BVwG W184 2153316-1

BVwGW184 2153316-17.10.2021

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:W184.2153316.1.00

 

Spruch:

W184 2153316-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.03.2017, Zl. 1076434709/150792198, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.10.2019 zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

 

Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 04.07.2015 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.

 

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:

 

„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

 

II. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wird Ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

 

III. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wird Ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 14.03.2018 erteilt.“

 

Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht):

 

„A) Verfahrensgang

Anlässlich der niederschriftlichen Erstbefragung am 04.07.2015 vor einem Beamten der Polizeiinspektion … gaben Sie Folgendes an:

Ich habe meine Heimat aufgrund von Feindschaften, die wegen Grundstücksstreitigkeiten entstanden sind, verlassen …

Am 26.01.2017 wurden Sie von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes im Beisein eines Dolmetschers der Sprache Farsi einvernommen. Es folgen die entscheidungsrelevanten Auszüge aus dieser Einvernahme (LA = Leiter der Amtshandlung, VP = Verfahrenspartei):

LA: Leiden oder litten Sie an irgendwelchen gesundheitlichen Problemen, gibt es bestehende Krankheiten oder benötigen Sie aktuell bestimmte medizinische Betreuung oder Medikamente?

VP: Nein, mir geht es gut. Ich bin aktuell gesund. Ich hatte einmal eine Grippe.

LA: Haben Sie weitere Familienangehörige?

VP: Ich habe nur eine Mutter, … wohnhaft … im Iran …

LA: Wie heißt das Dorf in Afghanistan, in dem Sie gelebt haben?

VP: Provinz Bamiyan, Distrikt XXXX , Dorf XXXX .

LA: Sie waren zehn Jahre alt, als Ihre Eltern Afghanistan verlassen haben?

VP: Ja.

LA: Sie sind das einzige Kind Ihrer Eltern?

VP: Ja, das stimmt, ich bin ein Einzelkind.

LA: Ihre Eltern sind damals gemeinsam mit Ihnen von Bamiyan in Afghanistan nach XXXX im Iran gegangen?

VP: Auch das stimmt.

LA: Sie wohnten seit Ihrem zehnten Lebensjahr im Iran?

VP: Das stimmt.

LA: Wie lebten Sie in Afghanistan? Gab es ein eigenes Haus oder Grundstücke?

VP: Wir hatten ein zweistöckiges Haus und mehrere Grundstücke.

LA: Was haben Sie im Iran gearbeitet?

VP: Auf einer Baustelle als Baumeister. Nachgefragt, ich habe das so nebenbei gelernt.

LA: Haben Sie weitere Angehörige in Afghanistan?

VP: Einen Onkel habe ich mütterlicherseits. Dieser Onkel wohnt in unserem alten Dorf in Bamiyan …

LA: Kommen wir nun zu Ihrem Fluchtgrund. Bitte nennen Sie mir die Gründe, warum Sie Afghanistan verlassen haben und nicht nach Afghanistan zurückkehren können …

VP (Beginn der freien Erzählung): Mein Vater hatte vor einiger Zeit - ich war, glaube ich, neun Jahre alt - einen Bruder von XXXX (Parlamentsangehöriger) getötet. Dieser XXXX ist gegenwärtig im Parlament in Kabul. Er lebt in Bamiyan. Der Bruder XXXX war damals bei uns im Haus. Er führte Verhandlungen mit meinem Vater bezüglich unserer Grundstücke. XXXX benötigte Wasser für seinen Weizen. Es kam zu einem Streit zwischen den beiden. XXXX war bewaffnet und mein Vater ebenso. Mein Vater hatte im Streit, aber nicht mit Absicht XXXX (den Bruder von XXXX ) getötet. Mein Onkel väterlicherseits hat für XXXX gearbeitet. Dieser war zu dem damaligen Zeitpunkt mächtiger als XXXX . Dieser XXXX half meinem Vater, Afghanistan gemeinsam mit uns zu verlassen. Mein Onkel aber ist von Taliban getötet worden (Anmerkung: VP fängt zu weinen an). Mein Vater ist in den Irak gegangen und dort ertrunken (Dort gibt es einen heiligen Ort namens XXXX , vorher muss man sich aber in diesem Wasser waschen.). Ich war zwölf Jahre illegal im Iran. Ich konnte nicht einmal das Grab meines Vaters besuchen. Deswegen kann ich auch nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil Söhne des getöteten XXXX bei der Polizei und bei der Regierung tätig sind. Ich habe Angst um mein Leben. Im Iran zu leben ohne Aufenthaltsrecht, ist schwierig. Ich bin von den iranischen Behörden dreimal nach Afghanistan abgeschoben worden. Ich kam jedes Mal wieder zurück in den Iran. Beim vierten Mal (Abschiebung) wurde ich mit einer Syrienkriegsbeteiligung konfrontiert. Mein Arbeitgeber hat jemanden gefunden und ihn auch mit 8 Mio. Toman bezahlt, dass ich an den Kämpfen nicht teilnehmen muss. Danach habe ich die Ausreise nach Europa begonnen (Ende der freien Erzählung).

