regimekritiker und Menschenrechtler müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 2.2.2021).

 

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.3.2021

 AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 11.3.2020

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 12.3.2021

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/684671/685623/685628/6029277/21602088/Deutschland___Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_L%C3%A4nderreport_21_%2D_Russische_F%C3%B6deration_%28Stand_November_2019%29%2C__November_2019.pdf?nodeid=21601757&vernum=-2 , Zugriff 12.3.2020

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html , Zugriff 11.3.2020

 Moscow Times (7.2.2020): Prominent Russian Journalist, Lawyer Attacked in Chechnya, https://www.themoscowtimes.com/2020/02/07/prominent-russian-journalist-lawyer-attacked-in-chechnya-a69199 , Zugriff 26.3.2020

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (ÖB Moskau 12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf , Zugriff 12.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 12.3.2021

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Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein

Letzte Änderung: 28.05.2021

Die tschetschenische Führung setzt ihren Angriff auf alle Formen von abweichender Meinung und Kritik fort (HRW 13.1.2021). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020). Ramsan Kadyrow versucht, dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden (ÖB Moskau 6.2020). Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigungen, Entführungen, Misshandlungen und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt. Es kommt vor, dass Personen, welchen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Familienangehörige von mutmaßlichen Terroristen können ihre Arbeitsstelle verlieren, Kinder können Schwierigkeiten bei der Aufnahme in die Schule haben, jugendliche und erwachsene Söhne können Schwierigkeiten mit den tschetschenischen Sicherheitsorganen bekommen (inkl. unrechtmäßiger Festnahmen, Prügel, etc.) (ÖB Moskau 6.2020). Weiters hat Ramsan Kadyrow im Jänner 2017 die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in 'die Irre geführt wurden' (Caucasian Knot 25.1.2017).

Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken. Die freie Wahl des Wohnorts gilt für alle Einwohner der Russischen Föderation, auch für jene des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es den Sicherheitsorganen möglich, diesen zu finden. Dies gilt nach Einschätzung von Experten auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können. Auf das Potential zur Instrumentalisierung dieser im Einzelfall bestehenden Gefährdungslage wird allerdings auch dann zurückgegriffen, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa stehen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt wird. Analysten weisen überdies auf den dynamischen Wandel des politischen Machtgefüges in Tschetschenien sowie gegenüber dem Kreml hin. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow-Clan selbst, der im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen- zum Vasallentum wechselte (ÖB Moskau 6.2020).

Salafisten werden als aktive oder potenzielle Extremisten und Terroristen wahrgenommen. Die Verfolgung von Salafisten passiert zu einem großen Teil über außergesetzliche Mechanismen, vor allem in Tschetschenien, wo seit Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen von Vertretern eines 'nicht traditionellen Islam' stattfanden, der jedoch oft keine Verbindung zum terroristischen Untergrund hatte (Memorial 10.2020). Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Von tschetschenischen Sicherheitskräften werden Entführungen begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).

Nach dem terroristischen Anschlag auf Grosny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des 'Komitees gegen Folter', dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden sind (Standard.at 14.12.2014; vgl. Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vgl. Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramasan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über Behördenkorruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RL 18.5.2016; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grosny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (US DOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (US DOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grosny vom Dezember 2014. 2017, 2018, 2019 und 2020 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018, US DOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, US DOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021).

Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Laut einer Analyse des Journalisten Vadim Dubow aus dem Jahr 2016 emigrierten die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen: Tschetschenien ist zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht erstreckt sich allerdings nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Dieser Analyse wird von anderen Experten widersprochen. Wirtschaftliche Gründe spielten demnach eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung, Tschetschenien zu verlassen. Andere Kommentatoren verweisen wiederum auf die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Strömungen in Tschetschenien, insbesondere zwischen dem traditionellen Sufismus und dem als Fremdkörper kritisierten Salafismus. Menschenrechtsaktivisten wiederum sehen in der Darstellung von Asylwerbern aus Tschetschenien als Wirtschaftsflüchtlinge eine Strategie des regionalen Oberhaupts Kadyrow (ÖB Moskau 6.2020). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Der sehr prominente tschetschenische Separatistenpolitiker im Exil, Achmad Sakaew [Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung und Vertreter von Itschkeria], gab 2020 eine Erklärung ab, in der er Folterungen in Tschetschenien verurteilte. Die tschetschenischen Behörden zwangen Sakaews Verwandte sofort, sich öffentlich von ihm loszusagen (HRW 13.1.2021).

Ramsan Kadyrow droht öffentlich und ungestraft damit, Bloggerwegen der Verbreitung von 'Zwietracht und Klatsch' einzuschüchtern, ins Gefängnis zu stecken und zu töten (AI 16.4.2020). Ein Beispiel hierfür ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als 'Lord'), dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vgl. RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille gefunden (SZ 4.2.2020; vgl. Zeit.de 5.7.2020). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen 'Mansur Stary' bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Caucasian Knot hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Auf Youtube hatte der Tschetschene Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020). Im Juli 2020 wurde in Gerasdorf bei Wien ein weiterer politischer Blogger getötet. Der Mann, der sich Ansur aus Wien nannte, hat auf Youtube mehrere Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow kritisierte. Die Angehörigen in Tschetschenien haben sich - vermutlich unter Druck - in einem Video von ihrem Verwandten distanziert. Gleichzeitig haben sie die Verantwortung für seine Tötung übernommen (Kurier.at 23.7.2020). Im September 2020 wurde Salman Tepsurkaew, Moderator eines Tschetschenien-kritischen Telegram-Kanals aus der Region Krasnodar vermutlich gewaltsam nach Tschetschenien verbracht. Anschließend wurde im Internet ein Video zirkuliert, auf dem er sich – offenbar unter Zwang – selbst sexuell erniedrigt. Er ist seitdem verschwunden, und tschetschenische Behörden verweigern bislang eine Aufklärung des Falls (AA 2.2.2021). Ein weiteres Beispiel ist der prominente Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titiew, der nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen (AA 2.2.2021).

Ein Sicherheitsrisiko für Russland stellt die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen. Der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB informierte im Dezember 2019, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen und an Kriegshandlungen teilgenommen haben und dass gegenüber 4.000 in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Von 337 zurückgekehrten Kämpfern sind 224 bereits verurteilt und 32 festgenommen worden. Etwa 3.000 der insgesamt 5.000 Kämpfer stammten aus dem Nordkaukasus. Laut einem Bericht des Conflict Analysis & Prevention Center vom März 2020 wurde von den Tausenden Kämpfern, die aus dem Nordkaukasus nach Syrien oder in den Irak zogen, der Großteil getötet. In den letzten Jahren repatriiert Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen dieser Kämpfer zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder ist geplant. Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen (ÖB Moskau 6.2020).

Laut einem Experten für den Kaukasus kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des sogenannten IS stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt. Nachdem der sogenannte IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen wurde, besteht die Möglichkeit, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Daraus kann sich auch ein entsprechendes Sicherheitsrisiko für Länder mit umfangreichen tschetschenischen Bevölkerungsanteilen ergeben (ÖB Moskau 6.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 15.3.2021

 AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 15.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 15.3.2021

 BBC (27.2.2020): Chechen blogger Tumso Abdurakhmanov 'survives hammer attack', https://www.bbc.com/news/world-europe-51656571 , Zugriff 15.3.2021

 CACI – Central Asia-Caucasus Analyst (25.2.2020): Kadyrov Continues to Target Enemies Abroad, http://www.cacianalyst.org/publications/analytical-articles/item/13605-kadyrov-continues-to-target-enemies-abroad.html , Zugriff 15.3.2021

 Caucasian Knot (28.5.2020): Ramzan Kadyrov offers forgiveness to Ichkeria supporters amid killings in Europe, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51025/ , Zugriff 15.3.2021

 Caucasian Knot (25.1.2017): Кадыров разрешил чеченским силовикам стрелять без предупреждения [Kadyrow hat den tschetschenischen Sicherheitskräften erlaubt, ohne Vorwarnung zu schießen], zitiert nach: ACCORD (7.7.2017): a-10223, https://www.ecoi.net/de/dokument/1406510.html , Zugriff 15.3.2021

 Deutschlandfunk.de (11.3.2019): Youtube-Blogger Abdurachmanov droht Abschiebung, https://www.deutschlandfunk.de/kadyrow-kritiker-in-polen-youtube-blogger-abdurachmanov.795.de.html?dram:article_id=442725 , Zugriff 15.3.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 15.3.2021

 FH – Freedom House (1.2018): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2017 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 15.3.2021

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 FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html , Zugriff 15.3.2021

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 HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html , Zugriff 15.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 15.3.2021

 Kleine Zeitung (3.2.2020): Gewalttat vermutet, Blogger aus Tschetschenien lag tot in Hotelzimmer, https://www.kleinezeitung.at/international/5763272/Gewalttat-vermutet_Blogger-aus-Tschetschenien-lag-tot-in-Hotelzimmer , Zugriff 15.3.2021Kurier.at (23.7.2020): Mord in Gerasdorf: Verwandte des Opfers übernehmen Verantwortung, https://kurier.at/chronik/wien/mord-in-gerasdorf-verwandte-des-opfers-uebernehmen-verantwortung/400979801 , Zugriff 15.3.2021

 Meduza (31.10.2017): Guilty by blood, https://meduza.io/en/feature/2017/10/31/guilty-by-blood , Zugriff 15.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 15.3.2021

 RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (27.2.2020): 'Blood Feud': Chechen Blogger Who Criticized Kadyrov Says He Was Attacked Following Official's Threats, https://www.rferl.org/a/chechen-blogger-who-criticized-kadyrov-says-he-was-attacked-following-chechen-official-s-threats/30458386.html , Zugriff 15.3.2021

 RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (18.5.2016): Fearing Reprisals, Chechnya Whistle-Blower Keeps Family's Location Secret, https://www.rferl.org/a/russia-chechnya-whistle-blower-keeps-location-family-secret/27743431.html , Zugriff 15.3.2021

 Standard.at (14.12.2014): Tschetschenien: NGO-Büro in Grosny angezündet, http://derstandard.at/2000009372041/Tschetschenien-NGO-Buero-in-Grosny-abgefackelt , Zugriff 15.3.2021

 Tagesschau.de (28.8.2019): Islamistischer Gefährder oder Patriot?, https://www.tagesschau.de/investigativ/berlin-toetung-georgien-103.html , Zugriff 15.3.2021

 The Telegraph (17.1.2015): Chechen leader targets families as insurgents swear loyalty to leader of Islamic State, https://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/russia/11352849/Chechen-leader-targets-families-as-insurgents-swear-loyalty-to-leader-of-Islamic-State.html , Zugriff 15.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices for 2016 – Russia, http://www.ecoi.net/local_link/337201/479965_de.html , Zugriff 15.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 15.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html , Zugriff 15.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 15.3.2021

 Zeit.de (5.7.2020): Tschetschene nahe Wien erschossen, https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-07/oesterreich-tschetschenien-mord-dissident-terrorverdacht , Zugriff 15.3.2021

Meinungs- und Pressefreiheit, Internet

Letzte Änderung: 28.05.2021

Meinungs- und Pressefreiheit sind zwar verfassungsrechtlich garantiert (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020), die Wahrnehmung ist in der Praxis jedoch durch ein ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften begrenzt (AA 2.2.2021). Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde 2019 in Gesetz und Praxis weiter eingeschränkt, unter anderem durch zusätzliche Restriktionen im Internet und neue Repressalien gegen Online-Dissidenten. Die Anwendung der Rechtsvorschriften zur Meinungsäußerung auf staatliche Medien und Behörden unterschied sich immer stärker von ihrer Anwendung auf kritische Medien, die abweichende Meinungen äußerten. Während die 'Aufstachelung zu Hass und Feindschaft' (Paragraf 282 des Strafgesetzbuches) im Januar 2019 teilweise entkriminalisiert wurde, erfolgte bei anderen strafrechtlichen Bestimmungen, darunter Paragraf 280 (öffentliches Anstiften zu 'extremistischen' Handlungen), weiterhin eine selektive Anwendung gegen Andersdenkende. Nach einem im März 2019 verabschiedeten neuen Gesetz wurden die 'Verbreitung von Falschnachrichten' und die 'Beleidigung' des Staates, seiner Symbole und Organe im Internet zu Ordnungswidrigkeiten, die mit hohen Geldbußen geahndet werden. In der Folge wurden bis Dezember 2019 über 20 Personen mit Geldbußen belegt, vor allem wegen Kritik am Präsidenten. Dagegen waren die Verleumdung von Regierungskritikern und die Verbreitung von 'Falschnachrichten' über sie in den staatlich kontrollierten Medien an der Tagesordnung (AI 16.4.2020). Ein weiteres Mittel der staatlichen Behörden, gegen kritische Stimmen in der Medienlandschaft vorzugehen, ist die 2012 verabschiedete Gesetzgebung zum Extremismus (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, AI 16.4.2020). Sie sollte ursprünglich dabei helfen, rassistische und terroristische Straftaten im Land einzudämmen, wird von den Behörden jedoch aufgrund ihrer vagen Formulierung häufig überschießend angewendet. Diese Einschränkung der Grundrechte führt zu einem schwindenden Raum für eine unabhängige Zivilgesellschaft und ist durch ein hartes Durchgreifen gegen unabhängige politische Stimmen gekennzeichnet (ÖB Moskau 6.2020). Auch die 'Bedrohung der nationalen Sicherheit' dient regelmäßig als Rechtfertigung für Eingriffe in die Pressefreiheit und andere Grundrechte. Selbst ein schlichtes 'liken' oder 'retweeten' eines Beitrags, den die Behörden als 'extremistisch' einstufen, kann zu Strafen führen (AA 2.2.2021), darunter z.B. Kommentare über die Illegalität der Annexion der Krim (ÖB Moskau 6.2020). Das oben erwähnte Gesetz zur 'Verbreitung von Falschnachrichten' sanktioniert die Verbreitung von 'fake news', die eine Gefährdung für Leib und Leben der Bevölkerung darstellen. Es wurden zahlreiche Strafen verhängt und der Strafrahmen im März 2020 erhöht (höhere Geldstrafen; bis zu fünf Jahre Haft). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde diese Gesetzgebung noch ausgedehnt. Seit April 2020 ist auch die Verbreitung von 'fake news' zur Pandemie strafbar (AA 2.2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, FH 14.10.2020). Nach einer Schätzung haben die Behörden innerhalb von drei Monaten mindestens 170 Verwaltungs- und 42 Strafverfahren wegen angeblicher Online-Verbreitung von Falschinformationen über Covid-19 eingeleitet (HRW 13.1.2021). Im Frühjahr 2020 setzte die Regierung auch Überwachungssysteme ein, angeblich um das COVID-19-Quarantäneregime durchzusetzen (FH 14.10.2020). Die staatliche Kontrolle von Internet und sozialen Medien wird zunehmend verschärft (AA 2.2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, FH 14.10.2020).

Ein Großteil der staatlichen Fernseh- und Printmedien steht unter staatlicher oder staatsnaher Kontrolle (ÖB Moskau 6.2020; vgl. GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Die wenigen unabhängigen bzw. kritischen Medien (z.B. TV-Sender Doschd, Radiosender Echo Moskwy, Zeitung Nowaja Gazeta) werden mit administrativen und finanziellen Mitteln unter Druck gesetzt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Kritische Journalisten sind in Russland mit Drohungen, physischer Gewalt und Verhaftungen konfrontiert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Insbesondere kommt es auch im Nordkaukasus mitunter zu physischen Attacken und Verfolgung von Journalisten. Der Großteil dieser Fälle bleibt ungeklärt (ÖB Moskau 6.2020). Angriffe, Verhaftungen, Razzien in Büros und Drohungen gegen Journalisten sind weit verbreitet, und die Behörden richteten sich 2020 aktiv gegen Journalisten außerhalb Moskaus (FH 3.3.2021). Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf Journalisten oder Todesfälle unter gewaltsamen Umständen. Journalisten werden manchmal auch infolge ihrer beruflichen Tätigkeit verhaftet und z.B. wegen angeblicher Drogenvergehen oder terrorismusbezogener Anklagen strafrechtlich verfolgt. Gegen die auf Tschetschenien spezialisierte Journalistin Jelena Milaschina wurden vonseiten des tschetschenischen Oberhaupts Ramsan Kadyrow im April 2020 Morddrohungen ausgesprochen (ÖB Moskau 6.2020).

