VfGH V81/2021

VfGHV81/202116.6.2021

Gesetzwidrigkeit einer Verordnung des Landeshauptmanns von Tirol betreffend die Einhaltung eines Mindestabstands zu haushaltsfremden Personen ab dem Verlassen des eigenen Wohnsitzes wegen Überschreitung der damals geltenden gesetzlichen Ermächtigung nach dem – lediglich das Betreten bestimmter Orte zulassenden – COVID-19-MaßnahmenG

Normen

B-VG Art139 Abs1 Z1
COVID-19-MaßnahmenG §2
COVID-19-MaßnahmenV des Landeshauptmanns v Tirol v 20.03.2020, LGBl 35/2020 §4 Abs3
VfGG §7 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2021:V81.2021

 

Spruch:

I. §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl für Tirol Nr 35/2020, war bis zum Ablauf des 4. April 2020 gesetzwidrig.

II. Die als gesetzwidrig festgestellte Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.

III. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol die Feststellung, dass §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, bis zum Inkrafttreten des Gesetzes BGBl I 23/2020 am 5. April 2020 gesetzwidrig war.

II. Rechtslage

1. §2 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 (COVID‑19-Maßnahmengesetz), BGBl I 12/2020, lautete in der Stammfassung wie folgt:

"Betreten von bestimmten Orten

 

§2. Beim Auftreten von COVID‑19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist. Die Verordnung ist

1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,

2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder

3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.

Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken."

2. §2 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 (COVID‑19-Maßnahmengesetz), BGBl I 12/2020 idF BGBl I 23/2020, lautete wie folgt:

"Betreten von bestimmten Orten

 

§2. Beim Auftreten von COVID‑19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist. Die Verordnung ist

1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,

2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder

3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.

Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen."

3. Die Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes (im Folgenden: Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol), LGBl 35/2020 (§1 Abs2 und §7 Abs2, 3 und 4 idF LGBl 41/2020), lautete (ua am 3. April 2020) wie folgt (die angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):

"Auf Grund von §2 Z2 des Covid-19-Maßnahmengesetzes, BGBl I Nr 12/2020, wird verordnet:

 

§1

 

(1) Zur Verhinderung der weiteren Verbreitung von COVID‑19 ist das Betreten öffentlicher Orte im gesamten Landesgebiet nach Maßgabe der §§2 bis 5 unter Gewährleistung der Versorgungssicherheit und des freien Warenverkehrs für alle Gemeinden verboten.

 

(2) Durch diese Verordnung bleiben etwaige durch die zuständige Bezirksverwaltungsbehörde für die Gemeinden des Paznauntals und die Gemeinde St. Anton am Arlberg sowie für die Gemeinde Sölden erlassene verkehrsbeschränkende Maßnahmen nach dem Epidemiegesetz 1950 und für diese Gemeinden erlassene Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 nach §2 Z3 COVID‑19-Maßnahmengesetz unberührt.

 

§2

 

(1) Österreichische Staatsbürger und Staatsangehörige anderer Staaten, die nicht über einen Wohnsitz in Tirol verfügen, haben das Landesgebiet unverzüglich zu verlassen, sofern sie nicht einer beruflichen Tätigkeit zur Aufrechterhaltung von kritischer Infrastruktur oder der Versorgungssicherheit nachgehen.

 

(2) Österreichischen Staatsbürgern und Staatsangehörigen anderer Staaten, die über einen Wohnsitz in Tirol verfügen und sich im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung nicht im Landesgebiet aufhalten, ist die Einreise gestattet. Dies gilt auch für Personen, die im Landesgebiet einer beruflichen Tätigkeit zur Aufrechterhaltung von kritischer Infrastruktur oder der Versorgungssicherheit nachgehen.

