BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:W217.2244223.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Angela SCHIDLOF sowie den fachkundigen Laienrichter Franz GROSCHAN als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 01.06.2021, OB: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Herr XXXX (in der Folge: BF) stellte am 09.09.2020 beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; in der Folge „belangte Behörde“ genannt) einlangend einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses. Beigelegt wurden ein Blutbefund XXXX vom 01.07.2020, Befunde XXXX , Untersuchung vom 01.09.2020 Gastroskopie und Koloskopie, sowie histologische Befunde von Dr. XXXX , Facharzt für Pathologie und Zytologie, vom 02.09.2020.
Weiters legte der BF nachstehenden E-Mailverkehr seines Vaters mit Dr. XXXX vor:
„Von: Dr. XXXX
Gesendet: Dienstag, 14. April 2020 11:37
An: XXXX
Betreff: Histobefund XXXX
Sehr geehrter Herr XXXX !
Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Ihre Tochter, die zum Zeitpunkt der Untersuchung 20 Jahre alt war, bereits seit MINDESTENS 5 Jahren, sicherlich aber schon wesentlich länger, an der Zöliakie litt, denn der Entwicklungsprozess bis zum MARSH-Stadium 3C dauert jahrelang. Ich begutachte auch oft histologische Präparate von Magen- Darmbiopsien von Kinderspitälern, wo die Erstdiagnose meistens schon im Vorschulalter erstellt wird, freilich noch nicht in diesem Stadium. Laut Fachliteratur beginnt die klassische Zöliakie bereits mit 6 bis 24 Monaten, daneben gibt es auch andere Formen, wie z.B. die stille Z., welche sich ohne klinische Symptome langsam über viele Jahre ebenfalls zum histologischen Vollbild entwickeln kann. Ich frage Sie, ob Sie ein bestimmtes Dokument oder Formular benötigen, in dem diese Feststellungen niedergeschrieben werden, oder ob ich einen Ergänzungsbefund in diesem sinngemäßen Wortlaut schreiben soll, über Fr. Dr. XXXX , welche derzeit allerdings ihre Ordination nicht geöffnet hat, aber sicher demnächst wieder eröffnen wird.
Bitte teilen Sie mir das mit.
(…)“
„Von: XXXX
Gesendet: Dienstag, 22. September 2020 21:19
An: Dr. XXXX >
Betreff: Histobefund XXXX
Sehr geehrter Herr Dr. XXXX !
Ich beziehe mich auf ein am 4.9.2020 geführtes Telefonat, nach dem Sie mir freundlicherweise Ihren Befund betreffend unseren Sohn XXXX vorab übermittelt haben. XXXX leidet ebenso wie unsere Tochter XXXX an Zöliakie (meine Gattin und ich wurden interessanterweise negativ getestet). Ihrem Befund entnehme ich, dass bei XXXX - wie auch bei XXXX - mittlerweile MARSH-Stadium 3C und somit ein jahrelanger Entwicklungsprozess vorliegt.
Da ich nun auch für XXXX die erforderlichen Behördenverfahren (Feststellung des Behindertengrades) führe erlaube ich mir die Frage, ob der untenstehende Text in gleicher Weise für XXXX Gültigkeit hat. Bejahendenfalls wäre es sehr hilfreich, wenn Sie diese Feststellungen in gleicher Weise für XXXX treffen und mir übermitteln könnten.
Vielen Dank für Ihre Unterstützung und beste Grüße (…)“
„Von: Dr. XXXX
Gesendet: Mittwoch, 23. September 2020 08:18
An: XXXX
Betreff: AW: Histobefund XXXX
Sehr geehrter Herr XXXX !
Der histologische Befund der Gastroskopie Ihres Sohnes XXXX , geb. XXXX , ergab ebenso wie bei seiner Schwester XXXX eine eindeutige Diagnose einer Zöliakie, MARSH- Klassifikation 3B bis 3C. Die ergänzende Interpretation, die ich im Zusammenhang mit XXXX geschrieben habe, gilt in gleichem Maße für Ihren Sohn XXXX . Die Entwicklung des Vollbildes einer Zöliakie benötigt zumindest 5 Jahre, wenn nicht mehr. Es besteht allerdings die reale Hoffnung, dass sich die Klinik und das histologische Bild unter strikter Diäteinhaltung weitgehend zurückbilden. Klar ist auch, dass durch die erforderliche Diät ein erheblicher finanzieller (natürlich nicht nur) Mehraufwand für entsprechende Nahrungsmittel entsteht. Mich würde auch interessieren, ob bei Ihren Kindern mittlerweile eine Besserung eingetreten ist, was mich freuen würde. Selbstverständlich kann ich Ihnen auch, falls erforderlich, ein „amtliches“ Formular zur Bestätigung unterschreiben.