Im Herbst 2017 wurde eine gesetzliche Grundlage zur Listung gewisser ausländischer Medien als ausländische Agenten geschaffen. Eine im November 2019 beschlossene Gesetzesnovelle ermöglicht es, auch natürliche Personen, die Nachrichten von Medien, welche bereits als ausländische Agenten eingetragen sind, verbreiten (z.B. Journalisten, Blogger, etc.), als ausländische Agenten zu qualifizieren. Ausländischen Personen bzw. Unternehmen ist es nach Änderungen im Gesetz über die Massenmedien seit 2014 verboten, mehr als 20% der Anteile an russischen Medien zu halten. Zahlreiche Internetseiten wurden aufgrund des Verdachts extremistischer Inhalte ohne vorhergehenden Gerichtsbeschluss von der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor gesperrt (ÖB Moskau 6.2020). Im November 2020 wurde dem Parlament ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt, der den Behörden die Befugnis geben soll, Webseiten zu blockieren, die russische staatliche Medieninhalte zensiert haben. Zu den genannten Webseiten zählen Twitter, Facebook und YouTube (HRW 13.1.2021). Auch verschlüsselte E-Mail-Dienste wurden blockiert (FH 14.10.2020).

Mehrere Personen, von denen viele politisch nicht aktiv waren, wurden unter der erwähnten Anti-Extremismus-Gesetzgebung verurteilt, beispielsweise weil sie in sozialen Medien Kommentare anderer Nutzer befürwortet hatten. Im Jänner 2019 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit welcher der Paragraf 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung) abgeschwächt wurde. Nur wenn jemand innerhalb eines Jahres mehrmals 'extremistischen Inhalt' veröffentlicht oder verbreitet hat, kann ein Strafverfahren eröffnet werden. Passiert das zum ersten Mal, drohen statt mehrjähriger Gefängnisstrafen lediglich Bußgelder oder Arrest. Im Mai 2020 wurde eine neue Strategie zur Extremismusbekämpfung bis 2025 unterzeichnet. Darin wird Extremismus als eine der Hauptgefahren für die verfassungsmäßige Ordnung des Staates bezeichnet. Als Gefährdung der Stabilität der russischen Gesellschaft wird auch die Tätigkeit einzelner ausländischer NGOs im Zusammenhang mit der Verbreitung extremistischer Ideologien bezeichnet (ÖB Moskau 6.2020). Im November 2019 trat das Gesetz über das 'Souveräne RuNet' in Kraft, das es den russischen Behörden ermöglichen soll, in Krisensituationen die Nachrichtenströme im Internet vollständig zu kontrollieren. Im Dezember 2019 unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein neues Gesetz, nach dem sich alle Bürger als 'ausländischer Agent' registrieren lassen müssen, die Informationen ausländischer Medien oder 'Agenten' weiterverbreiten und Gelder aus dem Ausland erhalten. Verstöße gegen diese Bestimmung werden mit Geldstrafen von bis zu 5.000.000 Rubel (etwa 80.000 Euro) geahndet (AI 16.4.2020).

In den Internetmedien, die weiterhin beträchtliche Wachstumsraten aufweisen, hat sich eine erhebliche Dynamik entfaltet. 78% der erwachsenen russischen Bevölkerung nutzt das Internet. Die IT-Versorgung des Landes ist eine der Prioritäten der Regierung. Dennoch bleibt es vorerst ein großstädtisches Phänomen. Der Einfluss der Internetmedien und der Blogger-Szene (wie z.B. Projekt Snob, Alexej Nawalny), als Ventil für unabhängige und kritische Meinungsäußerungen, wächst (GIZ 1.2021a). Die Medienbehörde Roskomnadzor stellte ihre Bemühungen zur Schließung des verschlüsselten Nachrichtendienstes Telegram ein und hob das zwei Jahre alte Verbot der Plattform im Juni 2020 auf. Die Aufhebung des Verbotes hängt mit der Zusammenarbeit des Unternehmens in Terrorismusfällen zusammen (FH 3.3.2021).

In einem weltweiten Ranking zur Pressefreiheit 2020 nimmt die Russische Föderation derzeit den 149. Platz von 180 Ländern und Territorien ein (RoG 2020). Reporter ohne Grenzen veröffentlichte seine Liste der 20 schlimmsten 'digitalen Raubtiere' der Pressefreiheit im Jahr 2020 - 'Unternehmen und Regierungsbehörden, die digitale Technologie einsetzen, um Journalisten auszuspionieren und zu belästigen und damit unsere Fähigkeit zu gefährden, Nachrichten und Informationen zu erhalten'. Russland findet sich auf dieser Liste (RoG 12.3.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 24.3.2021

 FH – Freedom House (14.10.2020): Bericht zur Freiheit digitaler Medien und des Internet (Berichtszeitraum Juni 2019 - Mai 2020) - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2039111.html , Zugriff 24.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 24.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 24.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 24.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 24.3.2021

 RoG – Reporter ohne Grenzen (2020): 2020 World Press Freedom Index, https://rsf.org/en/ranking_table , Zugriff 24.3.2021

 RoG – Reporter ohne Grenzen (12.3.2020): RSF unveils 20/2020 list of press freedom’s digital predators, https://rsf.org/en/news/rsf-unveils-202020-list-press-freedoms-digital-predators , Zugriff 24.3.2021

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

Letzte Änderung: 28.05.2021

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert, werden durch lokale Behörden in der Praxis jedoch häufig eingeschränkt (US DOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020, FH 3.3.2021). Die Organisation ungenehmigter Protestveranstaltungen zieht regelmäßig die Verhaftung der Organisatoren und die Verhängung von Geld- oder mehrwöchigen administrativen Arreststrafen nach sich (AA 2.2.2021). Das Gesetz sieht harte Strafen für nicht genehmigte Proteste und andere Verstöße gegen das öffentliche Versammlungsrecht vor - bis zu 300.000 Rubel (ca. 4.000€) für Einzelpersonen, 600.000 Rubel (8.000€) für Veranstalter und eine Million Rubel (13.600€) für Gruppen oder Unternehmen. Demonstranten mit mehreren Verstößen innerhalb von sechs Monaten können mit einer Geldstrafe von bis zu einer Million Rubel (13.600€) belegt oder für bis zu fünf Jahre inhaftiert werden (USDOS 11.3.2020). Ausnahmen wie die Demonstrationen gegen die Festnahme und Amtsenthebung eines Provinzgouverneurs in Chabarowsk, gegen die im Sommer 2020 lange nicht eingeschritten wurde, bestätigen diese Regel. Wiederholte Verstöße gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder auch Mahnwachen können strafrechtlich geahndet werden (bis zu drei Jahre Lagerhaft). Zudem kam es 2019/2020 zu Verurteilungen von Demonstranten wegen angeblicher Gewalt gegen Polizeibeamte, von denen einige nach öffentlichen Protesten und der Veröffentlichung von Videos aufgehoben wurden (AA 2.2.2021). Im Dezember 2020 verabschiedete die Duma zwei neue Gesetze, die Mahnwachen für Einzelpersonen verbieten und die Protestorganisatoren dazu auffordern, umfangreiche Unterlagen auszufüllen (FH 3.3.2021).

Kundgebungen und Demonstrationen von oppositionellen Gruppen werden entweder nicht genehmigt oder müssen abseits zentraler Plätze stattfinden. Gleichzeitig zeigen die Behörden eine zunehmende Intoleranz gegenüber nicht genehmigten Demonstrationen (ÖB Moskau 6.2020; FH 3.3.2021). Im Sommer 2019 kam es in Moskau zu einer Reihe von - zum Teil nicht genehmigten - Protestaktionen mit bis zu 60.000 Teilnehmern, nachdem zahlreiche oppositionelle Kandidaten nicht zur Wahl zum Moskauer Stadtparlament am 8. September zugelassen worden waren. Mehr als tausend Personen wurden festgenommen, gegen einige wurde ein Strafverfahren eröffnet. Mehrere Angeklagte wurden zu Haftstrafen verurteilt, darunter Personen, welche die Menschenrechtsorganisation Memorial zu politischen Gefangenen erklärt hat. Kreml-freundliche Gruppierungen hingegen berichten nicht über Probleme, entsprechende Genehmigungen der Moskauer Stadtverwaltung für Demonstrationen an zentralen Plätzen der Stadt zu erhalten (ÖB Moskau 6.2020; vgl. Zeit Online 2.8.2019).

Aufgrund der zunehmenden Entfremdung der Bevölkerung von den Behörden nahm die Zahl der Straßenproteste zu. Dabei geht es neben politischen Themen immer öfter auch um lokale wirtschaftliche, soziale oder ökologische Fragen wie z.B. die Abfallentsorgung. Es wurden jedoch auch allgemeinere politische Forderungen gestellt. Die Behörden reagieren darauf oft mit der Verweigerung der (im Gesetz verbindlich vorgeschriebenen) Genehmigung für öffentliche Versammlungen, der Auflösung friedlicher Versammlungen und der administrativen und strafrechtlichen Verfolgung der Organisatoren und Teilnehmenden. Diese Behandlung friedlich demonstrierender Menschen löste wiederum eine große öffentliche Solidarität mit ihnen aus (AI 16.4.2020).

In Bezug auf die Vereinigungsfreiheit ist zu sagen, dass öffentliche Organisationen ihre Statuten und die Namen ihrer Leiter beim Justizministerium registrieren müssen. Die Finanzen der registrierten Organisationen werden von den Steuerbehörden überprüft, und ausländische Gelder müssen registriert werden [bez. Organisationen siehe auch Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten] (US DOS 11.3.2020). Obwohl Gewerkschaftsrechte rechtlich geschützt sind, sind sie in der Praxis eingeschränkt. In führenden Branchen, einschließlich der Automobilherstellung, kam es zu Streiks und Protesten der Arbeiter, aber gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung und Repressalien sind weit verbreitet. Arbeitgeber ignorieren häufig Kollektivverhandlungsrechte. Der größte Gewerkschaftsverband arbeitet eng mit dem Kreml zusammen, obwohl in einigen Industriesektoren und Regionen unabhängige Gewerkschaften tätig sind (FH 3.3.2021).

Oppositionspolitiker und -aktivisten werden häufig mit fabrizierten Anklagen und anderen Formen administrativer Belästigung konfrontiert, die ihre Teilnahme am politischen Leben verhindern sollen. Alexej Nawalny wurde im August 2020 mit einem Nervengift vergiftet, als er Korruption und Kampagnen in Sibirien untersuchte. Später gab es Beweise dafür, dass der Anschlag vom Inlandsgeheimdienst FSB durchgeführt worden war. Nawalny musste nach Deutschland evakuiert werden, um zu verhindern, dass die Behörden in seine Behandlung eingreifen (FH 3.3.2021). Die Vergiftung Nawalnys führte zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen Russlands zur Europäischen Union (HRW 13.1.2021). Als Nawalny in seine Heimat im Jänner 2021 zurückkehrte, wurde er festgenommen, weil er während seiner Abwesenheit gegen Bewährungsauflagen aus einer früheren Verurteilung wegen Untreue verstoßen haben soll. Ein Gericht wandelte die frühere Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe um. Die Verurteilung wurde international scharf kritisiert und wird auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als ungerechtfertigt angesehen. Alexej Nawalny wurde zu mehr als zweieinhalb Jahren Haft in einem Straflager verurteilt (Standard.at 28.2.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 26.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 26.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 26.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 26.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 26.3.2021

 Standard.at (28.2.2021): Regierungskritiker Nawalny in russisches Straflager überstellt, https://www.derstandard.at/story/2000124540577/regierungskritiker-nawalny-in-russisches-straflager-ueberstellt , Zugriff 26.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 26.3.2021

 Zeit Online (2.8.2019): Moskau genehmigt zwei Großkundgebungen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/russland-moskau-proteste-kundgebungen-demonstrationen-polizei , Zugriff 26.3.2021

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Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 08.06.2021

Art. 28 der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit (AA 2.2.2021). Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei als 'traditionelle Religionen' de facto eine herausgehobene Stellung (AA 2.2.2021), die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) spielt allerdings eine zentrale Rolle (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die ROK arbeitet bei bestimmten Themen eng mit der Regierung zusammen (FH 3.3.2021). Rund 68% identifizieren sich als russisch-orthodoxe Christen, 7% als Muslime, und 25% gehören religiösen Minderheiten an, darunter Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Juden und Baha'i (USCIRF 4.2020). Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben zwischen 14 und 20 Millionen Muslime (ÖB Moskau 6.2020; vgl. GIZ 1.2021c). 2015 wurde von Präsident Putin in Moskau die größte Moschee Europas eröffnet, 2019 folgte eine noch größere Moschee in der tschetschenischen Stadt Schali (ÖB Moskau 6.2020).

Bei den traditionell religiös orientierten ethnischen Minderheiten Russlands findet man Anhänger des Islam und des Buddhismus, des Schamanismus und Judaismus, des protestantischen und katholischen Glaubens. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland. Die Muslime sind in der Regel Baschkiren, Tataren, Tschuwaschen, Tschetschenen und Angehörige anderer Kaukasusvölker. Sie werden durch die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Europäischen Teils Russlands und Sibiriens' sowie die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Nordkaukasus' vertreten. Darüber hinaus sind zahlreiche andere Konfessionen, wie der Buddhismus (ca. 600.000 Gläubige) - zu dem sich Burjaten, Kalmyken, Tuwa und andere Bevölkerungsgruppen in den Gebieten Irkutsk und Tschita bekennen -, das Judentum (ca. 200.000 Gläubige) sowie von den christlichen Kirchen die katholische Kirche, die evangelisch-lutherische Kirche und eine Reihe von Freikirchen (vor allem Baptisten) in Russland vertreten. Sie sind im europäischen Russland und in Sibirien präsent (GIZ 1.2021c). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen (GIZ 1.2021c; vgl. USCIRF 4.2020). Die russische Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als eine Bedrohung für die soziale und politische Stabilität des Landes und pflegt gleichzeitig bedeutende Beziehungen zu den sogenannten 'traditionellen' Religionen des Landes. Die Regierung aktualisiert regelmäßig Gesetze, welche die Religionsfreiheit einschränken, darunter ein Religionsgesetz von 1996, ein Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus von 2002 und neuere Gesetze über Gotteslästerung, wie beispielsweise 'Schüren von religiösem Hass' und 'Missionstätigkeit'. Diese vagen Gesetze geben den russischen Behörden weitreichende Befugnisse, religiöse Reden oder Aktivitäten zu definieren und zu verfolgen oder religiöse Literatur zu verbieten, die sie für schädlich halten. Das Religionsgesetz legt strenge Registrierungsanforderungen an religiöse Gruppen fest und ermächtigt Staatsbeamte, die Tätigkeit der Gruppierungen zu behindern (USCIRF 4.2020).

Seit Ende der Achtzigerjahre hat der Anteil der Gläubigen im Zuge einer 'religiösen Renaissance' bedeutend zugenommen. Allerdings bezeichnen sich laut Meinungsumfragen rund 50% der Bevölkerung als nicht gläubig. Zwar gibt es in Russland einen hohen Grad der Wertschätzung von Kirche und Religiosität, dies bedeutet aber nicht, dass die Menschen ihr Leben nach kirchlichen Vorschriften führen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängigkeit der Russischen Föderation ist sie zu einer äußerst gewichtigen gesellschaftlichen Einrichtung geworden. Die Verluste an Gläubigen und Einrichtungen, die sie in der Sowjetzeit erlitt, konnte sie zu einem großen Teil wieder ausgleichen. Die ROK hat ein besonderes Verhältnis zum russischen Staat, z.B. ist der Patriarch bei wichtigen staatlichen Anlässen stets anwesend. Die ROK versteht sich als multinationale Kirche, die über ein 'kanonisches Territorium' verfügt. Über die Zahl der Angehörigen der ROK gibt es nur Schätzungen, die zwischen 50 und 135 Millionen Gläubigen schwanken. Wer heute in Russland seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche herausstellt, macht damit deutlich, dass er zur russischen Tradition steht. Das Wiedererwachen des religiösen Lebens in Russland gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen um die Rolle der ROK in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat (GIZ 1.2021c).

Seit einer Änderung des Anti-Extremismus-Gesetzes im Jahr 2007 gerieten bestimmte religiöse Gruppen ins Visier der russischen Behörden, vor allem die Zeugen Jehovas und islamische Gruppierungen wie Hizb ut-Tahrir, aber auch Falun Gong, Scientology, und andere. Im Zuge einer Verschärfung der anti-extremistischen Gesetzgebung im Jahr 2016 wurden die Auflagen für Missionarstätigkeiten neu geregelt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. USCIRF 4.2020). Das Anti-Extremismus-Gesetz wird auch genutzt, um Muslime - insbesondere Anhänger der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat und Leser des türkischen Theologen Said Nursi - wegen friedlicher religiöser Aktivitäten zu verfolgen (USCIRF 4.2020).