 

(3) Österreichischen Staatsbürgern und Staatsangehörigen anderer Staaten, die nicht über einen Wohnsitz in Tirol verfügen, ist abweichend von Abs2 die Einreise in das Landesgebiet gestattet, wenn dies zur Besorgung wichtiger und unaufschiebbarer persönlicher Verpflichtungen (zB Begräbnis, Obsorgeverpflichtungen) unbedingt notwendig ist.

 

(4) Österreichischen Staatsbürgern und Staatsangehörigen anderer Staaten, die über einen Wohnsitz im Landesgebiet verfügen und sich im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung im Landesgebiet aufhalten, ist das Verlassen des Landesgebietes untersagt; sie haben sich unverzüglich zu ihrem Wohnsitz zu begeben. Das Verlassen des Landesgebietes ist bei Vorliegen von triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinn des §4 Abs5 gestattet, zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit jedoch nur zum Zweck der Aufrechterhaltung von kritischer Infrastruktur oder der Versorgungssicherheit; diese Einschränkung gilt nicht für Personen, die zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit die Felbertauernstraße passieren müssen.

 

(5) Abweichend von Abs1 bis 4 ist die Durchreise durch das Landesgebiet ohne Zwischenstopp auf der kürzest möglichen Route zulässig, sofern die Ausreise sichergestellt ist.

 

(6) Als Wohnsitz im Sinn dieser Verordnung gelten der Hauptwohnsitz, der Nebenwohnsitz oder der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts im Landesgebiet.

 

§3

 

(1) Die Zufahrt zu und die Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet werden verboten.

 

(2) Abs1 gilt nicht für:

a) (Einsatz‑) Fahrten der Blaulichtorganisationen,

b) Allgemeine Versorgungsfahrten durch Zulieferer (zB Lebensmitteltransporte) und Fahrten zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge (zB Straßendienst, Müllabfuhr, Dienstleistungsbetriebe, öffentlicher Verwaltungsdienst, öffentlicher Kraftfahrlinien- und Schienenverkehr) und im Bereich der versorgungskritischen öffentlichen Infrastruktur (zB Strom- und Wasserversorgung),

c) Fahrten zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsfürsorge und Alten- und Krankenpflege, insbesondere individuell unaufschiebbare Fahrten (zB Dialyseversorgung, Bestattung nächster Angehöriger), und

d) Fahrten aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinn des §4 Abs5.

 

(3) Zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit und des freien Warenverkehrs ist das Durchfahren der Gemeinden im Landesgebiet erlaubt.

 

§4

 

(1) Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes (§2 Abs6) ist verboten.

 

(2) Ausgenommen vom Verbot nach Abs1 ist das Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen. Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes ist dabei auf ein zeitlich und örtlich unbedingt notwendiges Minimum zu beschränken.

 

(3) Ab dem Verlassen des eigenen Wohnsitzes ist, abgesehen von Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, gegenüber anderen Personen ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Bei der Benützung von Kraftfahrzeugen zu nicht privaten Zwecken, die außer dem Lenkplatz Plätze für mehr als vier Personen aufweisen, oder bei Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist ein Abstand von mindestens einem Meter gegenüber anderen Personen einzuhalten.

 

(4) Beim Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigem Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen ist das Überschreiten der Grenze des jeweiligen Gemeindegebietes verboten. Ein Übertreten der Grenzen des Gemeindegebietes zu dem im §3 Abs2 litd genannten Zweck ist nur dann zulässig, wenn nachweislich die Grundbedürfnisse nicht innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt werden können. Dies ist im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.

 

(5) Triftige Gründe zur Deckung von Grundbedürfnissen, die ein Verlassen des eigenen Wohnsitzes rechtfertigen, sind die Ausübung beruflicher Tätigkeiten, die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (zB Arztbesuch, medizinische Behandlungen, Therapie), sonstige Handlungen zur Versorgung der Grundbedürfnisse (zB Lebensmitteleinkauf, Gang zur Apotheke oder zum Geldautomat, Besuch bei Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen in ihrem jeweiligen privaten Bereich) und Handlungen zur Versorgung von Tieren. Diese triftigen Gründe sind im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.