Mit freundlichem Gruß (…)
2. Im von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten vom 27.11.2020 von Dr.in XXXX , Fachärztin für Innere Medizin und Ärztin für Allgemeinmedizin, führte diese basierend auf einer persönlichen Untersuchung des BF am 20.10.2020 Folgendes aus:
„Anamnese:
Zöliakie (Diagnose erfolgte 07/2020 durch Nachweis von Gliadin-AK und durch Colono- und Gastroskopie 09/2020)
Derzeitige Beschwerden:
Die Untersuchungen erfolgten wegen Blähungen, Bauchschmerzen, Sodbrennen und Müdigkeit.
Glutenfreie Diät erst begonnen. Noch keine Besserung der Beschwerden.
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Glutenfrei Diät; Eisenpräparat
Sozialanamnese:
19 Jahre 6 Monate. Eine Schwester. Lebt bei den Eltern.
Hat zuletzt maturiert (HTL XXXX ). Studium ist geplant.
Arbeitet derzeit als Contact-Tracer (BH XXXX )
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Aus der ärztlichen Bestätigung Dr. XXXX FA für Pathologie und Zytologie (Histologiebefund) vom 23.09.2020:
Diagnose:
Zöliakie, MARSH 3B bis 3C
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand:
Normal
Ernährungszustand:
Sehr schlank
Größe: 185,00 cm Gewicht: 72,00 kg Blutdruck:
Klinischer Status – Fachstatus:
Intern unauffällig (Abdomen: Abwehrspannung)
Gesamtmobilität – Gangbild:
Unauffällig
Status Psychicus:
Stimmung indifferent, allseits orientiert
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung
Lfd. Nr. | Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes: | Pos.Nr. | Gdb % |
1 | Zöliakie Eine Stufe unter dem oberen Rahmensatz bei reduziertem Ernährungszustand. Kurzer Diätbeginn. | 09.01.01 | 30 |
Gesamtgrad der Behinderung 30 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:
X Dauerzustand“
3. Mit Schreiben vom 30.11.2020 wurde dem BF das Ergebnis der Beweisaufnahme zur Kenntnis gebracht.
4. Mit Eingabe vom 22.12.2020 erstattete der BF eine Stellungnahme und führte aus, dass er schon seit mindestens fünf Jahren, dh. auch bereits vor Überschreiten des 18. Lebensjahres, an Zöliakie leide. Bei früherer Diagnose wäre gemäß Einschätzungsverordnung eine Einstufung mit 50% (Pos.Nr. 09.03.02) erfolgt. Eine rückwirkende Feststellung und Einstufung des Grades der Behinderung mit 50% entfalte auch Auswirkungen auf die Höhe der für ihn bezogenen Familienbeihilfe und sei zudem als Nachweis für eine erfolgreiche Geltendmachung von außergewöhnlichen Belastungen iSd § 34 EStG 1988 vom Verwaltungsgerichtshof als zulässig anerkannt worden. Der BF beantrage daher über die im Rahmen des Parteiengehörs in Aussicht gestellte Zuerkennung eines Grades der Behinderung von zumindest 30% hinaus rückwirkend für einen Zeitraum von 5 Jahren vor Überschreiten seines 18. Lebensjahres die Zuerkennung eines Grades der Behinderung von 50%.
5. In einer Stellungnahme vom 03.02.2021 ergänzte die bereits befasste Sachverständige, dass zwar anzunehmen sei, dass das Leiden der Zöliakie schon länger bestehe, ein genauer Zeitpunkt jedoch nicht festlegbar sei. Eine Einstufung und Beurteilung des Leidens sei erst ab Diagnosestellung (erster Befund mit Diagnose Zöliakie) möglich. Eine weiter rückwirkende Anerkennung des Grades der Behinderung sei daher nicht möglich.