Am 20.4.2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, welche die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Im Jahr 2020 erließen russische Gerichte Dutzende Schuldsprüche gegen Zeugen Jehovas (HRW 13.1.2021). Im Laufe des Jahres 2019 wurden mindestens 17 Zeugen Jehovas verurteilt, sieben von ihnen zu Freiheitsstrafen. Viele Weitere wurden zum Beispiel mit Hausdurchsuchungen schikaniert. Einige von ihnen erklärten, während der Vernehmung gefoltert oder misshandelt worden zu sein (AI 16.4.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 5.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 5.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 5.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 5.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 5.3.2021

 USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2020): 2020 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028973/Russia.pdf , Zugriff 5.3.2021

Tschetschenien

Letzte Änderung: 08.06.2021

Die tschetschenische Bevölkerung gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist (BAMF 10.2013). Beim Sufismus handelt es sich um eine weitverbreitete und zudem äußerst facettenreiche Glaubenspraxis innerhalb des Islams. Heutzutage sind Sufis sowohl innerhalb des Schiitentums als auch unter Sunniten verbreitet (ÖIF 2013).

In Tschetschenien setzt Ramsan Kadyrow seine eigenen Ansichten bezüglich des Islams durch. Dieser soll moderat, aber streng kontrolliert sein. Salafismus und Wahhabismus duldet er nicht (USCIRF 4.2019). Die Autorität der Kadyrow-Regierung beruht auf der Wirkungskraft einer spezifischen islamischen Ideologie, die als Gegenentwurf zu den Lehren des Wahhabismus bzw. Salafismus konzipiert ist und die Gesellschaft gegen den Einfluss erstarkender fundamentalistischer Kräfte stabilisieren soll (Russland Analysen 21.9.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubhaften Aussagen von lokalen NGOs einher mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert werden soll (AA 2.2.2021). Die strafrechtliche Verfolgung dieser Art von Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. USCIRF 4.2020). Auch Verwandte, Freunde und Bekannte können ins Visier der Behörden geraten (ÖB Moskau 6.2020). Belästigungen von Muslimen bei Gottesdiensten kommen vor, ebenso wie Entführungen zur 'Kontrolle der religiösen Überzeugungen'. Dies dient der Einschüchterung der Bevölkerung (USCIRF 4.2020).

Frauen müssen sich islamisch kleiden und können in polygame Ehen gezwungen werden (USCIRF 4.2019). Polygamie kam schon in der Sowjetunion vor, allerdings nur heimlich. Nun wird sie durch die Scharia legitimiert (Welt.de 14.2.2017). Polygamie ist zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich (AA 2.2.2021). Die Religion verdrängt die alten Werte der traditionellen Dorfgemeinde. Der Islam wird dabei in unterschiedlichsten Formen gelebt und dient oft den Männern dazu, ihre Frauen zu unterdrücken (Welt.de 14.2.2017).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 9.3.2021

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 9.3.2021

 ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam, S. 111-113 [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

 Russland Analysen (21.9.2018): Der Islam als multifunktionaler Stabilitätsregulator des tschetschenischen Sozialgefüges – ein theoretisches Modell zur Wirkungsweise der Religion in Tschetschenien, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/359/der-islam-als-multifunktionaler-stabilitaetsregulator-des-tschetschenischen-sozialgefueges-ein-theoretisches-modell-zur/ , Zugriff 9.3.2021

 USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2019): 2018 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008198/Tier1_RUSSIA_2019.pdf , Zugriff 20.3.2020

 USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2020): 2019 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028973/Russia.pdf , Zugriff 9.3.2021

 Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein – das ist eine Last, https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-ist-eine-Last.html , Zugriff 20.3.2020

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Ethnische Minderheiten

Letzte Änderung: 08.06.2021

Russland ist ein multinationaler Staat, in dem Vertreter von mehr als 160 Völkern leben. Die Russen stellen mit 79,8% die Mehrheit der Bevölkerung. Größere Minderheiten sind Tataren (4,0%), Ukrainer (2,2%), Armenier (1,9%), Tschuwaschen (1,5%), Baschkiren (1,4%), Tschetschenen (0,9%), Deutsche (0,8%), Weißrussen und Mordwinen (je 0,6%), Udmurten (0,4%), Burjaten (0,3%) und andere. Vielfach ist die Verflechtung zwischen den nicht-russischen und russischen Bevölkerungsteilen durch interethnische Ehen und Kommunikation recht hoch, ebenso der Russifizierungsgrad der nichtrussischen Bevölkerungsteile. Nur wenige Gebietseinheiten, wie Tschetschenien, Dagestan, Tschuwaschien und Tuwa, sind stärker vom namensgebenden Ethnos geprägt. Russisch ist die einzige überall geltende Amtssprache. Parallel dazu wird in den einzelnen autonomen Republiken die jeweilige Volkssprache als zweite Amtssprache verwendet. Die Sprachen der kleinen indigenen Völker stehen unter gesetzlichem Schutz (GIZ 1.2021c). Minderheiten sind in der Regel politisch und gesellschaftlich gut integriert (AA 2.2.2021).

Die Verfassung garantiert gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache und Herkunft. Entsprechend bemüht sich die Zentralregierung zumindest in programmatischen Äußerungen um eine ausgleichende Nationalitäten- und Minderheitenpolitik, inklusive der Förderung von Minderheitensprachen im Bildungssystem (AA 21.5.2018). Trotzdem werden Rechte von Minderheiten nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert, wobei etwa bei der Eintragung des Wohnsitzes und bei den Minderheitenmedien Fortschritte festzustellen sind (ÖB Moskau 6.2020). Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020, FH 3.3.2021, BTI 2020). 'Racial profiling' ist bei den Behörden verbreitet. Minderheiten ohne anerkannten Rechtsstatus wie z.B. Sinti und Roma sind immer wieder Opfer von Diskriminierungen auch durch staatliche Organe (AA 2.2.2021). Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden daher verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank auch die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist ebenfalls die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen wie etwa die Organisation BORN (ÖB Moskau 6.2020). Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die meisten Vorfälle gab es wie in den Vorjahren in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarats stellte in ihrem Bericht vom März 2019 betreffend die Situation in der Russischen Föderation fest, dass die Zahl rassistischer Morde und Gewaltverbrechen in den vergangenen Jahren gesunken ist und insbesondere Angriffe durch Neonazi-Gruppierungen stark zurückgegangen sind (ÖB Moskau 6.2020).

Im Jänner 2019 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit welcher der Paragraf 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, der Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung), der von den Behörden zum Teil überschießend angewandt worden war (z.B. für Likes und Re-Posts auf sozialen Medien), abgeschwächt wurde. Seither ist die Zahl der Verurteilungen wegen 'Anstiftung von Hass' deutlich zurückgegangen. Die Zahlen von strafrechtlicher Verfolgung wegen 'Aufruf zu und Rechtfertigung von Terrorismus' und wegen 'Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation' sind aber gestiegen (ÖB Moskau 6.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1434107/4598_1528119149_auswaertiges-amt-bericht-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-april-2018-21-05-2018.pdf , Zugriff 11.3.2020

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.2.2021

 BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf , Zugriff 17.2.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.2.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 17.2.2021

 

 

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Letzte Änderung: 08.06.2021

Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau (ÖB Moskau 6.2020; vgl. GIZ 1.2021c). Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, die diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll. Grundsätzlich gibt es in der Russischen Föderation keine systematische Diskriminierung von Frauen (ÖB Moskau 6.2020).

Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen (GIZ 1.2021c). Frauen mit kleinen Kindern gehören einer sozialen Gruppe an, die besonders von sozialer Unterstützung wie Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes und dem sogenannten 'Mutterschaftskapital' Nutzen ziehen (vgl. Kapitel Sozialbeihilfen) (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die politische Sphäre in Russland ist von Männern dominiert (GIZ 1.2021c). Frauen sind in Politik und Regierung unterrepräsentiert. Sie halten weniger als ein Fünftel der Sitze in der Duma und im Föderationsrat. Nur drei von 31 Kabinettsmitgliedern sind Frauen (FH 3.3.2021). In Russland herrscht noch immer ein konservatives Familienbild vor – die Frau als Hausfrau und Mutter. Jedoch sind Frauen in der Realität gezwungen, auch (Vollzeit) erwerbstätig zu sein, schon allein aufgrund der hohen Scheidungsrate. Daraus folgt logischerweise auch eine große Anzahl von alleinerziehenden Frauen (Russland Analysen 21.2.2020b).

Ein ernstes Problem, das von Politik und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet wird, stellt die häusliche Gewalt dar (ÖB Moskau 6.2020; vgl. FH 3.3.2021, HRW 10.2018). Häusliche Gewalt wird von den Behörden kaum beachtet, stattdessen werden Opfer häuslicher Gewalt, die zur Selbstverteidigung den Täter töten, häufig inhaftiert. Bis zu 80% der in Russland inhaftierten Frauen dürften unter diese Kategorie fallen (FH 3.3.2021). Es gibt in Russland sowohl staatliche Krisenzentren (Frauenhäuser) als auch gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Das Zentrum ANNA etwa koordiniert ein informelles Netzwerk von Organisationen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder. Darin sind über 150 regionale und lokale NGOs aktiv. Es wurde auch eine interaktive Karte mit Zentren, die betroffene Frauen in den meisten Regionen Russlands unterstützen, erstellt (ÖB Moskau 6.2020). Offizielle Studien legen nahe, dass mindestens jede fünfte Frau in Russland irgendwann in ihrem Leben körperliche Gewalt durch ihren Ehemann oder Partner erlebt hat (HRW 10.2018). Nach offiziellen Statistiken ereignen sich 40% aller schweren Gewaltdelikte innerhalb der Familien. Es gibt kein System zur Prävention und es gibt zu wenig Einrichtungen, in denen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können. Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügend Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 10.2018). Experten schätzen, dass 60% bis 70% der Fälle von häuslicher Gewalt nicht gemeldet werden (US DOS 11.3.2020). Trotz der weiten Verbreitung des Problems gibt es grobe Mängel bei der Bewusstseinsbildung darüber, auch innerhalb der politischen Elite. Durch eine Gesetzesänderung im Jänner 2017, wurde häusliche Gewalt im Erstfall zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021), wenn sie zu keinen dauerhaften körperlichen Schäden führt (FH 3.3.2021). 2017 wurde die Kampagne 'We demand to adopt the domestic violence law' gestartet, die über 900.000 Unterstützer fand. Ende 2019 wurde ein neuer Gesetzesentwurf zur Vorbeugung von häuslicher Gewalt ins russische Parlament eingebracht, dessen Behandlung bis zum Ende der Coronavirus-Epidemie aber ausgesetzt wurde. Im Jänner 2019 wurde ein EU-finanziertes Projekt des Europarats und der Russischen Föderation zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen lanciert, das auch von der russischen Ombudsfrau für Menschenrechte begrüßt wurde (ÖB Moskau 6.2020). Häusliche Gewalt bleibt lückenhaft dokumentiert und die Dienste für Überlebende sind unzureichend (HRW 13.1.2021). Mehrere Politiker und Experten, die sich für ein robustes Gesetz gegen häusliche Gewalt einsetzen, berichteten von Drohungen gegen sie und ihre Familien, unter anderem durch diejenigen, die behaupten, 'traditionelle' oder 'familiäre' Werte zu fördern (HRW 13.1.2021; vgl. AI 16.4.2020). Russlands Ombudsperson stellte fest, dass die häusliche Gewalt während der Covid-19-Pandemie zugenommen hat und sich die gemeldeten Fälle während des Lockdowns im Frühjahr 2020 mehr als verdoppelt haben (HRW 13.1.2021).

Vergewaltigung ist illegal und das Gesetz sieht dieselbe Strafe für einen Täter vor, egal ob er aus der Familie stammt oder nicht. Das Strafmaß für Vergewaltigung sind drei bis sechs Jahre Haft für einen Einzeltäter mit zusätzlicher Haft bei erschwerenden Umständen. Laut NGOs würden Exekutivbeamte und Staatsanwälte Vergewaltigung durch Ehemänner bzw. durch Bekannte keine Priorität einräumen (US DOS 11.3.2020). NGOs berichten außerdem, dass lokale Polizisten sich weigern würden, auf Anrufe in Bezug auf Vergewaltigung und häusliche Gewalt zu reagieren, solange sich das Opfer nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befindet (US DOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017).

NGOs stellten fest, dass der Zugang zu Notunterkünften oft kompliziert ist, da sie einen Wohnsitznachweis in dieser bestimmten Gemeinde sowie einen Nachweis über den Status eines Niedrigeinkommens benötigen. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und stehen den Opfern deshalb nicht zur Verfügung (US DOS 11.3.2020). Krisenzentren und Notunterkünfte von NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen. Diese sind auf staatlicher Ebene oft nicht verfügbar und es gibt Fälle, in denen Frauen, bevor sie in NGO-Einrichtungen kamen, von staatlichen Einrichtungen abgewiesen wurden (HRW 10.2018). Aufgrund finanzieller Engpässe und staatlicher Beschränkungen bei der Beschaffung ausländischer Mittel haben NGOs Schwierigkeiten, ausreichend viele Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. In Großstädten gibt es staatliche Unterkünfte, die dringende Hilfe, wie zum Beispiel 'Krisenwohnungen' zur Verfügung stellen können. Neben staatlichen und NGO-Einrichtungen gibt es auch religiöse Einrichtungen der Russisch-Orthodoxen, der Katholischen und der Baptisten-Kirche, die Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe bereitstellen. Um in eine staatliche Einrichtung aufgenommen zu werden, müssen Frauen oft eine ganze Reihe von Dokumenten mitbringen, wie beispielsweise Meldezettel, Reisepass, eine Überweisung von Sozial- oder Kinderschutzdiensten, eine persönliche schriftliche Erklärung, warum die Person Hilfe benötigt, ärztliche Atteste mit Angaben zu allen Impfungen und in einigen Fällen sogar Röntgenaufnahmen. Wenn eine Frau Kinder hat, muss sie auch für jedes ihrer Kinder Gesundheitsunterlagen vorlegen. Der Prozess der Beschaffung all dieser Dokumente kann bis zu zwei Wochen dauern, in einigen Fällen auch länger (HRW 10.2018).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 19.2.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 24.2.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 19.2.2021

 HRW – Human Rights Watch (11.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 19.2.2021

 HRW – Human Rights Watch (10.2018): 'I Could Kill You and No One Would Stop Me' Weak State Response to Domestic Violence in Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1447924/3175_1540546740_russia1018-web3.pdf , Zugriff 5.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 19.2.2021

 Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 5.3.2021

 Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 5.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 5.3.2021

Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien

Letzte Änderung: 28.05.2021

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021), aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu gibt es kaum. Die Gewalt gegen Frauen bleibt in der Region ein Thema, dem von Seiten der Regional- und Zentralbehörden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach Traditionen als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer 'Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit' (ÖB Moskau 6.2020). Die Heirat einer 17-jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 13.2.2019).

Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Republiksoberhaupt Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Nach Aussagen eines tschetschenischen Rechtsanwalts werden Frauen sowohl nach islamischem als auch nach dem Adatrecht hoch geschätzt. Die Wirklichkeit im Tschetschenien von heute sieht jedoch so aus, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet ist und sich die Lage für Frauen äußerst schwierig gestaltet (EASO 9.2014; vgl. Welt.de 14.2.2017, openDemocracy 7.8.2020). Gewalttätige Ehemänner werden selten bestraft, die Schuld wird üblicherweise der Frau zugeschoben (openDemocracy 7.8.2020). Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position (EASO 9.2014; vgl. Welt.de 14.2.2017). Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont – sich eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014).

Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag (Welt.de 14.2.2017; vgl. openDemocracy 7.8.2020). Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich der Unterstützung nordkaukasischer Frauen und bieten etwa psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: z.B. die Organisationen 'Women for Development' und 'SINTEM' in Tschetschenien und 'Mat‘ i Ditja' (Mutter und Kind) in Dagestan (ÖB Moskau 6.2020). Im Jahr 2019 eröffnete in Tschetschenien die Organisation Women for Development - eine der ältesten und angesehensten Organisationen in Tschetschenien - mit Unterstützung des Zuschussprogramms für NGOs ein Krisenzentrum für Frauen. Es gab auch Pläne, ein Frauenhaus zu eröffnen; aufgrund der engen familiären Bindungen, die in der Republik herrschen, wäre es aber schwierig gewesen, die Einrichtung vor Männern und ihren Familien geheim zu halten, darum scheiterte dieses Vorhaben. Beamte haben das hohe Maß an Scheidung und häuslicher Gewalt anerkannt und ein Komitee zur Verhütung von Familienkonflikten unter dem Spirituellen Ausschuss der Muslime der Republik Tschetschenien eingerichtet. Mehrere NGOs, die Teil der Koalition der Frauen-NGOs im Nordkaukasus sind, arbeiten an den Themen häusliche Gewalt und Unterstützung für Frauen. 'Zulässige' Themen müssen jedoch in die allgemeine Logik traditioneller, kultureller, spiritueller, religiöser und nationaler Bräuche und Werte passen. Es ist auch wichtig anzumerken, dass die Mehrheit der NGO-Direktoren und Mitarbeiter in Tschetschenien Frauen sind. Der Ausweg aus der humanitären Nachkriegskrise lag direkt auf den Schultern der Frauen, da sich die Mehrheit der männlichen Bevölkerung nicht frei bewegen konnte und ständigen Bedrohungen und Kontrollen ausgesetzt war. Da Frauen in Tschetschenien, als Folge der lokalen traditionellen Kultur, als verantwortlich für Empathie und Fürsorge angesehen werden, sind sie diejenigen, die die meisten gemeinnützigen und sozialen Projekte zusammenstellen, als Psychologinnen arbeiten, sich freiwillig für Kinder engagieren und sich mit den Themen von Familien mit niedrigem Einkommen und Menschen mit Behinderungen beschäftigen (CSIS 1.2020).