LA: Ist das Ihr einziger Fluchtgrund?

VP: Ja.

LA: Woher haben Sie all die Informationen bezüglich XXXX ?

VP: Meine Mutter hatte es mir erzählt – alle Vorfälle.

LA: Hatte Ihr Vater persönlichen Kontakt mit XXXX ?

VP: Ich weiß es nicht, ich war noch sehr jung.

LA: Kam es vorher auch schon zu Streitigkeiten zwischen Ihrem Vater und dem Bruder des XXXX ?

VP: Das weiß ich nicht.

LA: Wann war der Streit, wo XXXX durch Ihren Vater getötet wurde?

VP: Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Ich war vielleicht sieben, acht, neun Jahre alt.

LA: Nach diesen Streitigkeiten sind Sie gemeinsam in den Iran nach XXXX ?

VP: Ich glaube, ja.

LA: Ihr Vater ist dann freiwillig vom Iran in den Irak nach XXXX gegangen?

VP: Das ist richtig.

LA: Ist Ihr Vater durch einen Unfall gestorben oder anders?

VP: Nein es war ein Unfall. Es ist passiert.

LA: Hatten Sie oder Ihre Mutter je einen Kontakt mit der Familie des getöteten XXXX oder XXXX ?

VP: Ich weiß es nicht. Ich habe meine Mutter dahin gehend nicht gefragt. Nachgefragt, ich hatte persönlich keinen Kontakt oder gar eine Bedrohung. Vor vier Jahren ist mein Onkel mütterlicherseits von XXXX im Irak zu uns nach XXXX im Iran auf Besuch gekommen. Damals bat meine Mutter meinen Onkel, mich mit nach Bamiyan in Afghanistan zu nehmen. Ich sollte sein Schwiegersohn werden und seine Tochter zur Frau nehmen. Er verneinte es, weil ich sofort, wenn ich nach Afghanistan käme, getötet werde.

LA: Wie lange waren Sie nach den Abschiebungen vom Iran nach Afghanistan in Ihrem Herkunftsstaat aufhältig?

VP: Ich bin gleich immer wieder mit Hilfe von Schleppern retour in den Iran.

LA: Dieses ganze Bedrohungsszenario gegenüber Ihrem Vater bzw. Ihrer Familie spielte sich in der Provinz Bamiyan ab?

VP: Ja, das ist richtig, es spielte sich alles im Dorf XXXX in der Provinz Bamiyan ab.

LA: Welche Befürchtungen haben Sie in Bezug auf eine mögliche Rückkehr nach Afghanistan?

VP: Ich habe Angst, dass ich getötet werde.

LA: Erklären Sie mir, warum Sie 2.500 km von Afghanistan nach Österreich geflohen sind und nicht daran gedacht haben, in Afghanistan in einem anderen, sichereren Landesteil ein neues Leben zu beginnen. Die Sicherheitslage ist in Afghanistan sehr unterschiedlich.

VP: In Kabul ist der XXXX selbst und ein Sohn des getöteten XXXX ist in Herat und einer ist in Bamiyan. Ich habe Angst, dass sie mich finden.

LA: Was wissen Sie über XXXX ? Ist das nach wie vor ein aktiver Politiker?