6. In einem Gutachten vom 13.04.2021 im Verfahren nach dem Familienlastenausgleichsgesetz stellte die Sachverständige Frau Dr.in XXXX , Ärztin für Allgemeinmedizin, Folgendes fest:
„Anamnese:
siehe auch VGA vom 01.12.2020 Zöliakie 30%
Derzeitige Beschwerden:
Laut Auskunft des Vaters: ‚Wir wurden jetzt erneut vorgeladen, es ist zwar schon ein Gutachten im Dezember 2020 erstellt worden. Das Finanzamt XXXX hat den ganzen Akt aufgehoben, weil der Antrag damals per Email gestellt worden ist und uns gesagt wurde, ein Antrag per Email kann nicht gestellt werden, sondern nur per Post oder Fax. Somit wurde das Verfahren hinsichtlich der erhöhten Familienbeihilfe komplett neu begonnen, weswegen wir jetzt nun hier erneut vorgeladen wurden. Bei meinem Sohn besteht eine Zöliakie, die im September 2020 diagnostiziert worden ist. Seither muss er sich strikt glutenfrei ernähren. Anzeichen waren schon früher da, da auch die Blutwerte verändert waren. Mit der Diät geht es meinem Sohn besser als vorher, auch haben sich die Eisenwerte mittlerweile gebessert, sodass er keine zusätzlichen Medikamente benötigt.‘
Laut Auskunft des Patienten: ‚Ich merke, dass ich noch müde bin und Konzentrationsprobleme auf der Uni habe. Bauchschmerzen, Sodbrennen und Blähungen sind mittlerweile besser geworden, allerdings immer noch vorhanden.‘
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Glutenfreie Diät
Sozialanamnese:
Studiert an der FH XXXX
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Dr. XXXX , Email vom 23.09.2020: Betreff: Histologischer Befund XXXX : Der histologische Befund ergab die Diagnose einer Zöliakie MARSH-Klassifikation 3b-3c.
Histologischer Befund vom 02.09.2020: Zöliakie, passend nach modifizierter MARSH-Klassifikation 3b-fokal 3c
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand:
gut
Ernährungszustand:
zufriedenstellend
Größe: 184,00 cm Gewicht: 72,00 kg Blutdruck: -/-
Status (Kopf / Fußschema) – Fachstatus:
19 Jahre
Visus mit Brille korrigiert
Cor/ Pulmo/ Abdomen: ob
Extremitäten: frei beweglich
WS: frei beweglich
Gesamtmobilität – Gangbild:
normales Gangbild
Psycho(patho)logischer Status:
unauffällig
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
Lfd. Nr. | Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Rahmensätze: | Pos.Nr. | Gdb % |
1 | Zöliakie Eine Stufe unter dem oberen Rahmensatz noch vorhandene Beschwerdesymptomatik bei jedoch erst Diätbeginn vor Kurzem. | 09.01.01 | 30 |
Gesamtgrad der Behinderung 30 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
-
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
-
Stellungnahme zu Vorgutachten:
Keine Änderung zum VGA
Der festgestellte Grad der Behinderung wird voraussichtlich mehr als 3 Jahre andauern:
X ja
GdB liegt vor seit: 09/2020
Begründung – GdB liegt rückwirkend vor:
Anerkennung ab 09/2020 (Histologiebefund)
Herr XXXX ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: NEIN
Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:
Es besteht kein Leiden, das zur Unfähigkeit führt, sich dauerhaft selbstständig den Unterhalt zu verschaffen. X Dauerzustand“
7. Mit dem gegenständlich bekämpften Bescheid vom 01.06.2021 stellte die belangte Behörde fest, dass der BF mit einem Grad der Behinderung von 30% nicht die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses erfülle und wies den Antrag des BF vom 09.09.2020 ab.
In einem dem Bescheid zur Vorlage beim Wohnsitzfinanzamt beigelegten Dokument bestätigt die belangte Behörde, dass der festgestellte Grad der Behinderung seit September 2020 vorliegt und die festgestellte Notwendigkeit der Einhaltung einer Krankendiätverpflegung D1 seit September 2020 vorliegt.
8. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde und führte aus, dass der bekämpfte Bescheid hinsichtlich der erfolgten Feststellung des Grades der Behinderung von 30% (für die Zukunft) zur Kenntnis genommen werde und diesbezüglich in Teilrechtskraft erwachsen sei. Der Bescheid werde insofern angefochten, als über den Antrag auf rückwirkende Zuerkennung eines Grades der Behinderung für einen Zeitraum von 5 Jahren vor Überschreiten des 18. Lebensjahres bzw. zumindest für einen Zeitraum von 5 Jahren vor Feststellung der Krankheit mit 01.07.2020 bzw. 01.09.2020 nicht bzw. unrichtig entschieden worden sei. Aus dem im Verfahren beigebrachten E-Mail des Pathologen Dr. XXXX vom 23.09.2020 gehe hervor, dass der BF bereits seit mindestens fünf Jahren gerechnet vom Zeitpunkt der Diagnose (Blutbefund) im Juli 2020 bzw. Darmbefund im September 2020 an Zöliakie leide. Die Organisation, die mit der Einhaltung der Diät verbunden sei, bedeute eine tägliche Herausforderung, Spontanität sei praktisch nicht mehr möglich. Der Einschätzungsverordnung zufolge sei gemäß Pos. Nr. 09.03.02 eine Stoffwechselstörung leichten Grades bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit 50% Grad der Behinderung zu bemessen. Daher wäre bei früherer Diagnose der Erkrankung eine Einstufung mit 50% erfolgt.
Eine rückwirkende Feststellung und Einstufung des Grades der Behinderung mit 50% entfalte auch Auswirkungen auf die Höhe der für ihn bezogenen Familienbeihilfe und sei zudem als Nachweis für eine erfolgreiche Geltendmachung von außergewöhnlichen Belastungen im Sinne des § 34 EStG 1988 vom Verwaltungsgerichtshof als zulässig anerkannt worden.
Der BF beantragte, der Beschwerde stattzugeben und den angefochtenen Bescheid ersatzlos aufzuheben, in eventu den Bescheid dahingehend abzuändern, als für einen Zeitraum von 5 Jahren vor Überschreiten des 18. Lebensjahres ein Grad der Behinderung von 50% für diesen Zeitraum und für den darauffolgenden Zeitraum nach dem 18. Geburtstag bis zum Zeitpunkt der Diagnoseerstellung ein Grad der Behinderung zumindest entsprechend jenem für den Zeitraum ab der Diagnoseerstellung zuerkannt werde.
9. Die Beschwerde wurde samt dem Bezug habenden Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 09.07.2021 zur Entscheidung vorgelegt.
10. Am 22.09.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt. Dabei bestätigte der BF, dass bei ihm die Diagnose „Zöliakie“ erstmals im Jahr 2020 gestellt wurde und er seine Ernährung erst nach Erhalt des Befundes von der Endoskopie im September 2020 umgestellt hat. Erst nach Erhalt dieses Befundes habe er seine Ernährung durch entsprechende Nahrungsmittel umgestellt. Der Beschwerdeführervertreter ergänzte, der Blutbefund stamme vom 01.07.2020, die endoskopische Untersuchung habe am 01.09.2020 stattgefunden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer stellte am 09.09.2020 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses. Am 22.12.2020 beantragte der BF die rückwirkende Zuerkennung eines Grades der Behinderung von 50% für einen Zeitraum von 5 Jahren vor Überschreiten seines 18. Lebensjahres. In seiner Beschwerde beantragte der BF ferner für den Zeitraum nach dem 18. Geburtstag bis zum Zeitpunkt der Diagnoseerstellung die Zuerkennung jenes Grades der Behinderung, der jenem für den Zeitraum ab der Diagnoseerstellung zuerkannten Grad der Behinderung entspricht.
1.2. Der BF legte folgende Befunde vor:
Laborbefund von Labors.at vom 01.07.2020;
Befund Gastroskopie XXXX vom 01.09.2020;
Befund Koloskopie XXXX vom 01.09.2020;
Histologische Befunde von Dr. XXXX vom 02.09.2020.
1.3. Der BF leidet an Zöliakie. Die Erstdiagnose der Zöliakie-Erkrankung erfolgte im September 2020 durch die Befunde der Endoskopie vom 01.09.2020 und die histologischen Befunde von Dr. XXXX vom 02.09.2020. Der BF begann erstmals im September 2020 eine Diät einzuhalten.
1.4. Mit dem bekämpften Bescheid stellte die belangte Behörde fest, dass der BF mit einem Grad der Behinderung von 30% nicht die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses erfülle und wies den Antrag des BF vom 09.09.2020 ab. Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die ärztliche Begutachtung einen Grad der Behinderung von 30% ergeben habe und die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht vorliegen würden. In einem dem Bescheid zur Vorlage beim Wohnsitzfinanzamt beigelegten Dokument bestätigt die belangte Behörde, dass der festgestellte Grad der Behinderung seit September 2020 vorliegt und die festgestellte Notwendigkeit der Einhaltung einer Krankendiätverpflegung D1 seit September 2020 vorliegt.