 

§5

 

Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben die Beschränkungen zu überwachen und gegebenenfalls sicherheitspolizeilich einzuschreiten.

 

§6

 

Wer dieser Verordnung zuwiderhandelt, begeht gemäß §3 Abs3 COVID‑19-Maßnahmengesetz eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe von bis zu 3.600,‑ Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu vier Wochen, zu bestrafen.

 

§7

 

(1) Diese Verordnung tritt mit 21. März 2020 in Kraft, soweit in den Abs2, 3 und 4 nicht anderes bestimmt wird.

 

(2) Für die Gemeinde St. Anton am Arlberg treten §1 Abs2, §4 Abs1, 2, 3 und 5 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.

 

(3) Für die Gemeinden im Paznauntal treten §1 Abs2 und §4 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.

 

(4) Für die Gemeinde Sölden treten §1 Abs2, §4 Abs1, 2, 3 und 5 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.

 

(5) Diese Verordnung tritt mit dem Ablauf des 13. April außer Kraft.

 

(6) Die Verordnung des Landeshauptmannes nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl Nr 33/2020, in der Fassung der Verordnung LGBl Nr 34/2020, tritt mit dem Ablauf des 20. März 2020 außer Kraft."

4. Die Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol LGBl 35/2020 idF LGBl 41/2020 trat gemäß den §§1 und 2 der "Verordnung des Landeshauptmannes [von Tirol] vom 6. April 2020, mit der die Verordnung nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl Nr 35/2020, in der Fassung der Verordnung LGBl Nr 41/2020, aufgehoben wird", LGBl 44/2020, mit Ablauf des 6. April 2020 außer Kraft.

5. Mit Erkenntnis vom 10. Dezember 2020, V512/2020, kundgemacht in BGBl II 104/2021, hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass §4 Abs1, Abs2 und Abs5 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, gesetzwidrig war und nicht mehr anzuwenden ist. Mit Erkenntnis vom 10. Dezember 2020, V535/2020, kundgemacht in BGBl II 100/2021, hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass §3 und §4 Abs4 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, bis zum Ablauf des 4. April 2020 gesetzwidrig waren und nicht mehr anzuwenden sind.

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Beim Landesverwaltungsgericht Tirol ist zur Zahl LVwG‑2020/15/1505 die Bescheidbeschwerde gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Lienz vom 5. Juni 2020 anhängig, mit welchem zu Spruchpunkt 2. über den Beschwerdeführer des Anlassverfahrens eine Geldstrafe in Höhe von € 180,– (im Fall der Uneinbringlichkeit 33 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt worden ist, weil er entgegen §4 Abs3 iVm §6 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020, LGBl 35/2020, am 3. April 2020 um 18:40 Uhr auf einem Parkplatz in Nussdorf-Debant den gebotenen Abstand von einem Meter zu zwei näher bezeichneten, nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Personen nicht eingehalten habe.

2. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Tirol den vorliegenden Antrag gemäß Art139 Abs1 Z1 B‑VG an den Verfassungsgerichtshof.

3. Das Landesverwaltungsgericht Tirol begründet seinen Antrag wie folgt (ohne Hervorhebungen im Original):

"[…] Prozessvoraussetzungen:

 

Zu Spruchpunkt erstens des Straferkenntnisses der Bezirkshauptmannschaft Lienz vom 05.06.2020 wird einleitend festgehalten, dass das Straferkenntnis in diesem Punkt zu Folge des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 10.12.2020, V512/2020, zu beheben und das Strafverfahren diesbezüglich einzustellen sein wird.