VP: Ich selbst weiß es nicht, die Informationen erhielt ich von meiner Mutter. Meine Mutter erzählte mir, dass XXXX in Kabul ein aktiver Politiker ist …“

 

Es folgten im angefochtenen Bescheid die Beweismittel, die Sachverhaltsfeststellungen, die Beweiswürdigung sowie die rechtliche Beurteilung zu den einzelnen Spruchpunkten. Der Status des Asylberechtigten könne nicht zuerkannt werden, weil ein asylrelevantes Vorbringen nicht glaubhaft gemacht worden sei. Aufgrund des Fehlens von Angehörigen im Herkunftsstaat sei subsidiärer Schutz zu gewähren und eine befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen.

 

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher nur der Spruchpunkt I. angefochten und im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt wurde.

 

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.10.2019 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher die beschwerdeführende Partei Folgendes aussagte (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht, RI = Richter, BF = beschwerdeführende Partei, RV = Rechtsvertreter der beschwerdeführenden Partei):

„RI: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, dass Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren?

BF: Ich habe Feindschaften, zweitens bin ich von der Volksgruppe der Hazara, und die Hazara werden in Afghanistan getötet, drittens kenne ich mich in Afghanistan nicht aus und habe dort nie gelebt. Ich bin im Iran aufgewachsen.

RI: Wie lange haben Sie in Afghanistan gelebt?

BF: Ich war sehr jung, ich war sieben oder acht Jahre alt, als ich Afghanistan verlassen habe. Ich war acht oder neun Jahre alt, als ich Afghanistan verlassen habe, ich kann mich nicht mehr erinnern.

RI: In welchem Jahr genau sind Sie aus Afghanistan ausgereist?

BF: Ich war jung, ich weiß es nicht.

RI: Haben Sie in den letzten 17 Jahren nie darüber gesprochen, was damals vorgefallen ist oder in welchem Jahr das gewesen ist?

BF: Nein, das habe ich nicht gefragt. Nein, darüber hat mir niemand etwas erzählt, aber vor fünf Jahren ist mein Onkel mütterlicherseits aus Afghanistan in den Iran gekommen. Wir haben ihn abgeholt, meine Mutter hat ihn gefragt, dass er mir die Hand seiner Tochter gibt, und er hat diese Forderung abgelehnt, weil er meinte, das ich nicht nach Afghanistan kommen kann und dort leben kann, weil diese Feindschaften noch bestehen.

RI: Aus welchem Grund sind Sie seinerzeit aus Afghanistan ausgereist?

BF: Weil mein Vater den Bruder von XXXX getötet hat. Er war bekannt mit dem Namen XXXX . Was der Familienname ist, weiß ich nicht. Wenn Sie im Internet recherchieren, dann finden Sie ihn. Als ich in XXXX bei der Diakonie war, haben sie im Internet gesucht und haben ihn gleich gefunden.

RI: Wann hat Ihr Vater diese Person getötet?

BF: Damals, als wir in Afghanistan waren. Ich war sehr jung.

RI: War das kurz vor Ihrer Ausreise?

BF: Das weiß ich nicht. Ich war damals sehr jung, aber es gab noch einen Kommandanten namens XXXX , der noch hochrangiger war als XXXX . Er hat meine Familie vertrieben von dort, dass wir nicht dort leben dürfen.

RI: Wer hat die Familie vertrieben?

BF: XXXX hat uns vertrieben, dass wir in den Iran gehen sollen. Er hat uns gesagt, wir sollen in den Iran fliehen, dass wir nicht umgebracht werden.

RI: Hat Herr XXXX noch andere Namen?

BF: Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er unter dem Namen XXXX bekannt war.

RI: Wie alt waren Sie damals, als Sie Afghanistan verlassen haben?

BF: Genau weiß ich das nicht. Ich war circa acht oder neun Jahre alt.

RI: In diesem Alter müssen Sie aber schon wissen, ob Sie einen Monat oder ein Jahr nach dem Todesfall ausgereist sind.

BF: Ich bin Analphabet. Ich habe keine Schule besucht und deswegen weiß ich es nicht. Ich habe die Daten auch nicht in meinem Kopf gespeichert und ich weiß es nicht.