1.5. Ein genauer Zeitpunkt des Beginns der Zöliakie-Erkrankung vor September 2020 ist nicht feststellbar.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellung zur gegenständlichen Antragstellung und zu den vorgelegten Befunden ergibt sich aus dem Akteninhalt.
Die Feststellung zum Grad der Behinderung des BF ab September 2020 beruht auf dem seitens der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten durch Frau Dr.in XXXX Fachärztin für Innere Medizin und Ärztin für Allgemeinmedizin, vom 27.11.2020. Unter Berücksichtigung der vom BF ins Verfahren eingebrachten medizinischen Unterlagen und nach persönlicher Untersuchung des BF wurde von der medizinischen Sachverständigen ein Grad der Behinderung von 30% festgestellt. Der infolge dessen festgestellte Grad der Behinderung von 30% ab September 2020 blieb seitens des BF ausdrücklich unbestritten und erwuchs daher in Rechtskraft.
Dass der BF an Zöliakie leidet, ergibt sich aus den von ihm vorgelegten Befunden sowie dem genannten Sachverständigengutachten und blieb im verwaltungsbehördlichen Verfahren ebenso unbestritten.
Dass ein genauer Beginn der Zöliakie-Erkrankung vor September 2020 nicht feststellbar ist, ergibt sich aus einer Zusammenschau des oben genannten Sachverständigengutachtens vom 27.11.2020 mit dem seitens des BF vorgelegten Schriftverkehr mit Dr. XXXX . Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei dem oben wiedergegebenen E-Mail des Pathologen vom 23.09.2020 um keinen Befund handelt. Zum Inhalt dieses E-Mails ist weiters festzuhalten, dass dieser Mediziner ebenfalls keinen genauen Zeitpunkt betreffend den Beginn der Zöliakie-Erkrankung benennt.
Die Sachverständige gab in einer Stellungnahme vom 03.02.2021 nachvollziehbar an, dass zwar anzunehmen sei, dass das Leiden der Zöliakie schon länger bestehe, ein genauer Zeitpunkt jedoch nicht festlegbar sei. Eine Einstufung und Beurteilung des Leidens sei jedoch erst ab Diagnosestellung (erster Befund mit Diagnose Zöliakie) möglich.
Für das erkennende Gericht steht damit fest, dass zwar – wie auch die Sachverständige ausführte – der BF bereits vor Antragstellung an Zöliakie erkrankte, jedoch eine rückwirkende Bemessung des Grades der Behinderung im gegenständlichen Fall mangels vorliegender Befunde, die eine frühere Diagnose und Beurteilung des Krankheitsbildes und der konkreten Funktionsbeeinträchtigungen ermöglicht hätte, schlichtweg faktisch nicht möglich ist (siehe hierzu sogleich unten die rechtliche Beurteilung).
Dass der BF erstmals im September 2020 eine Diät einzuhalten begann, ergibt sich aus seinen eigenen Angaben im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie aus dem Gutachten von XXXX vom 13.04.2021, wonach laut Auskunft des Vaters die Zöliakie beim BF im September 2020 diagnostiziert wurde und sich der BF seither strikt glutenfrei ernähren müsse.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A)
3.1. Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:
"§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpass auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hierzu ermächtigt ist.
§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3), ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn
1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hierfür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder
2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder
3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.
...
§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
...
§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.“
Weiters sind folgende Bestimmungen des Einkommenssteuergesetzes 1988 (EstG 1988) von Bedeutung:
„Außergewöhnliche Belastung
§34 (1) Bei der Ermittlung des Einkommens (§ 2 Abs. 2) eines unbeschränkt Steuerpflichtigen sind nach Abzug der Sonderausgaben (§ 18) außergewöhnliche Belastungen abzuziehen. Die Belastung muß folgende Voraussetzungen erfüllen:
1. Sie muß außergewöhnlich sein (Abs. 2).
2. Sie muß zwangsläufig erwachsen (Abs. 3).
3. Sie muß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen (Abs. 4).
Die Belastung darf weder Betriebsausgaben, Werbungskosten noch Sonderausgaben sein.
(2) Die Belastung ist außergewöhnlich, soweit sie höher ist als jene, die der Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse erwächst.
(3) Die Belastung erwächst dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihr aus tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann.
….
(6) Folgende Aufwendungen können ohne Berücksichtigung des Selbstbehaltes abgezogen werden:
– ….
– Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung, wenn die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 vorliegen, soweit sie die Summe pflegebedingter Geldleistungen (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage) übersteigen.
Der Bundesminister für Finanzen kann mit Verordnung festlegen, in welchen Fällen und in welcher Höhe Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung ohne Anrechnung auf einen Freibetrag nach § 35 Abs. 3 und ohne Anrechnung auf eine pflegebedingte Geldleistung zu berücksichtigen sind.
…
Behinderte
§ 35. (1) Hat der Steuerpflichtige außergewöhnliche Belastungen
– durch eine eigene körperliche oder geistige Behinderung,
– bei Anspruch auf den Alleinverdienerabsetzbetrag durch eine Behinderung des (Ehe-) Partners (§ 106 Abs. 3),
– ohne Anspruch auf den Alleinverdienerabsetzbetrag durch eine Behinderung des (Ehe-) Partners, wenn er mehr als sechs Monate im Kalenderjahr verheiratet oder eingetragener Partner ist und vom (Ehe-)Partner nicht dauernd getrennt lebt und der (Ehe-)Partner Einkünfte im Sinne des § 33 Abs. 4 Z 1 von höchstens 6 000 Euro jährlich erzielt,
– durch eine Behinderung eines Kindes (§ 106 Abs. 1 und 2), für das keine erhöhte Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 gewährt wird, und erhält weder der Steuerpflichtige noch sein (Ehe-)Partner noch sein Kind eine pflegebedingte Geldleistung (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage), so steht ihm jeweils ein Freibetrag (Abs. 3) zu.
(2) Die Höhe des Freibetrages bestimmt sich nach dem Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) richtet sich in Fällen,
1. in denen Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden, nach der hiefür maßgebenden Einschätzung,
2. in denen keine eigenen gesetzlichen Vorschriften für die Einschätzung bestehen, nach § 7 und § 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 bzw. nach der Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010, für die von ihr umfassten Bereiche.
Die Tatsache der Behinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) sind durch eine amtliche Bescheinigung der für diese Feststellung zuständigen Stelle nachzuweisen. Zuständige Stelle ist:
– Der Landeshauptmann bei Empfängern einer Opferrente (§ 11 Abs. 2 des Opferfürsorgegesetzes, BGBl. Nr. 183/1947).
– Die Sozialversicherungsträger bei Berufskrankheiten oder Berufsunfällen von Arbeitnehmern.
– In allen übrigen Fällen sowie bei Zusammentreffen von Behinderungen verschiedener Art das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen; dieses hat den Grad der Behinderung durch Ausstellung eines Behindertenpasses nach §§ 40 ff des Bundesbehindertengesetzes, im negativen Fall durch einen in Vollziehung dieser Bestimmungen ergehenden Bescheid zu bescheinigen.
(3) Es wird jährlich gewährt
bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von ein Freibetrag von Euro
25% bis 34% 124
35% bis 44% 164
45% bis 54% 401
55% bis 64% 486
65% bis 74% 599
75% bis 84% 718
85% bis 94% 837
ab 95% 1.198.
(4) …..
(5) Anstelle des Freibetrages können auch die tatsächlichen Kosten aus dem Titel der Behinderung geltend gemacht werden (§ 34 Abs. 6).
….
(7) Der Bundesminister für Finanzen kann nach den Erfahrungen der Praxis im Verordnungsweg Durchschnittssätze für die Kosten bestimmter Krankheiten sowie körperlicher und geistiger Gebrechen festsetzen, die zu Behinderungen im Sinne des Abs. 3 führen.
….
4. TEIL
VERANLAGUNG
Allgemeine Veranlagung und Veranlagungszeitraum
§ 39. (1) Die Einkommensteuer wird nach Ablauf des Kalenderjahres (Veranlagungszeitraumes) nach dem Einkommen veranlagt, das der Steuerpflichtige in diesem Veranlagungszeitraum bezogen hat. Hat der Steuerpflichtige lohnsteuerpflichtige Einkünfte bezogen, so erfolgt eine Veranlagung nur, wenn die Voraussetzungen des § 41 vorliegen.
….
Veranlagung von lohnsteuerpflichtigen Einkünften
§ 41. (1) Sind im Einkommen lohnsteuerpflichtige Einkünfte enthalten, so ist der Steuerpflichtige zu veranlagen, wenn
1. …..
