BVwG W258 2148740-1

BVwGW258 2148740-13.5.2017

AsylG 2005 §3
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3
AsylG 2005 §3
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2017:W258.2148740.1.00

 

Spruch:

W258 2148740-1/4E

 

BESCHLUSS

 

Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx und Dr. Lennart Binder, LL.M., Rechtsanwalt, beide 1030 Wien, Rochusgasse 2/12, gegen den Bescheid des Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, Zahl 1079750800-150945555 wegen ua Nichtgewährung von internationalem Schutz und Erlass einer Rückkehrentscheidung den Beschluss:

 

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Bescheid

aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückverwiesen.

 

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

 

BEGRÜNDUNG:

 

I. Verfahrensgang:

 

Der männliche Beschwerdeführer (in Folge als "BF" bezeichnet) stellte am 27.7.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, wurde dazu am selben Tag von der Landespolizeidirektion Tirol einvernommen und gab unter anderem als Fluchtgrund an, ein Kommandant namens Momtaz habe öfter Verhältnisse mit jungen Männern gehabt und gegen seinen Willen auch mit ihm ein Verhältnis und insbesondere auch Geschlechtsverkehr haben wollen. Im November 2014 sei er von Momtaz entführt und nach zwei Tagen freigelassen worden. Im Mai 2015 sei er aus Afghanistan ausgereist.

 

Am 19.5.2016 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich (in Folge auch kurz als "belangte Behörde" bezeichnet) unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin, Frau N. Heider, einvernommen.

 

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 24.2.2017 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig sei. Die belangte Behörde argumentierte ua sinngemäß, es sei nicht nachvollziehbar, dass sich ein mächtiger Mann wie Momtaz über vier bis fünf Monate vom BF hinhalten lasse.

 

Der Bescheid wurde am 1.3.2017 vom BF persönlich übernommen. Der BF brachte gegen den Bescheid am 9.3.2017 bei der belangten Behörde Beschwerde ein, in der er unter anderem die Mangelhaftigkeit des (behördlichen) Verfahrens geltend gemacht hat.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

1. Feststellungen:

 

Der zu Punkt I. geschilderte Verfahrensgang steht fest.

 

Der BF hat nicht verlangt, seiner Vernehmung vor der belangten Behörde einen weiblichen Dolmetscher beizuziehen.

 

Die Einvernahme des BF durch die belangte Behörde wurde von ihr zur Begründung der mangelnden Glaubhaftigkeit der Fluchtgründe des BF herangezogen (Seiten 64-67 des angefochtenen Bescheides).

 

2. Beweiswürdigung:

 

Beweise wurden aufgenommen durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt. Die Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen Verwaltungsakt.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

 

Zu Spruchpunkt A)

 

Gemäß Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

 

Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen (§ 28 Abs 3 2. Satz VwGVG). Dies aber nur bei krassen Ermittlungsmängeln, nämlich ua dann, wenn die belangte Behörde zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder den maßgeblichen Sachverhalt bloß ansatzweise ermittelt hat (vgl jüngst VwGH 31.1.2017, Ra 2016/03/0063).

 

Der belangten Behörde ist ein solcher krasser Ermittlungsmangel vorzuwerfen, den der BF in seiner - zulässigen - Beschwerde allgemein als Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend gemacht hat:

 

Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung [...] auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter [und Dolmetscher] desselben Geschlechts einzuvernehmen, sofern er nichts anderes verlangt (§ 20 Abs 1 1. Satz AsylG 2005; zum Dolmetscher siehe - mit detaillierter Begründung zum zu § 20 AsylG 2005 wortgleichen § 27 Abs 3 letzter Satz AsylG 1997 idF BGBl I Nr. 76/1997 - VwGH 3.12.2003, 2001/01/0402). Die Furcht vor einem drohenden Eingriff ist dabei ausreichend (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer Asyl- und Fremdenrecht (2016) § 20 AsylG 2005 K5).

 

Wird ein Asylwerber dennoch von einer Person eines anderen Geschlechts bzw. unter Beiziehung eines Dolmetschers eines anderen Geschlechts einvernommen, [...] wird [das] vielfach als krasser Ermittlungsmangel zu qualifizieren sein, der eine Behebung gemäß § 28 Abs 3 VwGVG rechtfertigt, sofern die beweiswürdigenden Erwägungen wesentlich auf der betreffenden Einvernahme aufbauen [...] (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer Asyl- und Fremdenrecht (2016) § 20 AsylG 2005 K3).