RI: Schildern Sie mir den Vorfall, bei dem diese Person getötet wurde.

BF: Wegen eines Grundstücksstreites und wegen des Wassers. Es ist zu Handgreiflichkeiten gekommen und sie haben zu den Waffen gegriffen. Eine Person ist dabei getötet worden.

RI: Haben Sie diesen Kampf mit eigenen Augen gesehen?

BF: Nein, das habe ich nicht gesehen, meine Mutter hat mir das erzählt. Damals war ich sehr jung und meine Mutter hat mir diese Geschichte erzählt.

RI: Wo waren Sie selbst während dieses Kampfes?

BF: Ich war in Afghanistan, ich war auch in diesem Dorf XXXX . Und diese Person wurde auch in diesem Dorf getötet.

RI: Wo in diesem Dorf wurde diese Person getötet, in Ihrem Haus oder im Freien?

BF: Das weiß ich nicht. Meine Mutter hat mir nur erzählt, dass diese Person im Dorf XXXX getötet wurde.

RI: Wann hat Ihre Mutter Ihnen das erzählt, unmittelbar nach diesem Kampf oder Jahre später?

BF: Sie hat mir diese Geschichte im Iran erzählt.

RI: Wie hieß der Getötete genau?

BF: XXXX und den Nachnamen weiß ich nicht.

RI: Hatten diese beiden Brüder XXXX und XXXX eine wichtige Funktion damals?

BF: XXXX war ein Kommandant der Regierung und XXXX hat für den XXXX gearbeitet. Sie haben Grundstücke dort gehabt und wegen eines Grundstückstreites und wegen des Wassers hat dieser Streit begonnen.

RI: Was meinen Sie mit Kommandant der Regierung?

BF: Er hat dort für die Regierung gearbeitet und er hat auch eine hohe Position gehabt und sein Bruder hat auch für ihn gearbeitet. Seine Kinder waren auch Polizisten.

RI: Welche Funktion hat XXXX heute?

BF: Derzeit weiß ich nicht, aber vor vier oder fünf Monaten habe ich erfahren, dass er sich in der Provinz Bamiyan befindet.

RI: Von wem haben Sie das erfahren?

BF: Von meiner Mutter. Meinen Sie, was er jetzt macht? Das hat mir mein Cousin mütterlicherseits (der Sohn meines Onkels mütterlicherseits) gesagt, dass XXXX in Bamiyan ist. Er hat mir gesagt, dass er immer noch für die Regierung arbeitet. Was er derzeit macht, weiß ich nicht.

RI: Wo lebt dieser Cousin jetzt?

BF: In Bamiyan. Im Dorf XXXX . Es ist nicht weit weg von der Stadt Bamiyan. Soviel ich weiß, wohnt mein Onkel mütterlicherseits im Dorf XXXX , aber sein Sohn wohnt in Bamiyan.

RI: Wo wohnt der Cousin und wo wohnt der Onkel?

BF: So viel ich weiß, bis vor vier bis fünf Monaten habe ich es gewusst, mein Onkel mütterlicherseits war in XXXX und sein Sohn hat in der Stadt Bamiyan gearbeitet.

RI: Wird dieser Onkel und sein Sohn nicht verfolgt von denselben Leuten, die Sie verfolgen?

BF: Nein. Sie haben nichts mit meinem Onkel oder unserer Familie zu tun. Mein Vater hat seinen Bruder getötet und sie wollen Rache an meiner Familie nehmen. Wir sind in den Iran geflüchtet und auch mein Vater ist erst im Irak verstorben und ich bleibe für sie allein übrig, dass sie an mir Rache nehmen können. Mein Vater ist zur Pilgerfahrt in den Irak gefahren, er ist aber dort im Wasser ertrunken und dort begraben.

RI: Waren Sie seit Ihrer Flucht aus Afghanistan noch einmal zurück in Afghanistan?

BF: Nein. Ich bin drei bis vier Mal nach Afghanistan abgeschoben worden. Ich habe mich kurz an der Grenze aufgehalten und bin wieder mit Hilfe eines Schleppers in den Iran zurückgegangen.