In Dagestan werden Geschlechterfragen und Frauenrechte in der Arbeit von Malikat Jabirowas Organisation 'Mat i Ditja' (Mutter und Kind) sowie von der unabhängigen Journalistin Swetlana Anochina mit ihrem 'Daptar'-Projekt und ihrer Gruppe 'Väter und Töchter' behandelt, obwohl diese Initiativen nicht die einzigen sind, die in diesem Bereich aktiv sind (CSIS 1.2020).

Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt, trotzdem ist davon auszugehen, dass Vergewaltigung in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet ist. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigungen passieren auch in Polizeistationen. Es handelt sich um ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an. Sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie wird isoliert und stigmatisiert, und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als an der Vergewaltigung schuldig angesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014). Die Täter werden oft nicht bestraft (openDemocracy 7.8.2020).

Es ist in Tschetschenien üblich, die Ehe auf muslimische Art – durch einen Imam – zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Standesbeamten geschlossen noch registriert ist. Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).

In den letzten Jahren repatriierte Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weitere Kinder sei geplant (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien war es weiblichen Rückkehrerinnen gestattet, nach Hause zurückzukehren, in Dagestan wurden Frauen, angesichts aktiver weiblicher Beteiligung im Aufstand, als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und zu ca. sieben Jahren Haft verurteilt, wobei die Haftstrafe aufgrund Fürsorgepflichten für kleine Kinder aufgeschoben wurde, bis die Kinder 14 Jahre alt sind (ÖB Moskau 6.2020; vgl. The Guardian 2.3.2019).

Weibliche Beschneidung kommt in Teilen von Dagestan vor. Etwa 1240 Mädchen werden jährlich einer Genitalverstümmelung unterzogen (Human Rights Center 'Memorial'; OVD-Info; Stichting Justice Initiative; et al. 6.2020; vgl. Caucasian Knot 19.6.2020). In Tschetschenien wurden ältere Frauen einer weiblichen Beschneidung unterzogen (Caucasian Knot 19.6.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 24.2.2021

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 Caucasian Knot (19.6.2020): Dagestan becomes centre of female circumcision problem in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51240/ , Zugriff 9.4.2021

 CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://www.csis.org/analysis/civil-society-north-caucasus , Zugriff 24.2.2021

 EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautenführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf , Zugriff 24.2.2021

 Human Rights Center 'Memorial'; OVD-Info; Stichting Justice Initiative; et al. (Autor), veröffentlicht von UN Human Rights Committee (6.2020): Russia’s Compliance with the International Covenant on Civil and Political Rights; Suggested List of Issues; Submitted for the consideration of the 8th periodic report by the Russian Federation for the 129th Session of the Human Rights Committee, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CCPR/Shared%20Documents/RUS/INT_CCPR_ICO_RUS_42488_E.pdf , Zugriff 9.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 19.2.2021

 openDemocracy (7.8.2020): After a Chechen woman died, a journalist was targeted with death threats. Here’s why, https://www.opendemocracy.net/en/odr/after-a-chechen-woman-died-a-journalist-was-targeted-with-death-threats-heres-why/ , Zugriff 30.3.2021

 The Guardian (2.3.2019): 'We aren't dangerous': Why Chechnya has welcomed women who joined Isis, https://www.theguardian.com/world/2019/mar/02/we-arent-dangerous-why-chechnya-has-welcomed-women-who-joined-isis , Zugriff 19.2.2021

 Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein – das ist eine Last, https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-ist-eine-Last.html , Zugriff 19.2.2021

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Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 10.06.2021

In der Russischen Föderation herrscht laut Gesetz Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 11.3.2020). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese Rechte jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber ca. vier Millionen Mitarbeiter des Militär- und Sicherheitsdiensts wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (US DOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021).

Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestanern etc.], das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Wer zur Miete wohnt, benötigt eine Bescheinigung seines Vermieters und wird damit vorläufig registriert. In diesen Fällen erfolgt keine Eintragung in den Inlandspass (AA 2.2.2021). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein [bez. Registrierung vgl. Kapitel Meldewesen] (FH 3.3.2021).

Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen; 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 2.2.2021; vgl. ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017).

Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 2.2.2021). Personen, die innerhalb des Landes reisen, müssen ihren Inlandsreisepass mit sich führen (US DOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018; vgl. FH 3.3.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 6.4.2021

 ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against Extremism in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf , Zugriff 6.4.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 6.4.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 6.4.2021

Meldewesen

Letzte Änderung: 10.06.2021

Laut Gesetz müssen sich Bürger der Russischen Föderation an ihrem permanenten und temporären Wohnort registrieren (EASO 8.2018; vgl. AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020). Die Registrierung ist nichts anderes als eine Benachrichtigung für die Behörde, wo eine Person wohnt, und funktioniert relativ problemlos (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018). Die Registrierung des Wohnsitzes erfolgt entweder in einer lokalen Niederlassung des Innenministeriums (MVD), über das Onlineportal für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi oder per E-Mail (nur für die temporäre Registrierung). Man kann neben einer permanenten Registrierung auch eine temporäre Registrierung haben, z.B. in einem Hotel, in einer medizinischen Einrichtung, in einem Gefängnis, in einer Wohnung, etc. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu ändern. Hierzu muss man die permanente Registrierung innerhalb von sieben Tagen ändern. Um sich zu registrieren, braucht man einen Pass, einen Antrag auf Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man berechtigt ist, sich an einer bestimmten Adresse zu registrieren, wie z.B. einen Mietvertrag. Die permanente Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Die Beendigung einer permanenten Registrierung muss von der jeweiligen Person veranlasst werden. Dies muss aber nicht bei den Behörden an der alten Adresse geschehen, sondern kann von der neuen Adresse aus beantragt werden. Auch die Beendigung einer Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt (EASO 8.2018).

Wenn eine Person vorübergehend an einer anderen Adresse als dem Hauptwohnsitz (permanente Registrierung) wohnt, muss eine temporäre Registrierung vorgenommen werden, wenn der Aufenthalt länger als 90 Tage dauert. Die Registrierung einer temporären Adresse beeinflusst die permanente Registrierung nicht. Für die temporäre Registrierung braucht man einen Pass, einen Antrag auf temporäre Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man zur Registrierung berechtigt ist. Nach der Registrierung bekommt man ein Dokument, das die temporäre Registrierung bestätigt. Die temporäre Registrierung endet automatisch mit dem Datum, das man bei der Registrierung angegeben hat. Eine temporäre Registrierung in Hotels, auf Camping-Plätzen und in medizinischen Einrichtungen endet automatisch, wenn die Person die Einrichtung verlässt. Wenn eine Person früher als geplant den temporären Wohnsitz verlässt, sollten die Behörden darüber in Kenntnis gesetzt werden (EASO 8.2018).

Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe (Arbeitslosengeld, Pension, etc.) und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (BAA 12.2011; vgl. ÖB Moskau 6.2020).

Es kann für alle Bürger der Russischen Föderation zu Problemen beim Registrierungsprozess kommen. Es ist möglich, dass Migranten aus dem Kaukasus zusätzlich kontrolliert werden (ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017). In der Regel ist die Registrierung aber auch für Tschetschenen kein Problem, auch wenn es möglicherweise zu Diskriminierung oder korruptem Verhalten seitens der Beamten kommen kann. Im Endeffekt bekommen sie die Registrierung (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021

 ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against Extremism in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf , Zugriff 6.4.2021

 BAA Staatendokumentation [Österreich] (12.2011): Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation. Bericht zum Forschungsaufenthalt Russische Föderation – Republik Tschetschenien

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 6.4.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf , Zugriff 6.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 6.4.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 6.4.2021

Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und Westeuropas

Letzte Änderung: 10.06.2021

Die Bevölkerung in Tschetschenien ist inzwischen laut offiziellen Zahlen auf 1,5 Millionen angewachsen. Laut Aussagen des Republiksoberhaupts Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020). Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die Republik verlassen. Sie zogen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. In Tschetschenien arbeiten viele Personen im informellen Sektor und gehen daher zum Arbeiten in andere Regionen, um Geld nach Hause schicken zu können. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation (EASO 8.2018). Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen) (EASO 8.2018; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung die ethnische Zugehörigkeit nicht angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Region Wolgograd um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Viele Tschetschenen leben dort seit 30 Jahren und sind in unterschiedlichsten Bereichen tätig. In St. Petersburg beispielsweise sollen laut Volkszählung knapp 1.500 Tschetschenen leben, aber allein während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) kamen 10.000 Tschetschenen aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen in Tschetschenien in die Stadt, um in St. Petersburg zu leben und zu arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der tschetschenischen Bevölkerung dort ist unterschiedlich, aber die meisten sprechen ihre Landessprache und halten die nationalen Traditionen hoch. Tschetschenen in St. Petersburg sehen sich selbst nicht unbedingt als eine engmaschige Diaspora. Sie werden eher durch kulturelle Aktivitäten, die beispielsweise durch die offizielle Vertretung der tschetschenischen Republik oder den sogenannten „Wajnach-Kongress“ (eine Organisation, die oft auch als 'tschetschenische Diaspora' bezeichnet wird) veranstaltet werden, zusammengebracht. Auch in Moskau ist die Anzahl der Tschetschenen um einiges höher, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gründe hierfür sind, dass viele Tschetschenen nicht an Volkszählungen teilnehmen wollen, oder auch, dass viele Tschetschenen zwar in Moskau leben, aber in Tschetschenien ihren Hauptwohnsitz registriert haben [vgl. hierzu Kapitel Bewegungsfreiheit, bzw. Meldewesen] (EASO 8.2018). In vielen Regionen gibt es offizielle Vertretungen der tschetschenischen Republik, die kulturelle und sprachliche Programme organisieren und auch die Rechte von einzelnen Personen schützen (Telegraph 24.2.2016; vgl. EASO 8.2018). Diese kleinen Büros versuchen auch, den Handel zwischen den Regionen zu fördern. In ganz Russland gibt es ein Netz von 50 dieser offiziellen Vertretungen der tschetschenischen Republik. Obwohl es den Büros prinzipiell möglich wäre, Informationen zu einer bestimmten Person nach Grosny weiterzuleiten, können diese Vertretungen nicht als Knotenpunkt für das Sammeln von Informationen angesehen werden. Sie tätigen auch sonst keine weiteren, direkteren Aktionen. Obwohl die tschetschenischen Gemeinden in Russland Kadyrow teilweise behilflich bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker sind, scheint es keine Beweise zu geben, dass sie Informationen weitergeben (Galeotti 2019).

Laut einer Analyse der Jamestown Foundation soll die tschetschenische Diaspora in Europa rund 150.000 Personen umfassen, die tschetschenische Diaspora in Österreich zählt rund 35.000 Personen. Das tschetschenische Republiksoberhaupt hat verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Abgesehen davon sind auch vereinzelte Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt geworden. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können (ÖB Moskau 6.2020). Viele Personen innerhalb der Elite, einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates, misstrauen und verachten Kadyrow (Al Jazeera 28.11.2017). Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gelten dessen Möglichkeiten zur Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht ausgeschlossen werden (ÖB Moskau 6.2020).

Grundsätzlich können Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens an einen anderen Ort in der Russischen Föderation flüchten und dort leben. Dies gilt für alle Einwohner des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es für die Behörden möglich, diesen aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen. Dies gilt nach Einschätzung von Experten aber auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist (ÖB Moskau 6.2020). Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen (AA 2.2.2021). Es kann sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Wege zurückgreifen, da diese häufig lang dauern und so ein Fall auch schlüssig begründet sein muss (DIS 1.2015). Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission- davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (Galeotti 2019). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich aber häufig auch in russischen Großstädten vor Ramsan Kadyrow nicht sicher (AA 2.2.2021), da bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, auch in Moskau präsent sind (AA 2.2.2021; vgl. EASO 8.2018, New York Times 17.8.2017). Wie viele bewaffnete tschetschenische Kräfte es in Moskau gibt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist immer wieder die Rede davon, dass Kadyrow tausend, wenn nicht sogar Tausende Loyalisten aufbringen kann, die fähig und bereit sind, gegen das Gesetz zu handeln. Dies scheint jedoch höchst fragwürdig. Es gibt auch weniger als hundert Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind und berechtigt sind, in Moskau zu operieren (Galeotti 2019).

Relative Anonymität und Sicherheit bieten russische Städte, die groß genug sind, um als Neuankömmling nicht aufzufallen, und die weniger stark polizeilich überwacht sind als beispielsweise Moskau und St. Petersburg. Moskau und St. Petersburg sind insofern 'gefährlicher', als sie tendenziell dichter kontrolliert werden, ihre Kommunikationsinfrastruktur moderner ist und die Behörden wachsamer sind. Viel schwieriger ist es, sich in Moskau versteckt zu halten, da hier zum Beispiel viele Dokumentenkontrollen durchgeführt werden, routinemäßig bei Benutzung der U-Bahn die Registrierungen von Mobiltelefonen überprüft und neue Gesichtserkennungssysteme erprobt werden, die mit Straßenkameras verbunden sind. In geringerem Maße gilt vieles davon auch für St. Petersburg (Galeotti 2019).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021

 Al Jazeera (28.11.2017): Is Chechnya's Kadyrov really 'dreaming' of quitting? https://www.aljazeera.com/opinions/2017/11/28/is-chechnyas-kadyrov-really-dreaming-of-quitting , Zugriff 6.4.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf , Zugriff 6.4.2021

 Galeotti, Mark (2019): License to kill? The risk to Chechens inside Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2012286/Galeotti-Mayak-RUF-2019-06-License+to+Kill+-+Chechens+in+the+RF+2019.pdf , Zugriff 6.4.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 6.4.2021

 New York Times (17.8.2017): Is Chechnya Taking Over Russia?, https://www.nytimes.com/2017/08/17/opinion/chechnya-ramzan-kadyrov-russia.html?ref=opinion , Zugriff 6.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 6.4.2021

 Telegraph (24.2.2016): Ramzan Kadyrov: Putin's 'sniper' in Chechnya, http://s.telegraph.co.uk/graphics/projects/Putin-Ramzan-Kadyrov-Boris-Nemtsov-Chechnya-opposition-Kremlin/index.html, Zugriff 6.4.2021

Grundversorgung

Letzte Änderung: 10.06.2021

2019 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 49% (WKO 4.2021). Die Arbeitslosigkeit befindet sich im Landesdurchschnitt auf einem moderaten Niveau (GIZ 1.2021b) und wird für das Jahr 2021 auf 5,2% prognostiziert (Statista 19.10.2020). Sie kann regional jedoch stark abweichen. Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2019). Das BIP lag 2020 bei ca. 1.474 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht einem Rückgang um ca. 3%(WKO 4.2021).

Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der weltweiten Gasreserven (25,2%), circa 6,3% der weltweiten Ölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2020 den 94. Platz [2019 Platz 98] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftsministerium prognostiziert für das Wirtschaftswachstum 2021 nur ein Plus von 2,8%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 1.2021b).

Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Beeinträchtigungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €] entspricht. Die russische Akademie der Wissenschaften veranschlagt das tatsächliche erforderliche Existenzminimum dagegen bei 33.000 Rubel [ca. 366 €]. Vollbeschäftigte erhalten den Mindestlohn (derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €]), der jährlich zum 1.1. auf die Höhe des Existenzminimums im 2. Quartal des Vorjahres angehoben wird. Für Einkommen unter dem Existenzminimum besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit sechs Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20% für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Auch Migranten verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 2.2.2021).

Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg, ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes bis Ende Juli 2021 beschlossen (Presse.com 10.12.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/russland/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 18.2.2021

 IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2 , Zugriff 18.2.2021

 Presse.com (10.12.2020): EU verlängerte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, https://www.diepresse.com/5909916/eu-verlangerte-wirtschaftssanktionen-gegen-russland , Zugriff 18.2.2021

 Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 4.2.2020

 Statista (19.10.2020): Russland: Arbeitslosenquote von 1992 bis 2019 und Prognosen bis 2025, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17339/umfrage/arbeitslosenquote-in-russland/ , Zugriff 21.4.2021

 WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (4.2021): Länderprofil Russland, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-russland.pdf?_gl=1 *2opol5*_ga*MTMwODMzNzE3OC4xNjE4OTg5NzU3*_ga_4YHGVSN5S4*MTYxODk4OTc1Ni4xLjEuMTYxODk4OTc1OS41Nw.., Zugriff 21.4.2021

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 10.06.2021

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 1.2021a; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Die Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus ist laut Experten unter den höchsten in Russland. Im Zuge eines Austausches der österreichischen Botschaft mit dem Nordkaukasus-Ministerium im Oktober 2018 wurden von russischer Seite die umfassenden Anstrengungen zur sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus geschildert, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft und des Tourismus. Bei einer Sitzung zur Entwicklung der Region Nordkaukasus im Juni 2020 gab der Vertreter der russischen Regierung allerdings an, dass trotz föderaler Programme zur Unterstützung der Region diese bisher zu keiner entscheidenden Veränderung der sozio-ökonomischen Entwicklung geführt haben (ÖB Moskau 6.2020). Trotzdem ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 2.2.2021).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien mit September 2020 bei 23.783 Rubel [ca. 264 €], landesweit bei 49.516 Rubel [ca. 550 €] (Rosstat 19.11.2020). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im Februar 2021 bei 13.484 Rubel [ca. 150 €] (Chechenstat 2021), landesweit im ersten Quartal 2020 bei 14.924 Rubel [ca. 166 €] (GKS.ru 7.5.2020). Das durchschnittliche Existenzminimum für das vierte Quartal 2020 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 11.572 Rubel [ca. 129 €], für Pensionisten bei 9.196 Rubel [ca. 102 €] und für Kinder bei 11.294 Rubel [ca. 125 €] (Chechenstat 2021). Landesweit liegt das durchschnittliche Existenzminimum für das Jahr 2021 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 12.702 Rubel [ca. 141 €], für Pensionisten bei 10.022 Rubel [ca. 111 €] und für Kinder bei 11.303 Rubel [ca. 126 €] (RIA Nowosti 9.1.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021

 Chechenstat [Tschetschenien] (2021): Оперативные показатели (Operative Indikatoren), https://chechenstat.gks.ru/ , Zugriff 6.4.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 6.4.2021

 GKS.ru [Russische Föderation] (7.5.2020): Динамика среднего размера назначенных пенсий (Dynamik der durchschnittlichen Größe der zugewiesenen Pensionen), https://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/urov/doc3-1-1.htm , Zugriff 6.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 6.4.2021

 RIA Nowosti (9.1.2021): Прожиточный минимум в России в 2021 году составит 11 653 рубля (Existenzminimum in Russland im Jahr 2021 wird 11 653 Rubel betragen), https://ria.ru/20210109/minimum-1592375522.html , Zugriff 6.4.2021

 Rosstat [Russische Föderation] (19.11.2020): Квартальная оценка среднемесячной начисленной заработной платы наёмных работников в организациях, у индивидуальных предпринимателей и физических лиц (Vierteljährliche Schätzung des durchschnittlichen Monatslohns), https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/jI7yx5Pa/ozenka-zar.htm , Zugriff 6.4.2021

Sozialbeihilfen

Letzte Änderung: 10.06.2021

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).

Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).

Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2019). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).

Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2019). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:

 Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);

 Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);

 Familien mit geringem Einkommen;

 Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).

Familienbeihilfe

Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2019). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).

Mutterschaft

Mutterschaftsurlaub kann für bis zu 140 Tage bei vollem Gehaltsbezug beantragt werden (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann der Urlaub auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40-Stunden-Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130 €) und der Maximalbetrag bei 61.327 Rubel (ca. 840 €) (IOM 2019). Weiters gibt es landesweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung vor der 12. Schwangerschaftswoche und seit 2020 Lohnersatzzahlungen von 40% in den ersten drei Jahren der Elternzeit. Mütter haben auch Anspruch auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahr des Kindes. Bezüglich Betreuungseinrichtungen von Kindern ist zu sagen, dass die Gebühren dafür niedrig sind und hohe Vergünstigungen bei zunehmender Kinderanzahl bieten. Obwohl das Angebot von Betreuungseinrichtungen regional variiert, gibt es im Allgemeinen ein breites Versorgungsnetz (Russland Analysen 21.2.2020b).

Mutterschaftskapital

Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich (RBTH 22.4.2017). Ab dem 1.1.2020 wird das Mutterschaftskapital in Russland erhöht (Russland Capital 7.6.2019). Es beträgt derzeit 616.000 Rubel [ca. 6.835 €] (AA 2.2.2021). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt, und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil dies zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017). Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt, und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden und auf die Geburt des ersten Kindes ausgeweitet werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).

Behinderung

Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2019). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021).

Arbeitslosenunterstützung

Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollten Bewerber diesen zurückweisen, werden sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 8.000 Rubel (ca. 111 €). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2019).

Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen

Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 2.2.2021). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei ca 3.200 Rubel (ca. 44 €) (IOM 2019).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 18.2.2021

 IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2 , Zugriff 18.2.2021

 RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise, https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881 , Zugriff 18.3.2020

 Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 4.2.2020

 Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 4.2.2020

 Russland Capital (7.6.2019): Das Mutterschaftskapital wird auf 470.000 Rubel erhöht, https://www.russland.capital/das-mutterschaftskapital-wird-auf-470-000-rubel-erhoeht , Zugriff 18.3.2020

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 10.06.2021

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land [bitte vergleichen Sie hierzu die Kapitel zu Bewegungsfreiheit, insbesondere Meldewesen]. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem 'Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung' garantierten Umfang (ÖB Moskau 6.2020). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).

Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2020). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden (IOM 2019). An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt (ÖB Moskau 6.2020).

Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vgl. Ostexperte 22.9.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 1.2021c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 1.2021c; vgl. AA 2.2.2021). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 6.2020).

Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Einrichtung und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht, die medizinische Einrichtung nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Dies bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem 'zuständigen' Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem 'zuständigen' Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Einrichtung durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Einrichtungen zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 6.2020).

Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 6.2020). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). In Notfällen sind Medikamente in Kliniken, wie auch an Ambulanzstationen, kostenfrei erhältlich. Für gewöhnlich kaufen russische Staatsbürger ihre Medikamente jedoch selbst. Bürgern mit speziellen Krankheiten wird Unterstützung gewährt, u.a. durch kostenfreie Medikamente, Behandlung und Transport. Die Kosten für Medikamente variieren, feste Preise bestehen nicht (IOM 2019). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann. Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben, weshalb die Zustände in manchen Krankenhäusern schlecht sind, medizinische Ausrüstungen veraltet und die Ärzte überlastet und unterbezahlt. Probleme gibt es deshalb mitunter bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten in der Russischen Föderation, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB Moskau 6.2020). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Die Wege zu einer medizinischen Einrichtung auf dem Land können mehrere Hundert Kilometer betragen. Hauptprobleme stellen jedoch die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen dar. Sie führen zu einem großen Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können sogar mehrere Monate betragen. In vielen Regionen wie bspw. Tschetschenien wurden moderne Krankenhäuser und Behandlungszentren aufgebaut. Ihr Betrieb ist jedoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal oft erschwert (AA 2.2.2021).

Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu die Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen) (DIS 1.2015).

Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 6.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.2.2021

 GTAI – German Trade and Invest (27.11.2018): Russlands Privatkliniken glänzen mit hohem Wachstum, https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche ,t=russlands-privatkliniken-glaenzen-mit-hohem-wachstum,did=2183416.html, Zugriff 17.2.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 17.2.2021

 IOM – International Organisation of Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2 , Zugriff 17.2.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 17.2.2021

 Ostexperte.de (22.9.2017): Privatkliniken in Russland immer beliebter, https://ostexperte.de/russland-privatkliniken/ , Zugriff 17.2.2021

Tschetschenien

Letzte Änderung: 10.06.2021

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).

Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, Schwangere und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:

 infektiöse und parasitäre Krankheiten

 Tumore

 endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten

 Krankheiten des Nervensystems

 Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems

 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde

 Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes

 Krankheiten des Kreislaufsystems

 Krankheiten des Atmungssystems

 Krankheiten des Verdauungssystems

 Krankheiten des Urogenitalsystems

 Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett

 Krankheiten der Haut und der Unterhaut

 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes

 Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen

 Geburtsfehler und Chromosomenfehler

 bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben

 Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).

Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studierenden, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenpflegern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015; vgl. GIZ 1.2021c, AA 2.2.2021). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramsan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).

In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, welche aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).

Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 18.3.2020

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.2.2021

Gesundheitseinrichtungen in Tschetschenien

Letzte Änderung: 10.06.2021

Gesundheitseinrichtungen, die die ländlichen Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:

'Achkhoy-Martan RCH' (regional central hospital), 'Vedenskaya RCH', 'Grozny RCH', 'Staro-Yurt RH' (regional hospital), 'Gudermessky RCH', 'Itum-Kalynskaya RCH', 'Kurchaloevskaja RCH', 'Nadterechnaye RCH', 'Znamenskaya RH', 'Goragorsky RH', 'Naurskaya RCH', 'Nozhai-Yurt RCH', 'Sunzhensk RCH', Urus-Martan RCH', 'Sharoy RH', 'Shatoïski RCH', 'Shali RCH', 'Chiri-Yurt RCH', 'Shelkovskaya RCH', 'Argun municipal hospital N° 1' und 'Gvardeyskaya RH' (BDA CFS 31.3.2015).

Gesundheitseinrichtungen, die alle Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:

'The Republican hospital of emergency care' (former Regional Central Clinic No. 9), 'Republican Centre of prevention and fight against AIDS', 'The National Centre of the Mother and Infant Aymani Kadyrova', 'Republican Oncological Dispensary', 'Republican Centre of blood transfusion', 'National Centre for medical and psychological rehabilitation of children', 'The Republican Hospital', 'Republican Psychiatric Hospital', 'National Drug Dispensary', 'The Republican Hospital of War Veterans', 'Republican TB Dispensary', 'Clinic of pedodontics', 'National Centre for Preventive Medicine', 'Republican Centre for Infectious Diseases', 'Republican Endocrinology Dispensary', 'National Centre of purulent-septic surgery', 'The Republican dental clinic', 'Republican Dispensary of skin and venereal diseases', 'Republican Association for medical diagnostics and rehabilitation', 'Psychiatric Hospital ‘Samashki’, 'Psychiatric Hospital ‘Darbanhi’', 'Regional Paediatric Clinic', 'National Centre for Emergency Medicine', 'The Republican Scientific Medical Centre', 'Republican Office for forensic examination', 'National Rehabilitation Centre', 'Medical Centre of Research and Information', 'National Centre for Family Planning', 'Medical Commission for driving licenses' und 'National Paediatric Sanatorium ‘Chishki’' (BDA CFS 31.3.2015).

Städtische Gesundheitseinrichtungen in Grosny sind:

'Clinical Hospital N° 1 Grozny', 'Clinical Hospital for children N° 2 Grozny', 'Clinical Hospital N° 3 Grozny', 'Clinical Hospital N° 4 Grozny', 'Hospital N° 5 Grozny', 'Hospital N° 6 Grozny', 'Hospital N° 7 Grozny', 'Clinical Hospital N° 10 in Grozny', 'Maternity N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 1 in Grozny', 'Polyclinic N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 3 in Grozny', 'Polyclinic N° 4 in Grozny', 'Polyclinic N° 5 in Grozny', 'Polyclinic N° 6 in Grozny', 'Polyclinic N° 7 in Grozny', 'Polyclinic N° 8 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 1', 'Paediatric polyclinic N° 3 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 4 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 5', 'Dental complex in Grozny', 'Dental Clinic N° 1 in Grozny', 'Paediatric Psycho-Neurological Centre', 'Dental Clinic N° 2 in Grozny' und 'Paediatric Dental Clinic of Grozny' (BDA CFS 31.3.2015).

Quellen:

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

[…]

Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten, z.B. Posttraumatisches Belastungssyndrom PTBS/PTSD, Depressionen, etc.

Letzte Änderung: 10.06.2021

Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (BMA 12248).

Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind in der gesamten Russischen Föderation behandelbar (BMA 12248). Dies gilt auch für Tschetschenien (BMA 14483). Während es in Moskau unterschiedliche Arten von Therapien gibt (Kognitive Verhaltenstherapie, Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen [EMDR] und Narrative Expositionstherapie), um PTBS zu behandeln (BMA 14271), gibt es in Tschetschenien eine begrenzte Anzahl von Psychiatern, die Psychotherapien wie kognitive Verhaltenstherapie und Narrative Expositionstherapie anbieten (BMA 14483). Diverse Antidepressiva sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar (BMA 12132, BMA 14483).

Wie in anderen Teilen Russlands werden auch in Tschetschenien psychische Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt, und es gibt nur selten eine Therapie. Die Möglichkeiten für psychosoziale Therapie oder Psychotherapie sind aufgrund des Mangels an notwendiger Ausrüstung, Ressourcen und qualifiziertem Personal in Tschetschenien stark eingeschränkt. Es gibt keine spezialisierten Institutionen für PTBS, jedoch sind Nachsorgeuntersuchungen und Psychotherapie möglich. Ambulante Konsultationen und Krankenhausaufenthalte sind im Republican Psychiatric Hospital of Grozny für alle in Tschetschenien lebenden Personen kostenlos. Auf die informelle Zuzahlung wird hingewiesen. Üblicherweise zahlen Personen für einen Termin wegen psychischer Probleme zwischen 700-2.000 Rubel (ca. 8-24€). In diesem Krankenhaus ist die Medikation bei stationärer und ambulanter Behandlung kostenfrei (BDA 31.3.2015).

Folgende häufig angefragte Inhaltsstoffe von Antidepressiva sind verfügbar (v.a. auch in Tschetschenien):

Sertralin (BMA 12132, BMA 14483)

Escitalopran (BMA 12248, BMA 12977)

Paroxetin (BMA 12863, BMA 14483)

Citalopram (BMA 12977)

Fluoxetin (BMA 14483)

Quellen:

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 International SOS via MedCOI (3.4.2019): BMA 12248

 International SOS via MedCOI (18.11.2019): BMA 12977

 International SOS via MedCOI (12.2.2021): BMA 14483

 International SOS via MedCOI (10.3.2020): BMA 12863

 International SOS via MedCOI (25.2.2019): BMA 12132

 International SOS via MedCOI (14.12.2020): BMA 14271

Behandlungsmöglichkeiten HIV/AIDS / Hepatitis / Tuberkulose

Letzte Änderung: 10.06.2021

Ein ernstes Problem bleibt die Bekämpfung von HIV/AIDS. Der Anteil der AIDS-Kranken an der Bevölkerung wächst in Russland schneller als im Rest der Welt. Bis zu 1,7% der Bevölkerung sind mit HIV infiziert. Bei den 35–39-Jährigen sind es sogar 3,2%. Die Zahl der Neuinfizierten steigt jährlich um mehr als 100.000. Die Krankheit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Eine 'Nationale Strategie der AIDS-Bekämpfung' soll die Verbreitung eindämmen. Da jedoch ein korrespondierender Umsetzungsplan fehlt, bleibt die Lage weiterhin außer Kontrolle. Die Kosten der Behandlung werden nur für russische Bürger übernommen. Infizierte Migranten werden nicht behandelt (AA 2.2.2021). HIV/AIDS ist in der Russischen Föderation mittels bestimmter antiretroviraler Medikamente generell behandelbar (BMA 13876). Dies gilt auch für Tschetschenien (BDA 6757).

Hepatitis ist in der Russischen Föderation generell behandelbar (BMA 12364).

Tuberkulose ist beispielsweise im Central Scientific Research Institute of Tuberculosis in Moskau behandelbar (BMA 13699). In Tschetschenien beispielsweise ist Tuberkulose in jedem Teil der Republik generell behandelbar, z.B. in Gudermes, Naderetchnyj, Shali, Shelkovskyj und Grosny. Es gibt in Grosny auch eine eigene Tuberkulose-Abteilung für Kinder (BDA 31.3.2015). In Moskau beispielsweise werden auch die Kosten für die Behandlung der häufig vorkommenden Krankheit Tuberkulose vom Moskauer Forschungs- und Klinikzentrum für Tuberkulosebekämpfung übernommen. Jeder, auch Migranten oder Obdachlose, haben Zugang zu diesen kostenlosen Gesundheitsleistungen (ÖB Moskau 6.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 25.2.2021

 International SOS via MedCOI (7.8.2020): BMA 13876

 International SOS via MedCOI (13.5.2019): BMA 12364

 International SOS via MedCOI (19.6.2020): BMA 13699

 Belgian Immigration Office (29.6.2018): Question & Answer, BDA 6757

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 17.2.2021

[…]

Behandlungsmöglichkeiten Nierenerkrankungen, Dialyse, Lebertransplantationen, Diabetes

Letzte Änderung: 10.06.2021

Nierenerkrankungen und (Hämo-)Dialyse sind sowohl in der Russischen Föderation als auch in Tschetschenien behandelbar bzw. verfügbar (BMA 12506, BDA 31.3.2015). Auch Diabetes ist in der Russischen Föderation behandelbar (BMA 12353). Es werden in Russland auch prinzipiell Transplantationen durchgeführt, jedoch muss man sich auf eine Warteliste setzen lassen (BDA 31.3.2015). Leberfunktionstests sind in der RF generell verfügbar, Lebertransplantationen sind in Moskau grundsätzlich verfügbar (AVA 14382). Krankenhäuser haben bestimmte Quoten bezüglich der Behandlungen von Personen (z.B. Lebertransplantation) aus anderen Regionen oder Republiken der Russischen Föderation. Um solch eine Behandlung außerhalb der Region des permanenten Aufenthaltes zu erhalten, braucht die Person eine Garantie von der regionalen Gesundheitsbehörde, dass die Kosten für die Behandlung rückerstattet werden (BDA 31.3.2015).