 

Der männliche BF hat mit seinem Vorbringen vor der Landespolizeidirektion Tirol, ihm drohten gegen seinen Willen sexuelle Übergriffe durch den Kommandanten Momtaz, einen drohenden Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung behauptet. Die Beiziehung eines weiblichen Dolmetschers hat der BF nicht verlangt. Die belangte Behörde hat zur Einvernahme des BF dennoch einen weiblichen Dolmetscher beigezogen und ihre beweiswürdigenden Erwägungen im Wesentlichen auf der betreffenden Einvernahme aufgebaut.

 

Die derart durchgeführte Einvernahme ist rechtswidrig. Sie stellt darüber hinaus einen völlig ungeeigneten Ermittlungsschritt dar, weil die wesentliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass der BF durch die Beiziehung eines Dolmetschers mit anderem Geschlecht seine Erlebnisse über den (drohenden) Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung nur zum Teil oder abgeschwächt wiedergegeben hat. Insbesondere der Vorwurf der belangten Behörde, es sei nicht plausibel, dass sich ein mächtiger Mann wie Momtaz hinhalten lasse, hätte durch eine - durch die Beiziehung eines Sachbearbeiters und eines Dolmetschers mit jeweils demselben Geschlecht wie der BF - für den BF weniger beschämende Einvernahme entkräftet werden können.

 

Die durch die belangte Behörde vorgenommene Einvernahme des BF ist daher nicht zum Nachweis der mangelnden Glaubhaftigkeit seines Vorbringens geeignet. Indem die belangte Behörde diese Einvernahme trotzdem zum Nachweis der mangelnden Glaubhaftigkeit des Vorbringens des BF verwendet hat, ist ihr ein krasser Ermittlungsmangel vorzuwerfen, der eine Behebung gemäß § 28 Abs 3 VwGVG rechtfertigt.

 

Trotz Vorliegens eines krassen Ermittlungsmangels hat das Verwaltungsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (§ 28 Abs 2 Z 2 VwGVG).

 

Der maßgebliche Sachverhalt steht nicht fest, weil der im Asylverfahren zentrale Ermittlungsschritt, die Einvernahme des Asylwerbers, mangelhaft war und zur Feststellung des wesentlichen Sachverhaltes nicht herangezogen werden kann. Der maßgebliche Sachverhalt kann daher erst durch die (neuerliche) Einvernahme des BF unter Beiziehung eines jeweils männlichen Sachbearbeiters und Dolmetschers sowie allenfalls durch die Vornahme weiterer, sich aus der neuen Einvernahme ergebenden, Ermittlungsschritte, wie Länderrecherchen, festgestellt werden. Diese faktische Neudurchführung des verwaltungsbehördlichen Verfahrens kann durch die belangte Behörde als (gerichtsnotorisch bekannte) Spezialbehörde rascher und kostengünstiger als durch das erkennende Gericht durchgeführt werden. § 28 Abs 2 Z 2 VwGVG steht somit einer Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die belangte Behörde nicht entgegen.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden. Die belangte Behörde wird im neuen Rechtsgang den BF unter Beziehung eines jeweils männlichen Sachbearbeiters und Dolmetschers neuerlich zu vernehmen haben.

 

Zu Spruchpunkt B)

 

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere, wenn Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur lösenden Rechtsfrage fehlt. Selbst dann liegt aber nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vor, wenn die Rechtsfrage durch die zu früheren Rechtslagen ergangene und auf die aktuelle Rechtslage übertragbare Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bereits geklärt wurde (vgl jüngst VwGH 29.4.2015, Ra 2015/06/0027).

 

Zwar fehlt es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob § 20 Abs 1 1. Satz AsylG 2005 die Behörde verpflichtet, im Falle des behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung, nicht nur einen Organwalter sondern auch einen Dolmetscher mit demselben Geschlecht wie der BF beizuziehen, die hiezu zum § 27 Abs 3 letzter Satz AsylG 1997 idF BGBl I Nr. 76/1997 ergangene Entscheidung VwGH 3.12.2003, 2001/01/0402 ist aber, aufgrund des identischen Wortlauts der beiden Bestimmungen, auf die aktuelle Rechtslage übertragbar.

 

Mangels Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung war daher spruchgemäß zu entscheiden.

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