RI: Wann sind Sie das erste Mal abgeschoben worden?

BF: Circa vor 17 Jahren.

RI: Schildern Sie mir bitte diese Abschiebung.

BF: Ich war bei der Arbeit. Die Polizei im Iran hat mich erwischt, weil ich keine Dokumente besaß, dann haben mich die Polizisten zurück nach Afghanistan abgeschoben. Ich habe mich aber kurz bei der Grenze aufgehalten und bin mit Hilfe eines Schleppers zurück in den Iran gekommen.

RI: Sind Sie mit dem Auto oder mit dem Zug abgeschoben worden?

BF: Mit dem Autobus.

RI: Mit einem Polizeiautobus oder einen Linienbus?

BF: Es war ein Linienbus, aber wenn er voll ist, steigen auch drei Polizisten mit ein und fahren mit bis zur Grenze.

RI: Sind Sie damals ohne Ihre Mutter abgeschoben worden?

BF: Ja, nur ich allein. Die Frauen werden nicht abgeschoben.

RI: Wie alt waren Sie bei dieser Abschiebung?

BF: Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich bin Analphabet, ich weiß es nicht.

RI: Welches Jahr haben wir heuer?

BF: 2019.

RI: Sie haben gesagt, Sie sind vor 17 Jahren abgeschoben worden. Welches Jahr war das?

BF: Das weiß ich nicht genau, ob es 17 Jahre waren oder weniger oder mehr.

RI: Wenn es 17 Jahre waren, welches Jahr war das damals?

BF: Ich bin Analphabet, ich weiß es nicht. Ich habe nicht einmal einen Tag eine Schule besucht oder meine Muttersprache gelernt. Ich kann Farsi nur über mein Handy lesen, aber schreiben kann ich nicht.

RI: Haben Sie in Österreich nicht lesen und schreiben gelernt?

BF: Ja, ich habe einen Deutschkurs besucht. Ich habe es ein bisschen gelernt.

RI: Haben Sie eine Prüfung auch gemacht in Österreich?

BF: Ich habe drei Monate einen Deutschkurs besucht, ich habe die Prüfung A1 gemacht, aber nicht bestanden. Jetzt habe ich auch einen Deutschkurs vom AMS.

RV: Ich habe mit dem BF heute gesprochen. Er leidet auch immer wieder an Migräne und Schlafproblemen, so auch heute. Er wird sich demnächst um eine Therapie bemühen.

BF: Derzeit bin ich ein bisschen krank und es geht mir nicht sehr gut.

RI: Wie heißt die Krankheit, an der Sie leiden?

BF: Heute bin ich erkältet. Manchmal habe ich Kopfschmerzen. Ich war beim Arzt. Er hat gemeint, dass ich mir sehr viel Stress mache und sehr viel nachdenke. Davon kommen die Kopfschmerzen. Ich denke sehr viel nach. Meine Mutter ist krank. Ich denke, wenn ich nach Afghanistan abgeschoben werde, was passiert dann mit meinem Leben. Meine Mutter benutzt auch einen Asthmaspray.

RI: Sie haben auch Asthma?

BF: Ich nicht, nur meine Mutter.

RI: Hat Ihnen der Arzt Medikamente verschrieben?

BF: Ich war beim Arzt, der hat mir gesagt, ich soll mir nicht viel Stress machen und nicht viel nachdenken, dann geht es mir besser. Er hat auch gemeint, für dieses Problem muss ich einen anderen Arzt besuchen, weil ich wegen meiner Erkältung bei ihm war.

RI: Sie haben vorhin gesagt, dass Sie vor ca. 17 Jahren abgeschoben wurden. Das würde bedeuten, dass Sie damals erst zehn Jahre alt waren.

BF: Wo meinen Sie? Im Iran? Ich war nicht zehn Jahre. Ich war älter. Im Iran ist es üblich, wenn man im Iran abgeschoben wird, gibt es genug Schlepper und man kann sich dort einen Schlepper suchen und dann kann man zurück in den Iran gelangen.

RI: In welchen Ort in Afghanistan sind Sie abgeschoben worden?