(2) 1. Liegen die Voraussetzungen des Abs. 1 nicht vor, hat das Finanzamt auf Antrag des Steuerpflichtigen eine Veranlagung vorzunehmen, wenn der Antrag innerhalb von fünf Jahren ab dem Ende des Veranlagungszeitraums gestellt wird (Antragsveranlagung). § 39 Abs. 1 dritter Satz ist anzuwenden.
…“
3.2. In der Sache:
Ein Antrag auf Berücksichtigung von behinderungsbedingten Mehraufwendungen kann im Wege der Veranlagung („Jahresausgleich") für fünf Jahre zurück gestellt werden; für die erfolgreiche Geltendmachung ist ein Nachweis durch das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen erforderlich. Vor diesem Hintergrund ist mit Blick auf das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes ein rechtliches Interesse eines behinderten Menschen an einer rückwirkenden Feststellung des Grads der Behinderung, sei es durch Ausstellung eines Behindertenpasses, sei es durch Erlassung eines - mit Beschwerde an das Verwaltungsgericht anfechtbaren - Bescheids nicht zu bezweifeln, wenn dies - wie im vorliegenden Falls - iSd § 42 Abs. 1 zweiter Satz BBG 1990 zum Nachweis von Rechten erforderlich ist. Daran ändert nichts, dass die Feststellung des Grades der Behinderung für vergangene Zeiträume - in praktischer Hinsicht - fallweise schwer gelingen mag. Die in Rede stehende Bestimmung des § 42 Abs. 1 zweiter Satz BBG 1990 ist dahin auszulegen, dass sie auch Basis für eine rückwirkende Feststellung des Grads der Behinderung bildet: Eine rückwirkende Feststellung des Grades der Behinderung kann nämlich als Nachweis für die erfolgreiche Geltendmachung von außergewöhnlichen Belastungen im Sinne des § 34 EStG 1988 und damit von "Rechten und Vergünstigungen" iSd § 42 Abs. 1 zweiter Satz BBG 1990 erforderlich sein (vgl. VwGH vom 11.11.2015, Ra 2014/11/0109).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in der zitierten Entscheidung somit klargestellt, dass eine rückwirkende Feststellung des Grades der Behinderung im Sinne des Gebotes des effektiven Rechtsschutzes im Hinblick auf die etwaige Geltendmachung steuerrechtlicher Ansprüche geboten sein kann. Eine derartige Feststellung finde in § 42 Abs. 1 zweiter Satz BBG 1990 eine entsprechende Rechtsgrundlage.
Dem Begehren des BF auf eine entsprechende rückwirkende Feststellung des Grades der Behinderung kann gegenständlich jedoch aus nachfolgenden Gründen nicht Folge geleistet werden:
Gemäß § 2 Abs. 1 der bereits oben zitierten Einschätzungsverordnung, BGBl II Nr. 261/2010 idgF, sind die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.
Gemäß § 4 Abs. 1 leg.cit. bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen. Gemäß Abs. 2 hat das Gutachten neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat hierzu ausgesprochen, dass vor dem Hintergrund des § 2 Abs. 1 der Einschätzungsverordnung, wonach primär Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung (bzw. der Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen) für die konkrete Bemessung des Grads der Behinderung entscheidend sind, und des § 3 Abs. 1 leg. cit., wonach bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen deren Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer Wechselbeziehungen maßgebend sind, davon auszugehen sei, dass eine entsprechende Beurteilung auch bei der Bewertung der einzelnen, in der Anlage zur Einschätzungsverordnung bei einem bestimmten Krankheitsbild genannten und für die Bemessung des GdB innerhalb einer Bandbreite entscheidenden Parameter erforderlich sei. Eine derartige Beurteilung sei gemäß § 4 Abs. 1 der Einschätzungsverordnung von einem Sachverständigen vorzunehmen (VwGH vom 11.11.2015, Ra 2014/11/0109).
Die Beurteilung der Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung, die für die konkrete Bemessung des Grades der Behinderung ausschlaggebend ist, hat nach dem klaren Gesetzeswortlaut im Rahmen eines Gutachtens zu erfolgen, in welchem der/die Sachverständige neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung anzuführen hat. Während jedoch die Feststellung des Grades der Behinderung „pro futuro“ in erster Linie auf einer klinischen Untersuchung des Antragstellers durch den/die Sachverständige(n) basiert, kann eine rückwirkende Feststellung des Grades der Behinderung praktisch nur bei Vorliegen einer entsprechend dokumentierten medizinischen Historie des Beschwerdeführers, die einer Beurteilung der Art und Schwere des Krankheitsbildes und der damit einhergehenden Funktionseinschränkung im betreffenden Zeitraum zugänglich ist, erfolgen (vgl. den Sachverhalt des seitens des BF ins Treffen geführten Erkenntnisses des VwGH vom 11.11.2015, Ra 2014/11/0109, in dem einerseits der Revisionswerber Befunde für den beantragten Zeitraum vorlegte, andererseits auch eine – wenngleich vom Revisionswerber als zu gering befundene – rückwirkende Einschätzung des Grades der Behinderung durch den ärztlichen Dienst der belangten Behörde erfolgte).