Quellen:

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 International SOS via MedCOI (12.7.2019): BMA 12506

 International SOS via MedCOI (8.5.2019): BMA 12353

 International SOS via MedCOI (7.1.2021): AVA 14382

Rückkehr

Letzte Änderung: 10.06.2021

Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Bei Ankunft in der Russischen Föderation müssen sich alle Rückkehrer am Ort ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren [vgl. Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen]. Dies gilt generell für alle russischen Staatsangehörigen, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert, und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 6.2020).

Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mithilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB Moskau 6.2020).

Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde, noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 6.2020).

Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten noch immer von willkürlichem Vorgehen der Polizei. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (auch ohne Durchsuchungsbefehle) finden bei diesen Personen häufiger statt (AA 2.2.2021).

Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen [vgl. Kapitel Sozialbeihilfen]. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an. Programme zur Unterstützung kleiner Unternehmen werden auf regionaler Ebene implementiert, aber die verfügbaren Fördersummen sind begrenzt. Projekte und Kandidaten werden deshalb auf Basis eines Auswahlverfahrens der jeweiligen Businesspläne bestimmt. Die Förderung kann in Form eines Zuschusses oder eines Kredites erfolgen (IOM 2019).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 25.2.2021

 IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2 , Zugriff 25.2.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 25.2.2020“

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zum Verfahrensgang:

Die Feststellungen zu den Verfahren der Beschwerdeführer ergeben sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesasylamtes bzw. des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und der Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.2. Zu den Feststellungen zu den Personen der Beschwerdeführer:

Die Feststellungen zu den Personalien, dem Familienstand, der Staatsangehörigkeit und der Volksgruppenzugehörigkeit der Beschwerdeführer gründen sich auf die diesbezüglich gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in ihren bisherigen Verfahren in Verbindung mit dem Auslandsreisepass des Erstbeschwerdeführers und der Heiratsurkunde des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin (AS 7, 103 und 185ff im Verwaltungsakt betreffend den Asylantrag des Erstbeschwerdeführers; AS 11, 127 und 129 im Verwaltungsakt betreffend den Asylantrag der Zweitbeschwerdeführerin).

Die Feststellungen zu den Geburtsorten, der Herkunft, der Ausbildung, den Sprachkenntnissen, der Berufsausübung und den Familienangehörigen der Beschwerdeführer in Tschetschenien sowie dem Kontakt zu diesen ergeben sich aus den diesbezüglich im Wesentlichen gleichbleibenden und nachvollziehbaren und daher glaubhaften Angaben der Beschwerdeführer (Seiten 6f, 17f und 21f der Niederschrift der mündlichen Verhandlung; AS 60 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers, AS 60f im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin, AS 50f im Verwaltungsakt der Drittbeschwerdeführerin; AS 105 im Verwaltungsakt betreffend den Asylantrag des Erstbeschwerdeführers, AS 193 im Verwaltungsakt betreffend den Asylantrag der Zweitbeschwerdeführerin).

Die Feststellungen zum Aufenthalt und den Lebensumständen der Beschwerdeführer in Österreich beruhen auf ihren plausiblen Angaben im gegenständlichen Verfahren (Seiten 6f, 17 und 20f der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) in Verbindung mit Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer und der Arbeitsfähigkeit der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin ergeben sich aus den im Verfahren vorgelegten medizinischen Unterlagen (Beilage ./1 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung, AS 69ff und 125 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers, OZ 7 in 2238609-1) in Verbindung mit den eigenen Angaben der Beschwerdeführer in der gegenständlichen Beschwerdeverhandlung (Seiten 5f, 16 und 20 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) und vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (AS 58f und 128 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers, AS 60 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin, AS 48 im Verwaltungsakt der Drittbeschwerdeführerin). Die Feststellungen zur Behandelbarkeit der Erkrankungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in der Russischen Föderation ergibt sich aus den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderberichten. Diesen ist zu entnehmen, dass medizinische Versorgung von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt wird und Staatsbürger im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung haben. Alle russischen Staatsbürger sind von der Pflichtversicherung erfasst; dies gilt auch für Rückkehrer. Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Zwar bleibt das Gesundheitssystem ineffektiv sowie unterfinanziert und existiert in der Praxis ein System der faktischen Zuzahlung durch Patienten bzw. wird teilweise die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen erwartet; zudem kann die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifikation der Ärzte landesweit variieren, wobei das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen meistens nur in den Großstädten vorhanden sind, und können die Wartezeiten auf eine Behandlung mehrere Monate betragen. Nichtsdestotrotz ist die medizinische Grundversorgung in der Russischen Föderation insgesamt und auch in Tschetschenien gesichert; Medikamente etwa gegen Krebs, Diabetes und für Krankheiten des Kreislauf-, Stoffwechsel- und Verdauungssystems werden kostenlos abgegeben und auch Nierenerkrankungen sind behandelbar. Die medizinische Versorgung umfasst auch die Behandlungsmöglichkeit von psychischen Krankheiten, auch wenn den Länderfeststellungen hervorgeht, dass es in Tschetschenien nur eine begrenzte Anzahl von Psychiatern, die Psychotherapien wie kognitive Verhaltenstherapie anbieten, gibt, und psychische Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt werden. Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin auch Zugang zu dieser medizinischen Versorgung haben, ergibt sich aus den soeben wiedergegebenen Länderfeststellungen in Verbindung mit den individuellen Umständen der Beschwerdeführer. Insbesondere ist die Zweitbeschwerdeführerin arbeitsfähig und verfügt über langjährige, in Tschetschenien erworbene Berufserfahrung als Lehrerin, sodass davon auszugehen ist, dass sie im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation den notwendigen Lebensunterhalt inklusive allfälliger Zuzahlungen zu benötigter medizinischer Versorgung nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Erstbeschwerdeführer sichern können wird; überdies ist den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass die Russische Föderation ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem hat, dessen Leistungen von der spezifischen Situation der Personen abhängen und auch Rückkehrern offenstehen (siehe dazu auch noch unten). Konkrete und substantiierte Rückkehrbefürchtungen in Bezug auf die benötigte medizinische Versorgung bzw. mangelnden oder eingeschränkten Zugang zu dieser brachten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin schließlich weder in der gegenständlichen Beschwerdeverhandlung noch in ihren Beschwerden vor.

Die Unbescholtenheit ergibt sich aus Einsichtnahmen in das Strafregister.

2.3. Zu den Feststellungen zu den Gründen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten, einer allfälligen Verfolgungsgefahr der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation zum Entscheidungszeitpunkt und einer möglichen Rückkehr dorthin:

Die Feststellung, dass die Umstände, aufgrund derer dem Erstbeschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, wegen einer dauerhaften und grundlegenden Änderung der Lage in der Russischen Föderation nicht mehr bestehen, beruht auf nachstehenden Erwägungen:

Dem Erstbeschwerdeführer wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 11.05.2007 Asyl gewährt, was zusammengefasst mit der ihm drohenden Verfolgung aufgrund seiner aktiven Teilnahme als tschetschenischer Widerstandskämpfer am ersten Tschetschenienkrieg, in dem er Kommandant einer Gruppe von Freiheitskämpfern gewesen sei und für Maschadow gearbeitet habe, sowie seiner Unterstützung von tschetschenischen Widerstandskämpfern im zweiten Tschetschenienkrieg begründet wurde. Bezüglich dieser seinerzeitigen Fluchtgründe ist nun, über zehn Jahre nach Ende des zweiten Tschetschenienkrieges und rund achtzehn Jahre nach den konkret den Erstbeschwerdeführer selbst betreffenden Ereignissen, eine Änderung der Situation im Herkunftsstaat eingetreten, die dauerhaft und grundlegend ist. Den aktuellen Länderberichten zur Lage in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ist zu entnehmen, dass im Allgemeinen nicht mehr von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen auszugehen ist; die russischen und tschetschenischen Behörden dürften sich bei der Strafverfolgung mittlerweile auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen (vgl. das Kapitel „Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein“ der dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen). Der Erstbeschwerdeführer legte auch im gegenständlichen Verfahren nicht konkret dar, dass er im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien aufgrund seiner Teilnahme an den Tschetschenienkriegen nach wie vor einer Gefährdung ausgesetzt wäre, sondern berief sich in Zusammenhang mit seinen geäußerten Rückkehrbefürchtungen auf seine exilpolitischen Aktivitäten in Österreich (siehe dazu unten). Zu seiner in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl geäußerten Behauptung, dass seine in Tschetschenien lebende Schwester unter Kontrolle der „Kadyrow-Leute“ stehe, seit er das Land verlassen habe, ist festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer dazu unsubstantiiert vermeinte, solche wie sie würden nicht vergessen und zum Grund dieser angeblichen Kontrolle befragt zunächst nur vage erklärte, dass er politischer Aktivist sei und diese Tätigkeit die ganze Zeit ausübe (AS 61 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers). Auf weitere Nachfrage brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass er im Rahmen des Gesetzes in Österreich alles mache, was er könne, an Demonstrationen gegen Putin und Kadyrow teilnehme und zu vielen Leuten aus dem Widerstand, unter anderem zum ermordeten „ XXXX “, Kontakt zu haben (AS 61 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers). Der Erstbeschwerdeführer zeigte auch mit diesem Vorbringen keine im Zusammenhang mit seiner vormaligen Tätigkeit in Tschetschenien befürchtete Verfolgung auf (zur exilpolitischen Tätigkeit siehe unten); zudem ist auch nicht glaubhaft, dass die Schwester des Erstbeschwerdeführers seit dem Jahr 2003 unter der erwähnten Kontrolle stand. Insbesondere ist nicht plausibel, dass der Erstbeschwerdeführer selbst seine Schwester nicht angerufen haben will, weil sie unter Kontrolle der „Kadyrow-Leute“ gestanden sei (AS 60 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers), andererseits aber die Zweitbeschwerdeführerin mit ihr sprechen „lasse“ (AS 60 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers), obwohl angeblich auch diese aufgrund ihrer Eigenschaft als Angehörige des Erstbeschwerdeführers bedroht werde (AS 63 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers). Es wird nicht übersehen, dass im Zuerkennungsbescheid auch festgestellt wurde, dass der Erstbeschwerdeführer Kommandant einer Gruppe von Freiheitskämpfern gewesen sei und für Maschadow gearbeitet habe; dass er sich nunmehr im Fall einer Rückkehr aus diesem Grund in einer besonders exponierten Stellung befinden würde, legte der Erstbeschwerdeführer aber nicht dar und erschließt sich dies auch aus den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen nicht. Auch eine generelle ethnische Verfolgung von Angehörigen der tschetschenischen Volksgruppe ist vor dem Hintergrund der dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderberichte nicht zu erkennen. Eine entsprechende Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wegen der ursprünglich vom Erstbeschwerdeführer geltend gemachten Fluchtgründe kann vor dem Hintergrund der Länderberichte sohin aufgrund der seit Ende des zweiten Tschetschenienkrieges eingetretenen, grundlegenden Änderung der Lage in der Russischen Föderation nicht mehr festgestellt werden.

Zum Vorbringen des Erstbeschwerdeführers hinsichtlich einer Bedrohung bzw. Gefährdung seiner Person im Zusammenhang mit seinen exilpolitischen Tätigkeiten in Österreich sind weiters folgende Erwägungen maßgeblich:

Dass der Erstbeschwerdeführer in Österreich Kontakt mit dem LVT hatte und dort Informationen weitergab und weiters Mitglied des Vereins „ XXXX “ ist und an dessen Versammlungen sowie Demonstrationen teilnimmt ergibt sich ebenso wie der Umstand, dass der Erstbeschwerdeführer im Verein „ XXXX “ bzw. im Rahmen seines dortigen Engagements keine exponierte Stellung einnimmt, die ihn einer Gefährdung für den Fall einer Rückkehr nach Tschetschenien aussetzen würde, aus den Angaben des Beamten des LVT, den der Erstbeschwerdeführer aufsuchte (OZ 9 und OZ 10 in 2238612-1). Diese Angaben des Beamten des LVT wurden dem Erstbeschwerdeführer zum Parteiengehör übermittelt (OZ 15 in 2238612-1). Der Erstbeschwerdeführer erstattete dazu fristgerecht eine Stellungnahme (OZ 16 in 2238612-1), in der er zusammengefasst ausführte, dass er sich im Verein „ XXXX “ engagiere und die Information, dass er an diversen Demonstrationen lediglich teilnehme, nicht korrekt sei; immer wieder und zuletzt bei der Demonstration am 05.09.2021 halte der Erstbeschwerdeführer Reden. Der genannte Beamte des LVT sei inzwischen nicht mehr zuständig für Tschetschenien und verfüge daher vielleicht nicht mehr über alle Informationen. Aus Sicht der Rechtsberaterin des Erstbeschwerdeführers habe der Erstbeschwerdeführer sehr wohl wesentliche und neue Informationen zum Drahtzieher des Mordes für das LVT gehabt; so habe der Erstbeschwerdeführer den genauen Aufenthaltsort und die aktuelle Telefonnummer des Mannes gekannt. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer sich dem LVT erst im Laufe seines Aberkennungsverfahrens (das per 27.05.2020 eingeleitet wurde) anbot (OZ 9 in 2238612-1). Während der Erstbeschwerdeführer seine Tätigkeit für das LVT in Österreich beschrieb, indem er erklärte, Informationen über Tschetschenen zu sammeln und herauszufinden, wer in Österreich für Putin und Kadyrow arbeite (AS 64 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers), schilderte der genannte Beamte des LVT die Tätigkeit des Erstbeschwerdeführers so, dass der Erstbeschwerdeführer mit seiner Rechtsvertretung zweimal bei ihm gewesen sei und in der tschetschenischen Community hinlänglich bekannte Informationen mitgeteilt habe, die kein exponiertes Wissen darstellen würden und nicht wirklich relevant gewesen seien. Eine Gefährdung des Erstbeschwerdeführers werde jedenfalls in Österreich (in Bezug auf die Russische Föderation könne von Seiten des LVT keine Beurteilung getroffen werden) nicht gesehen (OZ 9 und 10 in 2238612-1). Dass der Erstbeschwerdeführer selbst (ebenso wie seine Rechtsvertretung) der Meinung ist, mit dem LVT wesentliche Informationen geteilt zu haben und etwa den genauen Aufenthaltsort sowie die aktuelle Telefonnummer des für den Mordanschlag auf einen österreichischen Blogger verantwortlichen Mannes gekannt zu haben, wird nicht in Abrede gestellt; die in der am 02.12.2021 übermittelten Stellungnahme des Erstbeschwerdeführers (OZ 16 in 2238612-1) beantragte Einvernahme der beiden namhaft gemachten Zeugen kann daher unterbleiben. An der Einschätzung der Art dieser Angaben des Erstbeschwerdeführers samt Gefährdungsprognose für den Erstbeschwerdeführer durch das LVT ändert diese subjektive Wahrnehmung allerdings nichts, wobei in diesem Zusammenhang auch auf die untenstehenden Erwägungen zur nicht glaubhaften Bedrohung des Erstbeschwerdeführers in Österreich hinzuweisen ist. Die in der am 02.12.2021 übermittelten Stellungnahme des Erstbeschwerdeführers (OZ 16 in 2238612-1) beantragte Einvernahme des namhaft gemachten Zeugen zum Beweis dafür, dass der Erstbeschwerdeführer sich im Verein „ XXXX “ engagiere, kann aufgrund des diesbezüglich glaubhaften Vorbringens des Erstbeschwerdeführers ebenfalls unterbleiben. Schließlich kann auch die in der am 02.12.2021 übermittelten Stellungnahme des Erstbeschwerdeführers (OZ 16 in 2238612-1) beantragte Einvernahme der beiden namhaft gemachten Zeugen zum Beweis dafür, dass der Erstbeschwerdeführer konkret am Tag des Anschlags auf den genannten österreichischen Blogger beim LVT gewesen sei, mangels Erheblichkeit des Umstandes, an welchen beiden Tagen genau der Erstbeschwerdeführer das LVT aufsuchte, unterbleiben.