BF: Wir sind an der Grenze aus dem Autobus ausgestiegen. Wir sind nicht weitergefahren und dann habe ich einen Schlepper gefunden und dann bin ich wieder zurück.

RI: Was erzählen Ihre Verwandten in Afghanistan über ihre Bedrohungssituation? Hat jemand nach Ihnen gefragt in XXXX ?

BF: Dort kenne ich außer meinem Onkel niemanden. Er hat mir vor fünf Jahren gesagt, dass diese Personen uns suchen. Außerdem war ich nicht in Afghanistan. Ich kenne mich in Afghanistan nicht aus und ich kenne auch niemanden.

RI: Was haben Ihr Onkel und sein Sohn Ihnen in den letzten fünf Jahren erzählt? Sind Sie noch gesucht worden?

BF: Vor fünf Jahren, als mein Onkel mütterlicherseits in den Iran gekommen ist, hat ihn meine Mutter wegen seiner Tochter für mich gefragt. Er hat gesagt, okay, er habe nichts dagegen, aber ich könne nicht nach Afghanistan zurückkommen, weil die Personen mich suchen. Außerdem hat vor circa fünf Monaten der Sohn meines Onkels mütterlicherseits gesagt, dass diese Person immer noch in der Regierung ist und die Kinder dieser Person Polizisten sind. Einer ist in Herat und einer ist in Bamiyan.

RI: Wie heißen diese Kinder, die Polizisten sind?

BF: Das weiß ich nicht.

RI: Warum könnten Sie nicht in einer anderen Provinz in Afghanistan leben, wo Sie niemand kennt?

BF: Weil die Person in der Regierung ist. Wenn diese Person, die in der Regierung ist, eine Anzeige erstattet, dann werden sie mich gleich finden. Und weil ich Afghanistan nicht kenne und ich nicht in Afghanistan gelebt habe.

RI: Welcher Volksgruppe gehört XXXX an?

BF: Er ist Hazara.

RI: Warum glauben Sie, dass jetzt, fast 20 Jahre später, noch jemand nach Ihnen sucht wegen des Schusswechsels vor fast 20 Jahren?

BF: In Afghanistan ist es üblich, wenn jemand getötet wird, muss der Gegner unbedingt seine Rache von der Familie nehmen, egal, wie lange es dauert, ob das lebenslang dauert oder nicht.

RI: Aber Ihr Vater ist bereits verstorben.

BF: Ja, mein Vater ist verstorben. Ich bin jetzt allein übrig. Meine Mutter hat auch noch einmal geheiratet im Iran.

RI: In welcher Beziehung ist Ihre Familie zu Herrn XXXX gestanden?

BF: Das weiß ich nicht. Aber ich weiß nur, dass mein Onkel väterlicherseits bei ihm gearbeitet hat.

RI: Was macht Herr XXXX jetzt?

BF: Das weiß ich nicht …“

 

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.10.2019 wurde der Beschwerde stattgegeben und der beschwerdeführenden Partei gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt sowie gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

Dieses Erkenntnis wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 12.03.2020, Ra 2019/01/0472, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

1. Feststellungen:

 

Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:

 

Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Hasara und der schiitischen Religion an. Er stammt aus dem Dorf XXXX in der Provinz Bamiyan.

 

Circa im Jahr 2001 tötete der Vater der beschwerdeführenden Partei im Zuge einer Auseinandersetzung um Grundstücke und Wasserrechte XXXX , den Bruder von XXXX und daraufhin flüchtete die Familie der beschwerdeführenden Partei in den Iran, wo die beschwerdeführende Partei bis zur illegalen Einreise nach Europa im Juli 2015 lebte.

 

XXXX war und ist ein einflussreicher Polizeibeamter und Politiker in Afghanistan. Seine Familie möchte an der beschwerdeführenden Partei Blutrache üben.