 

Zu Spruchpunkt 2. wird in der Sache einleitend darauf hingewiesen, dass das in §1 Abs2 VStG normierte 'Günstigkeitsprinzip' im vorliegenden Fall nicht anzuwenden ist: Zwar sieht §1 Abs2 VStG vor, dass sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht richtet, es sei denn, dass das zur Zeit der Entscheidung geltende Recht in seiner Gesamtauswirkung für den Täter günstiger wäre. Dieses Günstigkeitsprinzip gilt allerdings nicht für 'Zeitgesetze': Dabei handelt es sich um Gesetze, die von vorn herein nur für einen bestimmten Zeitraum gegolten haben und der Wegfall der Regelung somit nicht auf einem geänderten Unwerturteil des Normgebers basiert (vgl dazu etwa generell VwGH 22.07.2019, Ra 2019/02/0107).

 

Die Verordnung des Landeshauptmannes vom 20. März 2020 wurde mit Verordnung des Landeshauptmannes vom 6. April 2020, LGBl Nr 44/2020 aufgehoben, zumal sich die Gesamtsituation betreffend die Verbreitung des SARS‑CoV‑2 Virus in Tirol zu diesem Zeitpunkt wiederum deutlich verbessert hat. Die Aufhebung der Verordnung ist somit eindeutig auf eine Änderung der für die Anordnung relevanten Sachlage zurückzuführen und nicht auf eine nachträglich andere Beurteilung der Gefährlichkeit des Virus.

 

Da die Handlung des Beschwerdeführers unter die zum Tatzeitpunkt geltende Verordnung des Landeshauptmannes vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes zu subsumieren ist und die behördlichen Verfolgungshandlungen auch in Übereinstimmung mit dieser Rechtsgrundlage gesetzt wurden, ist §4 dieser Verordnung hier anzuwenden. Zumal der Beschwerdeführer bei der mündlichen Verhandlung vom 25.02.2021 eingestanden hat, dass er einen Mindestabstand von einem Meter zu seinen Freunden auf dem Parkplatz vor dem SOS-Kinderdorf nicht eingehalten hat, ist die Sache im Sinne des §28 Abs2 VwGVG entscheidungsreif. Dass die Verordnung bereits außer Kraft getreten ist, ist nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichts unbeachtlich, wozu auf die obenstehenden Ausführungen zu §1 Abs2 VStG verwiesen wird.

 

Gegen diese Verordnung bestehen Bedenken ob ihrer Gesetzmäßigkeit. Es ist daher gemäß Art89 Abs2 B‑VG iVm Art135 Abs4 B‑VG der gegenständliche Antrag nach Art139 Abs1 Z1 B‑VG an den Verfassungsgerichtshof zu stellen.

 

3.2. In der Sache:

 

Nach der Bundesverfassung (Art18 Abs2 B‑VG) sind Verordnungen nur 'auf Grund der Gesetze' zu erlassen. Das heißt, dass eine Verordnung bloß präzisieren darf, was in den wesentlichen Konturen bereits im Gesetz selbst vorgezeichnet wurde (etwa VfSlg 11.639/1988 und die dort zitierte Vorjudikatur sowie VfSlg 14.895/1997). Soll ein Gesetz mit Durchführungsverordnung vollziehbar sein, müssen daraus also alle wesentlichen Merkmale der beabsichtigten Regelung ersehen werden können (Prinzip der Vorausbestimmung des Verordnungsinhaltes durch das Gesetz: VfSlg 4644/1964, 4662/1964, 5373/1966, 7945/1976); eine bloße formalgesetzliche Delegation, die der Verwaltungsbehörde eine den Gesetzgeber supplierende Aufgabe zuweist, stünde mit Art18 Abs1 (und 2) B‑VG in Widerspruch (zB VfSlg 4072/1961, 14.512/1996 und 16.902/2003 sowie VfSlg 17.476/2005).

 

Die Grenze zwischen einer noch ausreichenden materiellen Bestimmtheit des Gesetzes und einer formalen Delegation wird in einzelnen Fällen nicht immer leicht zu bestimmen sein. Entscheidungskriterium ist hier stets die Frage, ob die im Verordnungsweg getroffene (Durchführungs‑)Regelung auf ihre inhaltliche Gesetzmäßigkeit überprüft werden kann (zB VfSlg 1932/1950, 2294/1952, 4072/1961, 11.859/1988).