Zur vom Erstbeschwerdeführer vorgebrachten Teilnahme an Versammlungen des Vereins „ XXXX “ – der Erstbeschwerdeführer gehe außer zu Demonstrationen auch zu Versammlungen, die öfter stattfänden, und würde sich dabei mit anderen Leuten, die gegen Kadyrow seien, treffen, wobei sie die Probleme in Tschetschenien, aber auch organisatorische Dinge, wie etwa wer als Vertreter bzw. Vorsitzender bestimmt werde, besprechen würden (Seiten 9f der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) – ist weiters auszuführen, dass zwar aufgrund seines Wissens um den genannten Vereinsobmann und des nachvollziehbar geschilderten Ablaufs der Treffen dieser Vereinsmitglieder glaubhaft ist, dass er ab und zu auch an Versammlungen dieses Vereins teilnimmt. Allerdings erklärte er bereits vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl selbst, dass er keine offizielle Funktion habe und selten das Wort ergreife, wobei grundsätzlich jeder, der etwas sagen wolle, dies tun könne (AS 64 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers). Auch in der mündlichen Verhandlung war der Erstbeschwerdeführer nicht in der Lage, eine bestimmte Position, die er in diesem Verein bekleiden würde, zu beschreiben, sondern führte auf die Frage nach seinen Aufgaben nur vage aus, dass er von den Tschetschenen sehr beachtet werde und dass die Leute, die gekämpft hätten, große Autorität genießen würden; sie hätten sozusagen das Hauptwort, eine wichtige Stimme (Seite 10 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Mit diesem Vorbringen machte der Erstbeschwerdeführer nicht glaubhaft, dass er im genannten Verein eine herausgehobene Stellung einnehmen würde, was wiederum im Einklang mit der vom genannten Beamten des LVT übermittelten, oben gewürdigten Einschätzung steht. Schließlich ist festzuhalten, dass allein der Umstand, dass der Erstbeschwerdeführer bei Demonstrationen des Vereins „ XXXX “ hin und wieder Reden hält, wie in der am 02.12.2021 übermittelten Stellungnahme des Erstbeschwerdeführers (OZ 16 in 2238612-1) vorgebracht, für sich genommen keine besonders exponierte Stellung begründet, dies auch vor dem Hintergrund der Schilderungen des Erstbeschwerdeführers zur „großen Kundgebung“ am Jahrestag der Deportation der Tschetschenen. In diesem Zusammenhang war der Erstbeschwerdeführer nicht einmal ansatzweise in der Lage, seine eigenen Beiträge im Rahmen von Kundgebungen näher zu beschreiben und darzulegen, dass seine Reden essentieller und ihn besonderer Exponiertheit aussetzender Bestandteil der Demonstrationen wären (Seiten 11f der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). So vermeinte er etwa, nachdem er ausgesagt hatte, dass er am Tag der genannten „großen Kundgebung“ nicht in Erscheinung getreten sei, sie aber sonst auftreten würden, auf die konkrete Frage, wer „sie“ seien und wo der Erstbeschwerdeführer auftreten würde, nur völlig vage, „[ü]berall. Wir sind die Anhänger von Itschkeria. Ich teile die Idee der Itschkeria, Unabhängigkeit.“ (Seite 12 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Der Erstbeschwerdeführer vermochte in der Folge auch nicht nachvollziehbar darzulegen, weshalb er einer größeren Gefahr ausgesetzt sein sollte als andere Teilnehmer der Kundgebung, sondern erklärte wiederum lediglich allgemein und unsubstantiiert, dass es Drohungen gebe und er schon gesagt habe, dass er vieles aufgedeckt habe, das beziehe sich etwa auf die Geheimgefängnisse und Fälle, wo Leute verschwunden seien (Seite 12 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung; siehe dazu auch unten die Erwägungen zu den nicht glaubhaften Bedrohungen des Erstbeschwerdeführers). In einer Gesamtschau ist daher nicht glaubhaft, dass der Erstbeschwerdeführer im Verein „ XXXX “ bzw. im Rahmen seines dortigen Engagements eine exponierte Stellung einnimmt, die ihn einer Gefährdung für den Fall einer Rückkehr nach Tschetschenien aussetzen würde (siehe zudem noch unten zu den nicht glaubhaften Bedrohungen des Beschwerdeführers in Österreich).

Der Erstbeschwerdeführer machte weiters nicht glaubhaft, mit Bloggern, die aufgrund ihrer Kritik am tschetschenischen Regime ermordet wurden, zusammengearbeitet zu haben. Der Erstbeschwerdeführer sprach zunächst am 14.09.2020 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nur vage davon, dass er „den Bloggern“ Informationen liefere (AS 63 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers). In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 29.10.2020 führte er dazu ebenso oberflächlich aus, dass sie von alten Bekannten aus Tschetschenien und Mitarbeitern Kadyrows Informationen über die Tätigkeiten von Kadyrow erhielten und diese Informationen an Blogger geben würden (AS 129 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers). Schließlich blieben auch die Angaben des Erstbeschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung zu seinen Kontakten zu Bloggern unsubstantiiert und teils ausweichend; so erklärte der Erstbeschwerdeführer auf die Frage, in welcher Form er Informationen an Blogger weitergebe, lediglich, er tue dies in der Form, in der er selbst die Informationen habe. Auf weitere Nachfrage vermeinte er, dass sie manchmal schreiben und manchmal reden, sich aber meistens treffen würden (Seite 11 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Der Erstbeschwerdeführer schilderte dabei weder den Ablauf dieser angeblichen Treffen noch einen bestimmten Inhalt und erwiderte auf die Frage, ob er über diese Informationsweitergabe irgendwelche Unterlagen habe, mit der Gegenfrage, wozu die erkennende Richterin diese Papiere brauche (Seite 11 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Der Erstbeschwerdeführer legte im gesamten Verfahren nicht dar, welche konkreten Informationen, abgesehen von den „Tätigkeiten Kadyrows“, dem Verschwinden von Leuten und den beschriebenen Geheimgefängnissen (Seite 10 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung; AS 129 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers), was sich bereits aus den dem gegenständlichen Erkenntnissen zugrundeliegenden Länderfeststellungen ergibt (vgl. das Kapitel „Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein“), er an Blogger weitergebe. Eine Zusammenarbeit des Erstbeschwerdeführers mit Bloggern, wie etwa dem in Österreich ermordeten „ XXXX “, ist daher nicht glaubhaft.

Dass der Erstbeschwerdeführer aufgrund seiner Aktivitäten in Österreich nicht bedroht wurde, ergibt sich aus nachstehenden Überlegungen: Während der Erstbeschwerdeführer in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 14.09.2020 ausführte, in Österreich „mehrere Male“, er könne nicht beziffern, wie oft, bedroht worden zu sein und alle Bedrohungen gegen seine Person bei der Polizei in Österreich angezeigt zu haben, wobei er nicht wisse, weshalb er nicht unter Polizeischutz stehe (AS 62f im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers), erklärte er damit nicht übereinstimmend in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 29.10.2020, zwei oder drei Mal pro Jahr bedroht zu werden und nur einmal die Drohung zur Anzeige gebracht zu haben, weil er nicht öfter zur Polizei gehen wollen habe und auch Angst habe (AS 132 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers). Völlig widersprüchlich zu diesem bereits uneinheitlichen und vagen Vorbringen des Erstbeschwerdeführers gab überdies der Beamte des LVT, den der Erstbeschwerdeführer aufsuchte, zu einer möglichen Gefährdungslage des Erstbeschwerdeführers in Österreich an, dass eine solche Gefährdungslage nicht nachvollzogen werden könne, da derartiges in Österreich nicht bekannt sei und niemals eine diesbezügliche Anzeige erstattet worden sei (OZ 9). In der mündlichen Verhandlung schließlich brachte der Erstbeschwerdeführer mit seinem bisherigen Vorbringen wiederum nicht übereinstimmend auf die Frage, inwiefern es in Österreich gegen ihn Drohungen gebe, zunächst nur vor, dass im Jahr 2018 XXXX zu seinem Freund XXXX gekommen sei und gesagt habe, dass sie angehalten würden, wenn sie nicht aufhören würden; solche Drohungen habe es nicht oft gegeben (Seite 13 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Weiters erklärte der Erstbeschwerdeführer, dass es seit diesem Vorfall 2018 auch Telefondrohungen gegeben habe, wobei er in weiterer Folge angab, dass XXXX , ein Berater Kadyrows, diese ausgesprochen habe; dieser habe ihn einmal im Jahr 2020 kontaktiert (Seiten 13f der Niederschrift der mündlichen Verhandlung); weitere Telefondrohungen nannte er nicht. Demgegenüber hatte der Erstbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl angegeben, dass ein anderer, fremder Tschetschene zu seinem Freund XXXX gekommen sei und ihm gesagt habe, dass dieser dem Erstbeschwerdeführer ausrichten solle, dass sie in Kenntnis davon seien, dass er hinter all diesen Bloggern und Regimegegnern stehe und sie den Erstbeschwerdeführer ausschalten würden (AS 63 im Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers). Schließlich steht die vom Erstbeschwerdeführer vorgelegte Erklärung des XXXX , wonach XXXX im Juni 2018 gegen ihn und den Erstbeschwerdeführer eine Drohung von XXXX geäußert habe (Beilage ./1 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung), wiederum nicht im Einklang mit den uneinheitlichen Aussagen des Erstbeschwerdeführers zu der angeblichen Bedrohung. Das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers zu den angeblichen Bedrohungen seiner Person in Österreich ist sohin insgesamt aufgrund der widersprüchlichen und zudem mit den Angaben des LVT nicht übereinstimmenden Schilderungen des Erstbeschwerdeführers nicht glaubhaft. Es wird dabei auch nicht übersehen, dass Einschränkungen hinsichtlich der Aufmerksamkeit, Auffassung und Merkfähigkeit des Erstbeschwerdeführers bestehen; die derartigen Widersprüche im Kern des – überdies vor dem Hintergrund der Informationen des genannten Beamten des LVT nicht nachvollziehbaren – Fluchtvorbringens des Erstbeschwerdeführers sind dadurch aber nicht erklärlich.

Dass den Beschwerdeführern aus dem Grund der Aktivitäten des Erstbeschwerdeführers in Österreich im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ungerechtfertigte konkrete und individuelle physische und/oder psychische Eingriffe erheblicher Intensität in ihre persönliche Sphäre drohen, ergibt sich aus obigen Erwägungen in Verbindung mit den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen. Dabei wird nicht übersehen, dass den Länderberichten zufolge gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige sowie gegen Kritiker rigoros vorgegangen wird, wobei die Bekämpfung von Extremisten mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einhergeht und die strafrechtliche Verfolgung dieser Menschenrechtsverletzungen unzureichend ist. Im Fall des Erstbeschwerdeführers ist allerdings nicht hervorgekommen, dass er sich in Österreich in einer exponierten Position öffentlich gegen das Regime Kadyrows engagieren würde und mit regimekritischen Bloggern zusammenarbeiten würde; eine Bedrohung seiner Person machte der Erstbeschwerdeführer nicht glaubhaft.

Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien gefährdet wären, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, von der Todesstrafe bedroht wären oder in eine existenzgefährdende Notlage geraten würden, sind im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen und wurden auch in den Beschwerden nicht dargetan:

Wie oben dargelegt, sind die Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt, sodass unter diesem Aspekt keine Gefährdung der Beschwerdeführer ersichtlich ist.

Vor dem Hintergrund der in das Verfahren eingebrachten, aktuellen Länderberichte kann nicht erkannt werden, dass in der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien – auch unter Berücksichtigung der angespannten Lage in Tschetschenien, wo es nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen insbesondere an islamistischen Extremisten, Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten sowie homosexuellen Personen kommt – aktuell eine solche extreme Gefährdungslage bestünde, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung ausgesetzt wäre. In der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien ist eine Zivilperson aktuell nicht alleine aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt.

Den Länderfeststellungen ist weiters zu entnehmen, dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln in der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien ebenso wie medizinische Grundversorgung gewährleistet ist. Im Jahr 2019 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung; der Frauenanteil in der Russischen Föderation an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 49%. Zwar stehen den Länderberichten zufolge weite Teile der russischen Bevölkerung generell und auch Rückkehrer in der Russischen Föderation sowie insbesondere im Nordkaukasus vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, die sich besonders für Frauen verstärkt ergeben. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen Staatsangehörige Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem und können auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen in Anspruch nehmen. Die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus hat sich zudem in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert und die materiellen Lebensumstände haben sich für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert, wenngleich Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung problematisch bleiben.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um eine arbeitsfähige Frau im erwerbsfähigen Alter, die Russisch und Tschetschenisch beherrscht, in Tschetschenien eine umfassende Ausbildung absolvierte und rund sechzehn Jahre als Lehrerin arbeitete; in Österreich war sie als Küchengehilfin, Putzfrau und Näherin tätig. Der Zweitbeschwerdeführerin ist daher im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien eine Teilnahme am Erwerbsleben wieder zumutbar und ist davon auszugehen, dass sie in der Lage sein wird, durch eigene Erwerbstätigkeit für ihren notwendigen Lebensunterhalt, insbesondere Nahrung und eine eigene Unterkunft, sowie jenen des Erstbeschwerdeführers und der Drittbeschwerdeführerin zu sorgen. Auch die Drittbeschwerdeführerin ist zudem arbeitsfähig und beherrscht Tschetschenisch; auch sie könnte daher durch eigene Erwerbstätigkeit für ihren Lebensunterhalt sorgen bzw. die Zweitbeschwerdeführerin unterstützen. Überdies besteht in der Russischen Föderation ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, auf welches die Beschwerdeführer zurückgreifen können. In Tschetschenien leben schließlich nach wie vor zwei Brüder und vier Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin, die zu diesen Familienangehörigen Kontakt hat, sodass die Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen könnten, das ihnen zumindest faktisch vor Ort bei der Wiedereingliederung behilflich sein könnte, etwa bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Vor dem persönlichen Hintergrund der Beschwerdeführer und jenem der getroffenen Länderfeststellungen sind daher in einer Gesamtschau keine Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass die Beschwerdeführer in der Russischen Föderation bei einer Rückkehr nach Tschetschenien in ihrer Existenz bedroht wären und nicht in der Lage wären, dort ein angemessenes Leben zu führen.

Die notorische Lage in der Russischen Föderation betreffend die COVID-19-Pandemie sowie die Definition von Risikogruppen ergeben sich aus allgemein zugänglichen, wissenschaftsbasierten Informationen von WHO (https://www.who.int ) und CDC (https://www.cdc.gov/ ) sowie auf Basis von Informationen der österreichischen Bundesregierung (https://www.oesterreich.gv.at/?gclid=EAIaIQobChMI0ZWfp52a6QIVRaqaCh2o2gR4EAAYASAAEgL9NfD_BwE ) und aus unbedenklichen tagesaktuellen Berichten. Den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen ist nicht zu entnehmen, dass sich im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie die Wirtschafts- und Versorgungslage in einem Ausmaß verschlechtert hätte, dass die grundlegende Versorgung der russischen Bevölkerung aktuell nicht mehr gewährleistet wäre. Die medizinische Covid-19-Versorgung erfolgt den Länderfeststellungen zufolge für die Bevölkerung kostenlos. Die Beschwerdeführer erstatteten in Bezug auf die COVID-19-Pandemie keine substantiierten Rückkehrbefürchtungen und sind auch sonst keine Hindernisse, die in diesem Zusammenhang einer Rückkehr der Beschwerdeführer in die Russische Föderation entgegenstehen würden, hervorgekommen (siehe bereits oben zum Zugang zu medizinischer Versorgung). Dabei wird nicht übersehen, dass der Erstbeschwerdeführer im Hinblick auf seine Vorerkrankungen einem erhöhten Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes ausgesetzt ist. Dem ist jedoch die Möglichkeit der Immunisierung durch eine Impfung gegen COVID-19 – die sowohl in Österreich als auch in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien kostenlos stattfinden – entgegen zu halten. Es kann daher auch vor diesem Hintergrund kein Rückkehrhindernis erkannt werden.