 

2. Beweiswürdigung:

 

Die beschwerdeführende Partei wirkte bei der Aussage in der Verhandlung angespannt und gehemmt und zeigte eine stark herabgesetzte geistige Leistungsfährigkeit. So unternahm er etwa nicht einmal den Versuch, die Frage nach der Jahreszahl des 17 Jahre vor dem Jahr 2019 liegenden Jahres zu beantworten, also einen denkbar einfachen Rechenvorgang durchzuführen. Trotz dieser geringen Intelligenz schilderte er bei allen Einvernahmen die fluchtauslösenden Ereignisse, die er altersbedingt nur indirekt von seiner Mutter erfahren hat, völlig gleichbleibend und schlüssig und konnte das vergleichsweise geringe Beweiskalkül der Glaubhaftmachung zu der Tatsache erfüllen, dass er in Afghanistan durch eine einflussreiche Familie mit Blutrache bedroht wird. Seine Angaben zu XXXX stimmen auch mit den notorischen Tatasachen zu diesem Politiker überein, wie sie sich aus mehreren Internetseiten ergeben (http://www.afghan-bios.info/index.php?option=com_afghanbios&id=1655&task=view&total=2843&start=2369&Itemid=2; https://www.tt.com/ticker/13024155/afghanische-parlamentarier-zwangen-flugzeug-zur-umkehr ). Zwischenfragen, etwa nach dem Kontakt mit seiner Familie oder nach seinen Abschiebungen aus dem Iran, wurden spontan und überzeugend beantwortet.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

 

Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

 

Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

 

Das Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist im vorliegenden Fall in der Fassung nach dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 56/2018 anzuwenden. Die maßgeblichen Bestimmungen lauten:

 

§ 3 (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

 

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

 

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

 

(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

 

(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.

 

(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.

 

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

§ 11 (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

 

(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.

 

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0113; 24.03.2011, 2008/23/1443).

 

§ 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinn des Art. 9 Statusrichtlinie 2011/95/EU , worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 EMRK niedergelegte Verbot der Folter.

 

Dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen muss, ergibt sich schon aus der Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wonach als Flüchtling im Sinn dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Auch Art. 9 Abs. 3 der Statusrichtlinie verlangt eine Verknüpfung zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen einerseits und den Verfolgungsgründen andererseits (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0080). Dafür reicht es nach der jüngeren Ansicht des UNHCR aus, dass der Konventionsgrund ein (maßgebend) beitragender Faktor ist, er muss aber nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden (VwGH 13.01.2015, Ra 2014/18/0140).

 

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 11 Abs. 1 AsylG 2005 (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, Rn. 14-24) ist im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung das Kriterium der "Zumutbarkeit" gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 Statusrichtlinie, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen. Die Frage der Zumutbarkeit soll danach beurteilt werden, ob der in einem Teil seines Herkunftslandes verfolgte oder von ernsthaften Schäden (iSd Art. 15 Statusrichtlinie) bedrohte Asylwerber in einem anderen Teil des Herkunftsstaates ein „relativ normales Leben“ ohne unangemessene Härte führen kann. Dabei ist gemäß § 11 Abs. 2 AsylG 2005 (Art. 8 Abs. 2 Statusrichtlinie) auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen. Der Verwaltungsgerichtshof hielt fest, dass die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates selbstverständlich wesentliche Bedeutung hat. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, findet. Es muss dem Asylwerber aber auch möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss.

 

Zu Afghanistan erkannte der Verwaltungsgerichtshof (VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118), dass eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. Es kann zutreffen, dass ein alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung in der afghanischen Hauptstadt Kabul (anfangs) mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Soweit es sich aber um einen jungen und gesunden Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung verfügt, handelt, ist - auf der Grundlage der jenem Fall zugrunde gelegten allgemeinen Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsstaat - nicht zu erkennen, dass eine Neuansiedlung in Kabul nicht zugemutet werden kann.

 

Im vorliegenden Fall ist auf Grund der Sachverhaltsfeststellungen davon auszugehen, dass die beschwerdeführende Partei eine drohende Verfolgung im Sinn der wiedergegebenen Gesetzesbestimmungen glaubhaft machen konnte.

 

Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe seiner Familie. Er ist in Afghanistan der Blutrache einer einflussreichen Familie ausgesetzt.

 

Gegen die Bedrohung in seiner Heimatprovinz steht der beschwerdeführenden Partei keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

 

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

 

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

 

Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Denn das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

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