Im gegenständlichen Fall erfolgte – wie der BF selbst in der mündlichen Verhandlung bestätigte - die Erstdiagnose der Zöliakie, die die Basis des Antrags auf Ausstellung eines Behindertenpasses bildete, erst im September 2020, nach Erhalt des Blutbildbefundes und der danach durchgeführten Gastro- bzw. Koloskopischen Untersuchungen des BF sowie der histologischen Beurteilung im September 2020. Es wurden keine medizinischen oder sonstigen Unterlagen vorgelegt, die eine konkrete Beurteilung des Grades der Behinderung für einen früheren Zeitraum durch den/die Sachverständige(n) ermöglichen würde.
Das Vorbringen eines bereits in einem Zeitraum von 5 Jahren vor Erreichen des 18. Lebensjahres vorliegenden Anspruches auf Ausstellung eines Behindertenpasses stützt sich ausschließlich auf eine Einschätzung des untersuchenden Arztes Dr. XXXX betreffend den Regelverlauf bzw. die Dauer der Entwicklung des Vollbildes der Zöliakie, die auch von der seitens der belangten Behörde hinzugezogenen Sachverständigen Frau Dr.in XXXX nicht in Abrede gestellt wurde. Diese gab in einer Stellungnahme vom 03.02.2021 nachvollziehbar an, dass zwar anzunehmen sei, dass das Leiden der Zöliakie schon länger bestehe, ein genauer Zeitpunkt jedoch nicht festlegbar sei. Eine Einstufung und Beurteilung des Leidens sei erst ab Diagnosestellung (erster Befund mit Diagnose Zöliakie) möglich.
Der vom BF vorgelegte Schriftverkehr mit Dr. XXXX , in dem dieser pauschal aus der Dauer der Entwicklung des Vollbildes der Zöliakie von fünf Jahren den Schluss zieht, dass auch der BF zumindest bereits während eines solchen Zeitraumes an Zöliakie leide, lässt jedoch keine fundierten Rückschlüsse auf den tatsächlichen, konkreten Beginn der Erkrankung im Fall des BF, die konkreten Auswirkungen der Erkrankung auf den BF, und damit einhergehend die Schwere der durch das Leiden bewirkten Funktionsbeeinträchtigung in diesem Zeitraum zu. Die bloße Vermutung eines sich vor dem Zeitpunkt der Erstdiagnose entwickelnden Krankheitsverlaufes stellt nach Ansicht des erkennenden Gerichts keine hinreichende Grundlage für eine rückwirkende Bemessung des Grades der Behinderung dar.
In Ermangelung entsprechender klinischer Befunde aus dem betreffenden Zeitraum konnte eine Einstufung und Beurteilung der Erkrankung des BF im gegenständlichen Fall somit – wie von der Sachverständigen Frau Dr.in XXXX festgestellt – faktisch erst ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung, dh. frühestens mit September 2020 erfolgen.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem obzitierten Erkenntnis festgehalten hat, kann die rückwirkende Feststellung des Grads der Behinderung als Nachweis für die erfolgreiche Geltendmachung von außergewöhnlichen Belastungen iSd § 34 EstG 1988 und damit von „Rechten und Vergünstigungen“ iSd § 42 Abs. 1 zweiter Satz BBG erforderlich sein.
Aus § 34 EStG ergibt sich, dass die Belastung außergewöhnlich sein muss, die Belastung zwangsläufig erwachsen muss und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen muss.
Wie der BF in der mündlichen Verhandlung selbst bestätigte, hat er seine Ernährung jedoch erst nach Erhalt des Befundes von der Endoskopie im September 2020 durch entsprechende Nahrungsmittel umgestellt. Daraus folgt, dass ihm zuvor keine außergewöhnlichen Belastungen aus dem Titel der Zöliakie erwachsen sind.
Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
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