2.4. Zu den Länderfeststellungen:

Die entscheidende Richterin stützt ihre Beurteilung der gegenständlichen Beschwerde auf aktuelle Länderberichte, die in Auszügen unter Punkt II.1.4. in diesem Erkenntnis wiedergegeben sind. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben. Insbesondere ergeben sich aus einem Abgleich des dem gegenständlichen Erkenntnis auszugsweise zugrundeliegenden Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 3, mit dem am 17.11.2021 veröffentlichten, aktuelleren Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 4, keine für das gegenständliche Verfahren relevanten Neuerungen (insbesondere zur Sicherheitslage, der allgemeinen Menschenrechtslage insbesondere in Tschetschenien sowie konkret der Lage von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges und Regimekritikern, der wirtschaftlichen Lage bzw. Grundversorgungslage und der medizinischen Versorgung unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie). Das unter II.1.4. in Auszügen wiedergegebene Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 3, wurde in der mündlichen Beschwerdeverhandlung mit den Beschwerdeführern bzw. der Rechtsvertretung des Erstbeschwerdeführers erörtert und Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme gegeben, welche nicht wahrgenommen wurde (Seite 23 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 4, wurde dem Erstbeschwerdeführer zum Parteiengehör übermittelt, wozu der Erstbeschwerdeführer in seiner am 02.12.2021 eingebrachten Stellungnahme (OZ 16 in 2238612-1) ausführte, dass das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 4, in wesentlichen Teilen nicht von der vorherigen Version abweiche und sich lediglich die Seitenzahlen durch Textverschiebungen geändert hätten, weshalb auf die Stellungnahme zu den vorherigen Länderinformationsblättern verwiesen werde. In der Folge werden zusammengefasst Passagen des Länderinformationsblattes samt aktueller Seitenzahl in der Version 4 wiedergegeben (insbesondere zum Umgang Kadyrows mit Regimekritikern, politischen Gegnern und Bloggern und der Reichweite von Kadyrows Kräften in andere Landesteile der Russischen Föderation sowie Europa). Den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen wurde nicht entgegengetreten.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die Beschwerden sind zulässig und rechtzeitig.

3.2. Zu A.) Abweisung der Beschwerden:

3.2.1. Zu den Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide (Aberkennung des Status der Asylberechtigten):

3.2.1.1. Maßgebliche Rechtsgrundlagen:

§ 7 AsylG 2005 lautet:

„Aberkennung des Status des Asylberechtigten

§ 7 (1) Der Status des Asylberechtigten ist einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn

1. ein Asylausschlussgrund nach § 6 vorliegt;

2. einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist oder

3. der Asylberechtigte den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat.

(2) In den Fällen des § 27 Abs. 3 Z 1 bis 4 und bei Vorliegen konkreter Hinweise, dass ein in Art. 1 Abschnitt C Z 1, 2 oder 4 der Genfer Flüchtlingskonvention angeführter Endigungsgrund eingetreten ist, ist ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten jedenfalls einzuleiten, sofern das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 wahrscheinlich ist. Ein Verfahren gemäß Satz 1 ist, wenn es auf Grund des § 27 Abs. 3 Z 1 eingeleitet wurde, längstens binnen einem Monat nach Einlangen der Verständigung über den Eintritt der Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung gemäß § 30 Abs. 5 BFA-VG, in den übrigen Fällen schnellstmöglich, längstens jedoch binnen einem Monat ab seiner Einleitung zu entscheiden, sofern bis zum Ablauf dieser Frist jeweils der entscheidungsrelevante Sachverhalt feststeht. Eine Überschreitung der Frist gemäß Satz 2 steht einer späteren Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht entgegen. Als Hinweise gemäß Satz 1 gelten insbesondere die Einreise des Asylberechtigten in seinen Herkunftsstaat oder die Beantragung und Ausfolgung eines Reisepasses seines Herkunftsstaates.

(2a) Ungeachtet der in § 3 Abs. 4 genannten Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung ist ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten jedenfalls einzuleiten, wenn sich aus der Analyse gemäß § 3 Abs. 4a ergibt, dass es im Herkunftsstaat des Asylberechtigten zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist. Das Bundesamt hat von Amts wegen dem Asylberechtigten die Einleitung des Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten formlos mitzuteilen.

(3) Das Bundesamt kann einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.

(4) Die Aberkennung nach Abs. 1 Z 1 und 2 ist mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt. Dieser hat nach Rechtskraft der Aberkennung der Behörde Ausweise und Karten, die den Status des Asylberechtigten oder die Flüchtlingseigenschaft bestätigen, zurückzustellen.“

Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) lautet:

„Eine Person, auf die die Bestimmungen des Absatzes A zutrifft, fällt nicht mehr unter dieses Abkommen,

1. wenn sie sich freiwillig erneut dem Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, unterstellt; oder

2. wenn sie nach dem Verlust ihrer Staatsangehörigkeit diese freiwillig wiedererlangt hat; oder

3. wenn sie eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie erworben hat, genießt; oder

4. wenn sie freiwillig in das Land, das sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder außerhalb dessen sie sich befindet, zurückgekehrt ist und sich dort niedergelassen hat; oder

5. wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Hierbei wird jedoch unterstellt, dass die Bestimmung dieser Ziffer auf keinen Flüchtling im Sinne der Ziffer 1 des Abschnittes A dieses Artikels Anwendung findet, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt;

6. wenn es sich um eine Person handelt, die keine Staatsangehörigkeit besitzt, falls sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden ist, in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem sie ihren gewöhnlichen Wohnsitz hat. Dabei wird jedoch unterstellt, dass die Bestimmung dieser Ziffer auf keinen Flüchtling im Sinne der Ziffer 1 des Abschnittes A dieses Artikels Anwendung findet, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in das Land abzulehnen, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“

3.2.1.2. Eingangs ist festzuhalten, dass den Beschwerdeführern rechtskräftig Aufenthaltstitel nach dem NAG erteilt wurden. Die Aberkennung des Status der Asylberechtigten ist sohin trotz der Tatsache, dass die Aberkennung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgte und die Beschwerdeführer ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet haben, gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005 möglich.

 

3.2.1.3. Im Fall des Erstbeschwerdeführers sind weiters folgende Erwägungen maßgeblich:

Die belangte Behörde stützte im gegenständlichen Fall die Aberkennung des dem Erstbeschwerdeführer mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 11.05.2007 zuerkannten Status des Asylberechtigten auf die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 – sohin auf die Bestimmung, dass der Status des Asylberechtigten einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen ist, wenn einer der in Art. 1 Abschnitt C GFK angeführten Endigungsgründe eingetreten ist. Konkret stützte sich das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auf den Endigungsgrund gemäß Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK, nämlich auf den Wegfall der Umstände, aufgrund derer eine Person als Flüchtling anerkannt worden ist, sodass es diese Person nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Für die Anwendbarkeit der hier maßgeblichen Bestimmung des § 7 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK ist zu beachten, dass grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet ist, zwar die Annahme begründen können, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht, allerdings darf es sich dabei nicht nur um vorübergehende Veränderungen handeln (vgl. VwGH 31.01.2019, Ra 2018/14/0121, mwN).

Ob eine die Anwendung des Endigungsgrundes des Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK rechtfertigende relevante Änderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat eingetreten ist, hat die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht von Amts wegen zu ermitteln und unter Berücksichtigung der Fluchtgeschichte bzw. der Fluchtgründe eines Asylwerbers zu prüfen, ob diese noch immer einen asylrechtlich relevanten Aspekt haben könnten (vgl. VwGH 31.01.2019, Ra 2018/14/0121, mit Hinweis auf VwGH 19.12.2001, 2000/20/0318).

Bei „Umständen“ im Sinne des Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK muss es sich insbesondere um solche handeln, die sich auf grundlegende, die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK angeführten Fluchtgründe betreffende (objektive) Veränderungen im Heimatstaat des Flüchtlings beziehen, auf Grund deren angenommen werden kann, dass der Anlass für die - begründete - Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht. Diese Umstände sind gemäß dem Wortlaut der angeführten Konventionsstelle solche, auf Grund deren der Asylwerber als Flüchtling anerkannt worden ist (vgl. VwGH 31.01.2019, Ra 2018/14/0121).

Der bloße Wegfall des subjektiven Furchtempfindens erfüllt nicht die Voraussetzung des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK; Umstände iS dieser Bestimmung müssen sich vielmehr auf grundlegende, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK angeführte Fluchtgründe betreffende Veränderungen im Heimatstaat des Flüchtlings beziehen, aufgrund deren angenommen werden kann, dass der Anlass für die – begründete – Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht (VwGH 25.06.1997, 95/01/0326).

Die Bestimmung des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK stellt primär auf eine grundlegende Änderung der (objektiven) Umstände im Herkunftsstaat ab, kann jedoch auch die Änderung der in der Person des Flüchtlings gelegenen Umstände umfassen, etwa wenn eine wegen der Mitgliedschaft zu einer bestimmten Religion verfolgte Person nun doch zu der den staatlichen Stellen genehmen Religion übertritt und damit eine gefahrlose Heimkehr möglich ist (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K9).

Ein in der Person des Flüchtlings gelegenes subjektives Element spielt auch insofern eine Rolle, zumal aus der in Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK enthaltenen Wortfolge „nicht mehr ablehnen kann“ auch die Zumutbarkeit einer Rückkehr in das Herkunftsland ein entscheidendes Kriterium einer Aberkennung des Flüchtlingsstatus ist (vgl. Putzer/Rohrböck, aaO, Rz 146).

Um die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft zu bejahen, muss die Änderung der Umstände sowohl grundlegend als auch dauerhaft sein, zumal der Flüchtlingsschutz umfassende und dauerhafte Lösungen zum Ziel hat und Personen nicht unfreiwillig in Verhältnisse zurückkehren sollen, welche möglicherweise zu einer neuerlichen Flucht führen. Da eine voreilige oder unzureichende Begründung der Beendigungsklauseln ernsthafte Konsequenzen haben kann, ist es angebracht, die Klauseln restriktiv auszulegen. (vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [„Wegfall der Umstände“-Klauseln], Abs. 6f).

Wie beweiswürdigend festgehalten, war im Fall des Erstbeschwerdeführers ein Wegfall der ursprünglichen Verfolgungsgefahr, welche zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Jahr 2007 geführt hatte, festzustellen: Die Umstände, auf Grund derer dem Erstbeschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, bestehen aufgrund einer dauerhaften und grundlegenden Änderung der Lage in seinem Herkunftsstaat nicht mehr. Der Erstbeschwerdeführer kann es daher nicht mehr ablehnen, sich unter den Schutz seines Herkunftsstaates zu stellen. Vor dem Hintergrund der Länderberichte ist es in Zusammenschau mit den Angaben des Erstbeschwerdeführers, wie beweiswürdigend aufgezeigt, nicht naheliegend, dass der Erstbeschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach wie vor einer wie immer gearteten Verfolgung im Zusammenhang mit den Gründen, die ursprünglich zur Zuerkennung des Status der Asylberechtigten im Jahr 2007 geführt hatten, ausgesetzt wäre. Diesbezüglich ist eine Änderung der Situation im Herkunftsstaat eingetreten, die auch nicht nur vorübergehend ist.

Auch eine sonstige aktuelle Bedrohung des Erstbeschwerdeführers in Tschetschenien beziehungsweise der Russischen Föderation besteht nicht. Insbesondere droht ihm, wie dargelegt, keine wie immer geartete Verfolgung aufgrund seiner Aktivitäten in Österreich (zwei- bis dreimal jährlich Beteiligung an Demonstrationen des Vereins „ XXXX “, Teilnahme an Versammlungen des Vereins „ XXXX “ und zweimaliges Aufsuchen des LVT zur Informationsweitergabe).

Der Aberkennungstatbestand des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK ist daher im Fall des Erstbeschwerdeführers erfüllt.

3.2.1.4. Im Fall der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin sind nachstehende Überlegungen relevant:

Für die Aberkennung des einem Familienangehörigen im Familienverfahren zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der fluchtauslösenden Umstände kommt es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059-6) darauf an, ob die Umstände, auf Grund derer die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und es diese daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Herkunftsstaates zu stellen. Diese Frage hat die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) ohne Bindung an eine allfällige diesbezügliche Entscheidung im Verfahren über die Aberkennung des Asylstatus des Familienangehörigen selbstständig zu beurteilen. Gelangt die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) in so einem Fall zu der Beurteilung, dass die Umstände, auf Grund derer die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr vorliegen, ist der Asylstatus eines Familienangehörigen, dem dieser Status im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannt worden ist, abzuerkennen, sofern im Entscheidungszeitpunkt hinsichtlich des Familienangehörigen nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (drohende Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK) vorliegen.

Wie festgestellt, wurde der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin, die sich im Asylverfahren auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers bezogen, der Status der Asylberechtigten im Familienverfahren durch Erstreckung über den Erstbeschwerdeführer als Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin bzw. Vater der damals minderjährigen Drittbeschwerdeführerin zuerkannt. Da die Umstände, auf Grund derer der Erstbeschwerdeführer als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und dieser es nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz seines Herkunftsstaates zu stellen, und auch im Fall der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin zum Entscheidungszeitpunkt keine individuelle oder generelle Gefährdung vorliegt, welche einer Rückkehr in den Herkunftsstaat entgegenstehen und demnach eine Aufrechterhaltung des Asylstatus gebieten würde, ist der Aberkennungstatbestand des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK daher auch im Fall der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin erfüllt.

3.2.1.5. Die Aberkennung des Status des Asylberechtigten ist gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 mit der Feststellung zu verbinden, dass den Beschwerdeführern die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt.

Die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide sind somit als unbegründet abzuweisen.

3.2.2. Zu den Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide (Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten):

3.2.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 mit der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 AsylG 2005 zu verbinden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung zum realen Risiko einer drohenden Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK und zur ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im innerstaatlichen Konflikt auseinandergesetzt und diese wie folgt zusammengefasst (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137):

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0053 mwN).

Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. etwa VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479 und 23.09.2009, 2007/01/0515 mwN).

Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (vgl. VwGH vom 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).

Weiters hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (etwa 23.03.2017, Ra 2017/20/0038, mwN).

3.2.2.2. Wie aufgezeigt, sind die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Tschetschenien bzw. in die Russische Föderation keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt, weshalb auch keinerlei dahingehende Bedrohung im Sinne des § 8 AsylG 2005 zu erkennen ist.

Ausgehend von den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderberichten zum Herkunftsstaat besteht weiters kein Grund, davon auszugehen, dass jeder zurückgekehrte Staatsangehörige der Russischen Föderation einer reellen Gefahr einer Gefährdung gemäß Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Es ist nicht ersichtlich, dass im gesamten Gebiet der Russischen Föderation bzw. Tschetscheniens – trotz der vom Bundesverwaltungsgericht nicht außer Acht gelassenen angespannten Situation in Tschetschenien – derzeit eine „extreme Gefahrenlage“ im Sinne einer dermaßen schlechten wirtschaftlichen oder allgemeinen (politischen) Situation herrschen würde, die für sich genommen bereits die Zulässigkeit der Abschiebung als unrechtmäßig erscheinen ließe.

Außergewöhnliche Umstände, angesichts derer die Abschiebung der Beschwerdeführer in die Russische Föderation die Garantien des Art. 3 EMRK verletzen würde, sind unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Rechtsprechung somit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erblicken. Wie beweiswürdigend dargelegt, ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ebenso wie medizinische Grundversorgung gewährleistet und würden die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten. Die Erkrankungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sind in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien behandelbar und haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin Zugang zu dieser medizinischen Versorgung. Wie ebenfalls beweiswürdigend ausgeführt, stellt auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis– weder in medizinischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht – dar.

Durch eine Rückführung der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat besteht zwar die Möglichkeit, dass die Beschwerdeführer mit einer schwierigen Lebenssituation insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht konfrontiert wären. Unter Berücksichtigung der Länderberichte und der persönlichen Situation der Beschwerdeführer ist jedoch in einer Gesamtbetrachtung nicht zu erkennen, dass sie im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen würden, eine Verletzung ihrer durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden.

Der Klarstellung des Verwaltungsgerichtshofs folgend, dass von einer wirtschaftlichen angespannten Situation das Prüfungskalkül des Art. 3 EMRK, welches für die Annahme einer solchen Menschenrechtsverletzung das Vorhandensein einer die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz bedrohenden Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen fordert, zu unterscheiden ist (VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095), ist für den gegenständlichen Fall entscheidend, dass bei den Beschwerdeführern aufgrund obenstehender Erwägungen eine solche Situation nicht gegeben ist.

Die Prüfung der maßgeblichen Kriterien führt im konkreten Fall zu dem Ergebnis, dass den Beschwerdeführern eine Rückkehr in die Russische Föderation nach Tschetschenien möglich ist.

Die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide sind daher als unbegründet abzuweisen.

3.2.3. Zu den Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte III. der angefochtenen Bescheide (Nichterteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 57 AsylG 2005):

3.2.3.1. Gemäß § 58 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt.

Gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

3.2.3.2. Da der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet nicht gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist, ist eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemäß § 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 nicht von Amts wegen zu erteilen.

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer ist auch nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel, erforderlich, sodass eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ auch gemäß § 57 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nicht von Amts wegen zu erteilen ist.

Schließlich sind die Beschwerdeführer auch nicht Opfer von Gewalt geworden und hätte keine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen werden können; die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt ist nicht erforderlich. Eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ ist daher auch gemäß § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 nicht von Amts wegen zu erteilen.

Die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte III. der angefochtenen Bescheide sind daher als unbegründet abzuweisen.

3.3. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.

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