 

Dabei sind in Ermittlung des Inhalts des Gesetzes alle zur Verfügung stehenden Auslegungsmöglichkeiten auszuschöpfen: Nur wenn sich nach Heranziehung aller Interpretationsmethoden immer noch nicht beurteilen lässt, was im konkreten Fall rechtens ist, verletzt die Bestimmung die in Art18 B‑VG statuierten rechtsstaatlichen Erfordernisse (vgl VfSlg 8395/1978, 11.639/1988, 14.644/1996, 15.447/1999 und 16.137/2001).

 

In den Erläuterungen zum selbständigen Antrag der Abgeordneten August Wöginger und Sigrid Maurer, BA, nach §26 GOG‑NR, 396/A XXVII. GP , wird zu §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz ausgeführt, dass 'auch die Möglichkeit bestehen (soll), das Betreten bestimmter Orte zu untersagen. Dies können etwa Kinderspielplätze, Sportplätze, See- und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen sein. Diese Orte können in der Verordnung abstrakt ("Kinderspielplätze", "Sportplätze") oder durch eine genaue Ortsangabe (zB betreffend bestimmte konsumfreie Zonen, Ortsgebiete, Gemeinden) oder eine Kombination aus beidem (Kinderspielplätze in einem bestimmten Bundesland) umschrieben werden.'

 

§2 COVID‑[19‑]Maßnahmengesetz eröffnet somit die Möglichkeit durch Verordnung das Betreten 'bestimmter Orte' durch Verordnung zu untersagen. Als bestimmte Orte gelten nach den Erläuterungen der Antragsteller etwa Kinderspielplätze, Sportplätze, See- und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen.

 

Erst durch die am 05.04.2020 in Kraft getretenen Novelle des COVID‑19-Maßnahmengesetzes BGBI I Nr 23/2020 wurde dem §2 als letzter Satz die Ermächtigung an die jeweils verordnungserlassende Behörde angefügt, dass in der jeweiligen Verordnung auch geregelt werden kann, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen.

 

Das Landesverwaltungsgericht Tirol geht davon aus, dass erst mit dieser Ergänzung des COVID‑19-Maßnahmengesetzes eine rechtliche Grundlage für eine Regelung geschaffen wurde, mit welcher das Einhalten eines Mindestabstandes zu anderen Personen angeordnet werden kann. Die noch vor dieser Ergänzung vorgesehene Verordnungsermächtigung hat sich somit auf die Anordnung eines Betretungsverbots bestimmter Orte beschränkt.

 

Die angeführte Ergänzung des COVID‑19-Maßnahmengesetzes wurde am 04.04.2020 kundgemacht und ist am 05.04.2020 in Kraft getreten (vgl Art50 Z5 des BG BGBI I Nr 23/2020). Diese Verordnungsermächtigung hat somit weder zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, noch zum Zeitpunkt der dem Beschwerdeführer zu Spruchpunkt 2. des angefochtenen Straferkenntnisses angelasteten Übertretung bestanden. Auch eine Ermächtigung zu einer diesbezüglichen Anordnung nach einem anderen Gesetz hat zum Tatzeitpunkt nicht bestanden (vgl dazu die Ausführungen im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 10.12.2020, V535/2020, Rz 29).

 

Spruchpunkt zweitens des beim Landesverwaltungsgericht Tirol mit Beschwerde bekämpften Straferkenntnisses der Bezirkshauptmannschaft Lienz wäre somit nach einer Verordnung zu beurteilen, der zum maßgeblichen Zeitpunkt die gesetzliche Grundlage gefehlt hat."

4. Der Landeshauptmann von Tirol hat als verordnungserlassende Behörde die Akten betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der zusammenfassend festgehalten wird, dass der Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Tirol zulässig und vor dem Hintergrund der rezenten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes auch begründet sein dürfte.

5. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz hat keine Äußerung erstattet.

6. Die Parteien des Verfahrens vor dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht Tirol haben von der Erstattung einer Äußerung abgesehen.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

1.2. Dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht ist nicht entgegenzutreten, wenn es davon ausgeht, dass es im Anlassverfahren die angefochtene Bestimmung des §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol anzuwenden hat (vgl VfGH 10.12.2020, V512/2020).

1.3. Vor dem Hintergrund des konkreten Sachverhaltes, der dem Anlassverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol zugrunde liegt, und der darauf abstellenden Bedenken des Landesverwaltungsgerichtes ob der Gesetzmäßigkeit des in §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vorgesehenen Gebotes, ab dem Verlassen des eigenen Wohnsitzes, abgesehen von Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, gegenüber anderen Personen einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, ist der Antrag auch nicht zu eng gefasst.

1.4. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag daher als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag ist begründet.

2.3. Das antragstellende Verwaltungsgericht macht auf das Wesentliche zusammengefasst geltend, dass das angefochtene Abstandsgebot erst durch die am 5. April 2020 in Kraft getretene Novelle des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, Art50 BGBI I 23/2020, mit der §2 leg. cit. die Ermächtigung angefügt wurde, mit Verordnung auch zu regeln, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen die im ersten Satz genannten bestimmten Orte betreten werden dürfen, seine gesetzliche Deckung erhalten habe.

2.4. Mit diesem Vorbringen, dem auch die verordnungserlassende Behörde im Ergebnis nicht entgegengetreten ist, ist das Landesverwaltungsgericht Tirol im Recht:

2.4.1. §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol ist unter Berufung auf §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz ergangen, der – in der in dem für das Anlassverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Stammfassung BGBl I 12/2020 – den Landeshauptmann ermächtigt hat, durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten zu untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist, wenn sich die Anwendung dieser Verordnung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt.

2.4.2. §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol ordnet demgegenüber an, ab dem Verlassen des eigenen Wohnsitzes gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.

2.4.3. Mit Art50 Z2 des 3. COVID‑19-Gesetzes, BGBl I 23/2020, wurde §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz mit Wirkung vom 5. April 2020 folgender Satz angefügt: "Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen". Die Gesetzesmaterialien (AA‑27 27. GP, 2) begründeten diese Ergänzung damit, es bestehe bislang "keine Möglichkeit, Ausnahmen von Betretungsverboten an bestimmte Voraussetzungen oder Auflagen zu knüpfen. Dies erscheint im Hinblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen und die Möglichkeit adäquater Sicherungsmaßnahmen als Reaktion auf diese Entwicklungen unumgänglich".

2.4.4. Vor diesem Hintergrund hat daher §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol die gesetzliche Ermächtigung des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz in der Stammfassung BGBl I 12/2020 bis zum Inkrafttreten der Novelle BGBl I 23/2020 am 5. April 2020 überschritten.

2.5.  Da die vom Landesverwaltungsgericht Tirol geltend gemachte Gesetzwidrigkeit des §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol mit Inkrafttreten der Novelle zum COVID‑19-Maßnahmengesetz durch BGBl I 23/2020 mit Ablauf des 4. April 2020 entfiel (und die Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol jedenfalls mit dessen Verordnung LGBl 44/2020 mit Ablauf des 6. April 2020 aufgehoben wurde), ist festzustellen, dass die genannte Verordnungsbestimmung gesetzwidrig war.

V. Ergebnis

1. §4 Abs3 erster Satz der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, war bis zum Ablauf des 4. April 2020 gesetzwidrig.

2. Der Ausspruch, dass die unter Punkt 1. genannte Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist, stützt sich auf Art139 Abs6 B‑VG.

3. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Aussprüche in Punkt I. und Punkt II. erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B‑VG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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